Mit dem Namen ALLAHs, des Barmherzigen, des Allerbarmers, bismi ʾllāhi ʾr-raḥmāni ʾr-raḥīm

Kategorie: Kognitive Verhaltenstherapie (KVT)

  • Blogreihe: Die Terra Incognita der islamischen Psychologie – Woche 4

    Kategorisierung psychischer Störungen, Psychosomatik

    Unseren vierten Blogbeitrag zur Terra Incognita der islamischen Psychologie widmen wir Abū Zaid al-Balchī (850-934). Wie bereits zu Beginn dieser Reihe erwähnt, stammt das prominenteste Beispiel der Beiträge früher muslimischer Gelehrter zur modernen Wissenschaft von al-Balchī, einem im Norden des heutigen Afghanistans geborenen Universalgelehrten des 9. Jahrhunderts. Seine Texte haben unter muslimischen Psychologen die wohl weitläufigste Rezeption gefunden.

    al-Balchīs bedeutendstes Werk mit Relevanz zur Psychologie ist Maṣāliḥ al-abdān walanfus (Die Erhaltung des Körpers und der Seele, in Übersetzung bei: Badri, 2013; Özkan, 1990). Dieser Text ist in nicht-fachlichem Arabisch geschrieben, um es auch dem Laien leicht verfügbar zu machen und in zwei Teile gegliedert: Maṣāliḥ al-abdān, in dem die physische Gesundheit und Krankheitsprävention behandelt werden und Maṣāliḥ alanfus, der Teil zur psychischen Gesundheit. Der Titel nimmt bereits die Idee der Psychosomatik vorweg (Awaad, 2017). Die enthaltenen Klassifikationen und Definitionen der Angst- (Awaad & Ali, S., 2016) und Zwangsstörungen (Awaad & Ali, S., 2015) weisen bemerkenswerte Ähnlichkeiten mit heutigen Konzeptualisierungen z.B. im DSM-5 auf und haben dadurch wichtige transkulturell-diagnostische Implikationen (Haque et al., 2016). Somit sind historische Zuschreibungen wie die, dass Robert Burton 1621 erstmalig die Zwangsstörung beschrieb oder dass die Zwangsstörung ein modernes Phänomen ist, nachdrücklich zu überdenken.

    al-Balchī klassifizierte psychische Störungen seinerzeit in vier Kategorieren: Wut (al-ghadab), Traurigkeit und Depression (al-Jaza‘), Furcht und Phobien (al-Faza‘) und Obsessionen (Khalili et al., 2002). Die Depression untergliederte er in alltägliche, normale Traurigkeit, endogene Depression mit körperlichem Ursprung und die reaktive Depression mit Ursprung außerhalb des Körpers (Haque, 2004). Parallelen mit zeitgenössischen Systemen wie dem DSM oder ICD fielen Babai (1999) auch bei Ibn Sina (siehe Blogbeitrag 9) auf und er konstatierte, dass der Einfluss des Gedankengutes früher muslimischer Gelehrte auf die gegenwärtigen diagnostischen Manuale nur schwer auszuschließen sei. Verschiedentlich wird al-Balchī der Ursprung der Verhaltenstherapie zugesprochen und er wird als erster kognitiver Psychologe gehandelt (Badri, 1998, 2013).

    al-Balchī ist neben seiner Kategorisierung psychischer Störungen auch für sein psychosomatisches Verständnis von Erkrankungen bekannt (Badri, 1998, 2013; Deuraseh & Al-Talib, 2005; Husain, 2017; Özkan, 1990). Im Einklang mit Herbert Bensons Einwand von 1997, dass sich die moderne Wissenschaft zu wenig mit den physischen Effekten von Vorstellungen und Emotionen auseinandersetzt und dass ein ausgeglichener Ansatz zum Wohlbefinden emotionale, spirituelle und intellektuelle Überlegungen anstellen sollte, argumentiert auch al