Mit dem Namen ALLAHs, des Barmherzigen, des Allerbarmers, bismi ʾllāhi ʾr-raḥmāni ʾr-raḥīm

Kategorie: Islamische Psychologie

  • Blogreihe: Die Terra Incognita der islamischen Psychologie – Woche 4

    Kategorisierung psychischer Störungen, Psychosomatik

    Unseren vierten Blogbeitrag zur Terra Incognita der islamischen Psychologie widmen wir Abū Zaid al-Balchī (850-934). Wie bereits zu Beginn dieser Reihe erwähnt, stammt das prominenteste Beispiel der Beiträge früher muslimischer Gelehrter zur modernen Wissenschaft von al-Balchī, einem im Norden des heutigen Afghanistans geborenen Universalgelehrten des 9. Jahrhunderts. Seine Texte haben unter muslimischen Psychologen die wohl weitläufigste Rezeption gefunden.

    al-Balchīs bedeutendstes Werk mit Relevanz zur Psychologie ist Maṣāliḥ al-abdān walanfus (Die Erhaltung des Körpers und der Seele, in Übersetzung bei: Badri, 2013; Özkan, 1990). Dieser Text ist in nicht-fachlichem Arabisch geschrieben, um es auch dem Laien leicht verfügbar zu machen und in zwei Teile gegliedert: Maṣāliḥ al-abdān, in dem die physische Gesundheit und Krankheitsprävention behandelt werden und Maṣāliḥ alanfus, der Teil zur psychischen Gesundheit. Der Titel nimmt bereits die Idee der Psychosomatik vorweg (Awaad, 2017). Die enthaltenen Klassifikationen und Definitionen der Angst- (Awaad & Ali, S., 2016) und Zwangsstörungen (Awaad & Ali, S., 2015) weisen bemerkenswerte Ähnlichkeiten mit heutigen Konzeptualisierungen z.B. im DSM-5 auf und haben dadurch wichtige transkulturell-diagnostische Implikationen (Haque et al., 2016). Somit sind historische Zuschreibungen wie die, dass Robert Burton 1621 erstmalig die Zwangsstörung beschrieb oder dass die Zwangsstörung ein modernes Phänomen ist, nachdrücklich zu überdenken.

    al-Balchī klassifizierte psychische Störungen seinerzeit in vier Kategorieren: Wut (al-ghadab), Traurigkeit und Depression (al-Jaza‘), Furcht und Phobien (al-Faza‘) und Obsessionen (Khalili et al., 2002). Die Depression untergliederte er in alltägliche, normale Traurigkeit, endogene Depression mit körperlichem Ursprung und die reaktive Depression mit Ursprung außerhalb des Körpers (Haque, 2004). Parallelen mit zeitgenössischen Systemen wie dem DSM oder ICD fielen Babai (1999) auch bei Ibn Sina (siehe Blogbeitrag 9) auf und er konstatierte, dass der Einfluss des Gedankengutes früher muslimischer Gelehrte auf die gegenwärtigen diagnostischen Manuale nur schwer auszuschließen sei. Verschiedentlich wird al-Balchī der Ursprung der Verhaltenstherapie zugesprochen und er wird als erster kognitiver Psychologe gehandelt (Badri, 1998, 2013).

    al-Balchī ist neben seiner Kategorisierung psychischer Störungen auch für sein psychosomatisches Verständnis von Erkrankungen bekannt (Badri, 1998, 2013; Deuraseh & Al-Talib, 2005; Husain, 2017; Özkan, 1990). Im Einklang mit Herbert Bensons Einwand von 1997, dass sich die moderne Wissenschaft zu wenig mit den physischen Effekten von Vorstellungen und Emotionen auseinandersetzt und dass ein ausgeglichener Ansatz zum Wohlbefinden emotionale, spirituelle und intellektuelle Überlegungen anstellen sollte, argumentiert auch al-Balchī gegen die Mediziner seiner Zeit, die Gesundheit und Behandlung lediglich in Zusammenhang mit physischen Merkmalen brachten und die Wechselwirkung zwischen Körper und Geist negierten. al-Balchī nahm keine qualitative Unterscheidung zwischen physischen und psychischen Erkrankungen vor und beschrieb, dass beide Arten sich gegenseitig bedingen. Dadurch hat er einen psychophysiologischen Ansatz zur mentalen Gesundheit etabliert, der als Basis für darauffolgende Gelehrten- und Philosophengenerationen diente (Mohammad et al., 2018). Manche Autoren schreiben ihm darüber hinaus auch die Prägung der Begriffe der mentalen Hygiene und der mentalen Gesundheit zu, die nach ihm maßgeblich von einer Körper-Seele-Balance abhängt (Husain, 2017).

    Referenzen:

    Awaad, R. & Ali, S. (2015). Obsessional Disorders in al-Balkhi′s 9th century treatise: Sustenance of the Body and Soul. Journal of Affective Disorders, 180, 185-189. doi:10.1016/j.jad.2015.03.003

    Awaad, R. & Ali, S. (2016). A modern conceptualization of phobia in al-Balkhi’s 9th century treatise: Sustenance of the Body and Soul. Journal of Anxiety Disorders, 37, 89-93. doi:10.1016/j.janxdis.2015.11.003

    Awaad, R. (2017, September). Historical and Islamic Scholarly Roots of Mental Health. Paper präsentiert auf dem Islamic Models of Nurturing Psychological and Spiritual Health Konferenz des Khalil Centers, Islamic Center at New York University.

    Badri, M. (1998). Abu Zayd Al-Balkhi: A Genius Whose Psychiatric Contributions Needed More Than Ten Centuries To Be Appreciated. Malaysian Journal of Psychiatry6(2).

    Badri, M. (2013). Abū Zayd al-Balkhī’s sustenance of the soul: The cognitive behavior therapy of a ninth century physician. London: International Institute of Islamic Thought.

    Babai, A. (1999). Zur Psychologie und Psychotherapie Ibn Sinas. Berlin, Deutschland: Galda und Wilch Verlag.

    Benson, H., & Stark, M. (1997). Timeless healing: the power and biology of belief. New York: Simon & Schuster.

    Deuraseh, N. & Abu Talib M. (2005). Mental health in Islamic medical tradition. The International Medical Journal, 4, 76-79.

    Haque, A. (2004). Psychology from Islamic Perspective: Contributions of Early Muslim Scholars and Challenges to Contemporary Muslim Psychologists. Journal of Religion and Health, 43(4), 357-377. doi:10.1007/s10943-004-4302-z

    Haque, A., Khan, F., Keshavarzi, H., & Rothman, A. E. (2016). Integrating Islamic Traditions in Modern Psychology: Research Trends in Last Ten Years. (2016). Journal of Muslim Mental Health, 10(1), 75-100.

    Husain, A. (2017). Contributions of Arab Muslim Scholars to Psychology. In A. Husain (Ed.), Contemporary Trends in Islamic Psychology (pp. 13-25). Hdyerabad, Indien: Centre for Study and Research.

    Khalili, S., Murken, S., Reich, K. H., Shah, A. A., & Vahabzadeh, A. (2002). Religion and Mental Health in Cultural Perspective: Observations and Reflections After The First International Congress on Religion and Mental Health, Tehran, 16–19 April 2001. The International Journal for the Psychology of Religion, 12(4), 217–237.

    Mohammad, A., Elzamzamy, K., Fereydooni, S., Gamar, M., & Awaad, R. (2018). Mental Health in the Islamic Golden Era: The Historical Roots of Modern Psychiatry. in H. S. Moffic, J. Peteet, A. Hankir, R. Awaad, Islamophobia & Psychiatry: Recognition, Prevention, and Treatment (in press).

    Özkan, Z. (1990). Die Psychosomatik bei Abu Zaid al-Balhi (gest. 934 A.D.). In F. Sezgin (Ed.), Veröffentlichungen des Institutes für Geschichte der Arabisch-Islamischen Wissenschaften, Reihe A, Texte und Studien, Bd. 4. Frankfurt am Main, Deutschland.

  • Tagungsbericht zur ersten internationalen Konferenz der International Association of Islamic Psychology (26. – 28. Oktober 2018, Istanbul)

    Neue Wege für existierendes Wissen: Der Beitrag einer islamischen Psychologie zum Verständnis der menschlichen Natur

    Paul M. Kaplick, Emine Balci-Sentürk & Ibrahim Rüschoff

    Als um die Jahrhundertwende die International Association of Muslim Psychologists gegründet wurde, konnte man auf internationalem Boden nur wenig mit dem Begriff einer islamischen Psychologie anfangen. Psychologen sowohl im arabischen und asiatischen Raum als auch in westlichen Ländern befanden sich teilweise noch in einem Zustand der Identitätsbestimmung gegenüber der gegenwärtigen wissenschaftlichen Psychologie, die sich angeblich den spirituellen, metaphysischen und volitonalen Aspekten des Menschen verweigerte (Kaplick & Rüschoff, 2018). Während der letzten beiden Jahrzehnte haben sich die internationalen Gespräche unter muslimischen Psychologen jedoch weiterentwickelt, und so ist nun ein rapide wachsendes Interesse am Islamischen einer Psychologie zu beobachten – in welcher Form sich dies auch gestalten mag.

    Die erste Konferenz der im Juli 2018 gegründeten International Association of Islamic Psychology (IAIP) bediente nun Ende Oktober 2018 dieses Interesse einer neuen Generation muslimischer Psychologen. Die Aufgabe der IAIP besteht in der Findung neuer Wege, bestehendes Wissen einzusetzen: Die gegenwärtige Psychologie bietet eine ideale Plattform, um die Konzepte und Theorien von traditionellen muslimischen Gelehrten, vor allem derjenigen wiederzubeleben, die vom 7.-13. Jahrhundert aktiv waren. Es geht um die Gestaltung einer islamischen Psychologie, die unser Verständnis der menschlichen Psychologie im Allgemeinen vorantreibt und das Wohlergehen aller Menschen zu verbessern vermag. Das islamische an der islamischen Psychologie zeigt sich dabei in deren Verwurzelung in einem epistemologischen und ontologischen Paradigma der islamischen Theologie. Der Umfang des Interesses an einer solchen Zielsetzung manifestiert sich bereits darin, dass innerhalb von vier Monaten 75 Mitglieder aus 19 Ländern, darunter 6% aus Deutschland, der Vereinigung beigetreten sind.

    Wir werden im Folgenden eine allgemeine Zusammenfassung unserer Eindrücke und Gedankengänge vorstellen, die sich während der dreitätigen Konferenz ergeben haben und danach anhand einiger Vorträge die maßgeblichen Ergebnisse der Tagung ausführen. Der wohl spannendste Aspekt der Tagung war, dass Psychologen, Psychotherapeuten, Berater und Psychiater, die bis dato in Isolation bzw. auf nationaler Ebene gearbeitet haben, nun in der perfekten Lokalität von Istanbul, an der Zaim Universität, die das Projekt einer islamischen Psychologie aktiv vorantreibt, sich kennen lernen und sich strukturiert austauschen konnten. Es ist nicht nur ein Umschwung von muslimisch zu islamisch (d.h. von transkulturellen hin zu religiösen Perspektiven auf die Psychologie), sondern auch von isolierten zu kollektiven Bestrebungen zu verzeichnen. Die kollektive Komponente äußert sich dabei nicht nur in der Internationalität, sondern auch in einer bisher unbekannten Multidisziplinarität, bei der islamische Theologen wie Yusuf Jha aus Nottingham und Imame wie Mohamed Magid aus den USA an dieser Tagung teilgenommen und aktiv dazu beigetragen haben.

    Bei allem Enthusiasmus über die Internationalität und Multidisziplinarität möchten wir jedoch hervorheben, dass für uns vor allem eine kritische, akademische und professionelle Grundhaltung von großer Wichtigkeit ist. Kritisch ist zu bemerken, dass die ersten beiden Konferenztage eher von einer emotionalen Auseinandersetzung mit der Beziehung zwischen Islam und Psychologie dominiert wurden. Dies geschah auf Kosten der Diskussion von philosophischen Inhalten und der entscheidenden Frage, was denn nun islamisch an einer islamischen Psychologie ist, und wie man mit einem islamischen Exzeptionalismus umgehen sollte. Inhaltliche Diskurse wurden überschattet von sich wiederholenden, teilweise simplizistischen Ideen einer älteren Generation muslimischer Psychologen, die sich noch an der kolonialen Vergangenheit ihrer arabischen Gesellschaften abzuarbeiten scheint. Das betrifft vor allem die Verhältnisbestimmung des muslimischen und „westlichen“ Menschenbildes, ihrer Resonanzen und Differenzen. Diese Auseinandersetzung ist zu Beginn der Theoriebildung selbstverständlich zu klären (El Shakry, 2018) und maßgeblich für die Identität muslimischer Psychologen, jedoch geschieht dies seit nun vier Jahrzehnten mehr als ausführlich (Kaplick & Rüschoff, 2018). Aufgrund des emotionsgebundenen Interesses an der Beziehung zwischen Islam und Psychologie konnten zielführende und erkenntnisbringende Diskussionen zu vielversprechenden Themen wie „Rediscovery and Integration: Applying religious approaches used by early Muslim scholars in the context of modern psychological treatment“ oder „An Islamic paradigm shift in relation to theoretical constructs and experimental research in psychology“ nicht ausreichend ausgeschöpft werden. Vielmehr wurden lange geklärte Problemfelder immer wieder aufgegriffen und reflektiert. Ebenso wenig zielführend und erkenntnisbringend ist die Tatsache, dass sich einige Kollegen gegen die „westliche“ Wissenschaft positionierten, z.B. durch die Aussage, dass muslimische Gelehrte bereits das Wichtigste für eine ausreichende Auseinandersetzung mit der Psychologie des Menschen behandelt haben, und die „westliche“ Wissenschaft diese Inhalte nun überflüssigerweise erneut penibel beschreibe, erkläre und studiere.

    Im deutlichem Gegensatz zu diesem apologetischen Diskurs schilderte die Psychiaterin Dr. Rania Awaad aus Stanford, wie die Schriften früher muslimischer Gelehrter dazu dienen können, die bisherige Geschichtsschreibung der Psychologie und Psychiatrie wissenschaftlich fundiert zu überdenken. Im Laufe der letzten Jahre, so berichtete sie, hat ihr interdisziplinäres Team 112 Manuskripte früher muslimischer Gelehrter gesichtet. Dabei wurden aus psycho-philosophischen, -medizinischen, -spirituellen und -präventiven Texten in verschiedenen Beiträgen (Awaad & Ali, 2015, 2016) die transhistorische Relevanz z.B. des Konzeptes der Zwangsstörung beleuchtet. Dieses wurde Jahrhunderte vor der ersten Fallstudie in Robert Burtons (1621) Buch zur Anatomie der Melancholie durch den Universalgelehrten Abū Zayd Al-Balkhī aus dem 9. Jahrhundert mit dem heutigen DSM-5 fast synonym übereinstimmend beschrieben.

    Dr. Alizi Alias von der International Islamic University Malaysia (IIUM) eröffnete den dritten Konferenztag mit einem ausgesprochen erfrischenden Vortrag zur Entwicklung eines Curriculums der islamischen Psychologie in Malaysia. Diese Entwicklung erstreckt sich über vier Phasen (1990-1999: Formierung der IIUM mit einem Psychologie Studiengang; 2000-2009: Einbeziehung einer islamischen Perspektive am Ende jeder Vorlesungsreihe; 2010-2019: Seminar mit einer islamische Perspektive am Ende jeder Vorlesungsreihe; 2019-zukünftig: organisch integrierte islamische Komponente in einem biopsychosozial-spirituellen Ansatz als Grundlage des Curriculums). Mit Dr. Alias‘ Ausführungen zu den drei wesentlichen konzeptionellen Stufen der Entwicklung einer islamischen Psychologie – Islamisierung, Relevantisierung (tajdīd) und Integration – begann er eine lebendige Debatte zu den zentralen Fragen, die in den nächsten 10 Jahren ausführlich beantwortet werden müssen: Was ist islamisch an der islamischen Psychologie? Welche Methodologie legen wir in der Theoriebildung und Integration von Disziplinen zugrunde? Welche islamischen Interventionen können wir in der Psychotherapie nutzbar machen, und kann die Wirkung dieser spirituell integrierten Psychotherapie in randomisierten klinischen Studien nachgewiesen werden?

    Hooman Keshavarzi vom Khalil Center in Chicago diskutierte anschließend das Potential der Texte früher muslimischer Gelehrter für die Verbesserung des Wohlbefindens aller Menschen. Dabei stellte er ein epistemologisches und ontologisches Paradigma vor, welches in den Ashʿari und Māturīdī Schulen gegründet ist und stellte Überlegungen an, wie eine islamisch-integrierte Psychotherapie innerhalb dieses Rahmens konstruiert werden kann. Dabei ging es um die objektiven Quellen des Wissens (sensorisches/hissi und empirisches Wissen, Vernunft/manṭiq und Offenbarungswissen), um zu verdeutlichen, dass empirisch-psychologisches und islamisches Wissen jeweils die gleiche Stärke in ihrer Beweiskraft haben, sich jedoch im Wert, d.h. im sakralen Charakter des islamischen Wissens unterscheiden. Darüber hinaus wurden die drei wesentlichen islamischen Quelldisziplinen für eine islamisch-integrierte Psychotherapie vorgestellt: al-Fiqh al-Akbar/ʿaqīda, al-Fiqh al-bāṭin/tasawwuf und al-Fiqh al-ẓāhir).

    Es wurde deutlich, dass die Rolle der dualen Ausbildung in den islamischen Disziplinen und der Psychologie und Psychotherapie ein brennendes Thema auf der Konferenz darstellt. Man konnte dabei eine weitgehende Übereinstimmung darin feststellen, dass die zukünftigen Ausbildenden in einer islamisch integrierten Psychotherapie über eine solide duale Ausbildung in den (traditionellen) islamischen Disziplinen und der Psychologie und Psychotherapie benötigen. Die angehenden Therapeuten benötigten zwar keine umfassende theoretische Ausbildung, jedoch tiefgehende Kenntnisse über die praktische Umsetzung, um nicht nur spirituell-sensible, sondern auch spirituell-kompetente Therapie anbieten zu können.

    Ein Beispiel für eine erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Theologen und Therapeuten bzw. Beratern lieferte Imam Magid. Er berichtete von seiner Zusammenarbeit mit dem Psychotherapeuten Abdallah Rothman. Bei der Beratung von muslimischen Ratsuchenden in seiner Gemeinde bot Imam Magid bei Themen wie Ehe und Partnerschaft nur in Ausnahmefällen ausschließlich eine auf der islamischen Jurisprudenz basierende Lösung für ein Problem an. Vielmehr verwies er die Ratsuchenden häufig zum Therapeuten, damit eine adäquate Analyse und gegebenenfalls Intervention für die gegebenen Probleme erarbeitet werden konnte. Dies geschah aufgrund seiner Überzeugung, dass ein Problem nur selten sofort durchschaubar ist und mit einer einfachen Antwort gelöst werden kann. Die Jurisprudenz kann wenig Lösungen für psychologische Konflikte anbieten kann. Imam Magids Aussage zufolge wäre eine solche Herangehensweise im Beratungsprozess sogar eine Ungerechtigkeit, die er im Dienste des Islam als beratender Imam begehen würde. Seine Überzeugung von der Wichtigkeit der Psychologie für das menschliche Wohlbefinden geht so weit, dass er eine Eheschließung in seiner Gemeinde nur unter der Bedingung durchführt, dass das Paar zuvor einige Sitzungen Eheberatung in Anspruch genommen hat, um feststellen zu können, ob sie den Anforderungen und Verantwortungen einer Ehe gewachsen sind.

    Um die Weisheiten, die im Koran verborgen sind, begreifen und in der Therapie aufgreifen zu können, ist es für Therapeuten und Berater von großer Bedeutung, sich mit den qur’anischen Texten auseinanderzusetzen. Ein mindestens auf den Grundlagen basierendes Islam-Studium stellt für alle Therapeuten und Berater, die islamische Inhalte in ihre Therapie und Beratungstätigkeit integrieren möchten, eine wichtige Komponente dar. Da ein umfassendes Studium nicht für alle möglich sein wird, stellt sich hier die Aufgabe der engen Zusammenarbeit von Therapeuten und Beratern mit islamischen Theologen. Dazu kann das Beispiel von Imam Magie und Abdallah Rothman als Vorbild dienen.

    Die systemische Psychotherapeutin Dr. Rabia Malik aus London stellte ihre Arbeit zur Integration von qur’anischen Geschichten in familientherapeutischen Settings vor. Sie schilderte ihre Zusammenarbeit mit Theologen in der Aufarbeitung und Interpretation von Geschichten aus dem Koran. Diese werden alltagsrelevant für die Patienten aufgearbeitet und die Lehren, die aus diesen Geschichten gezogen werden können, zu einem Beispiel und Hoffnungsträger für Ratsuchende herangezogen. Die Integration von islamischen Inhalten in die Therapie bzw. Beratung ist vielfältig möglich. Dies wird bereits deutlich, wenn man den Nutzen von „Dankbarkeit und Geduld, Demut und Sanftmut“ betrachtet, der aus den islamischen Lehren hervorgeht. Daher bleibt es offen und zu überlegen, ob neben dem Studium einer „islamischen Psychologie“ auch ein weiteres Curriculum für ein Studium einer „islamintegrierten Psychotherapie“ mit einem interdisziplinären Team von Theologen und Psychiatern, Psychologen und Psychotherapeuten konzeptioniert werden kann.

    https://www.islamicpsychology.org/iaip-conference

    Referenzen

    Awaad, R., & Ali, S. (2015). Obsessional Disorders in al-Balkhi′s 9th century treatise: Sustenance of the Body and Soul. Journal of Affective Disorders, 180, 185-189. doi:10.1016/j.jad.2015.03.003

    Awaad, R., & Ali, S. (2016). A modern conceptualization of phobia in al-Balkhi’s 9th century treatise: Sustenance of the Body and Soul. Journal of Anxiety Disorders, 37, 89-93. doi:10.1016/j.janxdis.2015.11.003

    Burton, R. (1621). The Anatomy of Melancholy. Oxford.

    El Shakry, S. O. (2018). The Arabic Freud: Psychoanalysis and Islam in modern Egypt. Woodstock, United Kingdom: Princeton University Press.

    Kaplick, P. M., & Rüschoff, I. (2018). Islam und Psychologie – Gegenstand und Historie. In I. Rüschoff & P. M. Kaplick (Eds.), Islam und Psychologie – Beiträge zu aktuellen Konzepten in Theorie und Praxis (pp. 25-84). Münster: Waxmann.

  • Blogreihe: Die Terra Incognita der islamischen Psychologie – Woche 2

    Lerntheoretische Prinzipien, kognitive Strategien in der Behandlung der Depression

    Die Blütezeit des Islam (7.-13. Jahrhundert) ist bekannt für ihre wissenschaftliche Produktivität, die unter anderem durch religiöse, politische und sozioökonomische Bedingungen befördert wurde. Die Texte früherer muslimischer Gelehrter bieten dabei eine Gelegenheit, sich mit dem historischen Verständnis psychischer Gesundheit und der Klassifikation psychischer Störungen im Islam auseinanderzusetzen (Mohammad et al., 2018). Muslimische Gelehrte haben psychologische Themen im Rahmen von vier inhaltlichen Kategorien besprochen: psycho-philosophisch, -spirituell, -medizinisch und -präventiv (Awaad, 2018).

    In der psycho-philosophischen Kategorie finden sich Schriften zur Natur der Seele, verschiedenen Konzeptualisierungen des Verstands und seiner mentalen und kognitiven Domänen, Trauminterpretation und die Diskussion von Konzepten wie der Glückseligkeit. Die wichtigsten Autoren in dieser Kategorie sind Ibn Rushd (Averroes) (Blogbeitrag 13), Ibn Sīnā (Avicenna) (Blogbeitrag 9), al-Fārābī (Blogbeitrag 6), al-Kindī (in diesem Blogbeitrag) und Ibn Miskawayh (Blogbeitrag 8). All diese Gelehrte werden wir im Verlauf dieser Blogreihe näher beleuchten und wir werden entdecken, dass ihre Texte zwar stark von der griechischen Philosophie beeinflusst waren, jedoch auch genuine Beiträge und Ansichten weitläufig zu finden sind.

    Schriften in der psycho-medizinischen Kategorie haben die medizinischen Fakultäten in Europe für viele Jahrhunderte begleitet. Ibn Sīnās Kanon der Medizin und al-Razis Umfassendes Buch der Medizin sind zwei wichtige Beispiele für medizinische Enzyklopädien, die sich im Rahmen von Krankheiten des Gehirns intensiv mit psychotischen Störungen, ihrer Symptome, Ätiologien und Behandlungen auseinandergesetzt haben. In den medizinischen Werken haben Gelehrte angenommen, dass psychotische Krankheitsformen organische Ursachen haben (vgl. Körpersäfte oder Veränderungen der Temperamente), daher wurden somatische Behandlungen verschrieben (Kräuter, Sirupe, physische Interventionen).

    Die psycho-spirituelle Kategorie behandelte vor allem die Rolle des Herzens, der Seele und des Geistes in Moral, Spiritualität und Ethik. Gelehrte wie al-Ghazālī (Blogbeitrag 10), al-Muhasibi, al-Balchī (Blogbeitrag 4) und Ibn Hazm sind gesondert hervorzuheben – diese haben sich zu verschiedensten spirituellen, moralischen und emotionalen Krankheiten geäußert. Heute als neurotisch bezeichnete Krankheiten wie Depression, Angst, Phobien oder Zwänge wurden als Teil dieser ethischen und spirituellen Kategorie eingeordnet und die Betonung galt den kognitiven und verhaltensorientierten Behandlungsformen (Mohammad et al., 2018).

    Einer der bedeutendsten muslimischen Gelehrten aus der Blütezeit des Islams ist Abū Yaʿqūb ibn Ishāq al-Kindī (Alchindus). Er lebte von 801 bis in die frühen 870er Jahre im Gebiet des heutigen Iraks (geb. in Basra und lehrte in Bagdad). Seine für die Psychologie relevanten Werke umfassen Über Schlaf und Träume, Die erste Philosophie, Über den Intellekt, Diskurs über die Seele, Dass es immaterielle Substanzen gibt und Beseitigung der Trauer (Haque, 2004; Husain, 2017; Vahab, 1996). Seine Schriften basierten maßgeblich auf aristotelischem, platonischem und neuplatonischem Gedankengut (Nasr & Leaman, 2001), was nicht verwunderlich ist, da al-Kindī auch für seine rege Übersetzungstätigkeit bekannt ist (Mohammad et al., 2018). Bezüglich psychologischer Ideen und Theorien widmete sich al-Kindī insbesondere der Ontologie der Seele und des Intellekts und vertrat eine dualistische Position, dass die Seele eine immaterielle, spirituelle Substanz sei. Darüber hinaus betonte er den freien Willen des Menschen (Haque, 2004; Majeed & Jabir, 2017). al-Kindī wandte sich auch lerntheoretischen Prinzipien zu und regte an, dass Verhalten graduell gelernt werden sollte. Hinsichtlich der psychologischen Behandlungspraxis äußerte er sich zur Verwendung kognitiver Strategien zur Behandlung der Depression und setzte sich mit Träumen auseinander (Mohammad et al., 2018). Quasem (1981) beschreibt außerdem, dass al-Kindī als erster Gelehrter auf psychologische Konzepte in der Formulierung seiner philosophischen Ethik zurückgriff.

    Referenzen:

    Awaad, R. (2018, October). Historical Perspectives and Modern Clinical Implications for the development of Islamic Psychology. Paper presented at the conference of the International Association of Islamic Psychology, Istanbul, Turkey.

    Mohammad, A., Elzamzamy, K., Fereydooni, S., Gamar, M., & Awaad, R. (2018). Mental Health in the Islamic Golden Era: The Historical Roots of Modern Psychiatry, in H. S. Moffic,, J. Peteet, A. Hankir, R. Awaad, Islamophobia & Psychiatry: Recognition, Prevention, and Treatment (in press).

    Haque, A. (2004). Psychology from Islamic Perspective: Contributions of Early Muslim Scholars and Challenges to Contemporary Muslim Psychologists. Journal of Religion and Health, 43(4), 357-377. doi:10.1007/s10943-004-4302-z

    Husain, A. (2017). Contributions of Arab Muslim Scholars to Psychology. In A. Husain (Ed.), Contemporary Trends in Islamic Psychology (pp. 13-25). Hyderabad, Indien: Centre for Study and Research.

    Majeed, A. & Jabir, K. P. (2017). The Contribution of Muslims and Islamic Concepts: Rethinking and Establishing the Actual Origin of Concepts and Thought in Psychology. The International Journal of Indian Psychology4(2), 68-77.

    Nasr, S. H. & Leaman, O. (2001). History of Islamic philosophy (3rd ed.). London, New York: Routledge.

    Quasem, M. A. (1981). Psychology in Islamic ethics. The Muslim World71(3-4), 213-227.

    Vahab, A. A. (1996). Section I: An Introduction to Islamic Psychology. In An Introduction to Islamic Psychology. New Delhi: Institute of Objective Studies.

  • Blogreihe: Die Terra Incognita der islamischen Psychologie – Woche 1

    Die Beiträge muslimischer Gelehrter zur Entwicklung der modernen Wissenschaften gingen weit über die bloße Übersetzung griechischer Texte hinaus (Abou-Hateb, 1998). Die sogenannte Phase der Blütezeit des Islams vom 7.-13. Jahrhundert, in der sich das islamische Reich teilweise vom Atlantik bis zum indischen Subkontinent erstreckte, steht bei der Berücksichtigung islamischer Gelehrsamkeit für die modernen Wissenschaften im Zentrum der Aufmerksamkeit (Koenig & Sohaib, 2014). Muslimische Universalgelehrte mit Expertise von der Medizin bis hin zur Philosophie reflektierten griechisches Gedankengut und entwickelten auf Grundlage ihrer eigenen Fragestellungen, die oft eng mit islamischem Gedankengut verbunden waren, ihre eigene intellektuelle Tradition.

    Im Zuge der Rezeption der Texte muslimischer Gelehrten in der wissenschaftlichen Literatur der Gegenwart, z.B. in der Philosophie (Nasr & Leaman, 2001; Polat, Hofmann, Murtaza, 2016; Rudolph, 2013), Philologie (Dieterici, 1868, 1872), Mathematik und Astronomie (Suter, 1900) oder auch Medizin (Bay, 1967; Ali, A., 2009; Hofmann, 1995; Hussain, 2015; Khan, 1986; Syed, 2002), beginnt nun auch die Psychologie, Psychotherapie und Psychiatrie während der letzten 20 Jahre, aus diesem historischen Erbe zu schöpfen (z.B., Awaad & Ali, S., 2015, 2016; Baibai, 1999; Badri, 2013; Haque, 2004; Ibrahim, 2012). In diesem Zusammenhang ergibt sich die Fragestellung, mit der wir uns in dieser Blogreihe näher auseinandersetzen möchten: Wie viel wissen wir heute über die behandelten Thematiken muslimischer Gelehrter des 7.-13. Jahrhunderts in der psychologischen, psychotherapeutischen und psychiatrischen Literatur?

    Ein Motiv für die Beschäftigung mit der psychologischen Tradition des Islams ist, dass – wie wir zeigen werden – einige grundlegende Konzepte, die für uns heute als erst kürzlich etabliert gelten, von der frühen islamischen Gelehrsamkeit besprochen wurden (Ahmed, 1992, 2004, 2012). Dies birgt dabei kein apologetisches Motiv, sondern deutet auf den transhistorischen Charakter bestimmter Ideen hin. Das prominenteste Beispiel ist die detaillierte Beschreibung der Klassifikation, Diagnostik und Behandlung der Zwangsstörung durch Abu Zayd Al-Balkhi im 9. Jahrhundert, die erst kürzlich in einer international renommierten Fachzeitschrift durch Forscher der Stanford Universität beschrieben wurde und die psychiatrische Literatur veranlasst, ihre eigene Geschichtsschreibung zur Zwangsstörung kritisch zu überarbeiten (Awaad & Ali, S., 2015; siehe auch: Özkan, 1990). Die psychologische und psychiatrische Tradition des Islams manifestierte sich jedoch nicht nur in der Literatur sondern auch ganz praktisch in der Gründung der weltweit ersten psychiatrischen Abteilung im irakischen Bagdad im 9. Jahrhundert. In dieser Zeit herrschte ein Bewusstsein, dass bei psychiatrischen Erkrankungen nicht nur spirituelle sondern auch organische Faktoren eine Rolle spielen und eine Hospitalisierung und Behandlung durch ein interdisziplinäres Team erfolgen sollte. Die Abteilung in Bagdad zusammen mit zahlreichen weiteren in der islamischen Welt wurden später in eigenständige psychiatrische Kliniken erweitert, deren Finanzierung vollständig durch die abbasidisch Regierung der Zeit übernommen wurde (Al-Issa, 2000; Awaad, 2017).

    Wir fassen in dieser Blogreihe zunächst alle durch eine systematische Literaturrecherche gesichteten psychologischen, psychotherapeutischen und psychiatrischen Arbeiten zusammen, die sich mit den Werken muslimischer Gelehrter vom 7.-13. Jahrhundert beschäftigen. Die wichtigsten Gelehrten werden kurz historisch eingeordnet und ihre bedeutendsten Texte mit Relevanz zur Psychologie, Psychotherapie und Psychiatrie werden vorgestellt. Wir werden zeigen, dass sich in der Literatur insbesondere die Struktur und Funktionen der Psyche, die Psychosomatik und Aspekte, die in den Kontext der heutigen kognitiven Verhaltenstherapie einzuordnen sind, als zentrale Thematiken zusammenfassen lassen, mit denen sich die islamische Gelehrsamkeit während des 7.-13. Jahrhundert beschäftigt hat. Es lässt sich dabei eine örtliche Verdichtung von Gelehrten in den Gebieten des heutigen Iran, Afghanistan und Usbekistan und später auch im spanischen Raum feststellen. Gesondert hervorzuheben sind Abu Zayd Al-Balkhi, der sich ausführlich zur Psychosomatik und Psychotherapie äußerte und Abu Hamid Al-Ghazali, der sich einer umfangreichen Persönlichkeitstheorie widmete. Trotz dieser ersten Aufarbeitung warten nach gegenwärtigen Schätzungen aber noch über 90% der Werke islamischer Gelehrsamkeit des 7.-13. Jahrhunderts als auch spätere und zeitgenössische muslimische Gelehrte auf kritische psychologische, psychotherapeutische und psychiatrische Rezeption. Dabei wird zukünftig eine ausschlaggebende Fragestellung sein, ob und inwieweit uns die Texte muslimischer Gelehrter dabei helfen können, Lösungen für die Fragestellungen der gegenwärtigen Psychologie, Psychotherapie und Psychiatrie zu finden bzw. diese unter neuen Gesichtspunkten zu betrachten.

    Referenzen

    Abou-Hatab, F. A. (1997). Psychology from Egyptian, Arab, and Islamic Perspectives: Unfulfilled Hopes and Hopeful Fulfillment. European Psychologist, 2(4), 356-365.

    Ahmed, R. A. (1992). Psychology in the Arab countries. In U. P. Gielen, L. L. Adler, & N. A. Milgram (Eds.), Psychology in international perspective: 50 years of the International Council of Psychologists (ICP) (pp. 127–150). Amsterdam: Swets & Zeitlinger.

    Ahmed, R. A. (2004). Psychology in Egypt. In M. Stevens, & D. Wedding (Eds.), Psychology in International Perspectives (pp. 387–403). New York: Francis & Taylor.

    Ahmed, R. A. (2012). Egypt. In D. B. Baker (Ed.), The Oxford Handbook of the History of Psychology: Global Perspectives (pp. 1-39). New York: Oxford University Press.

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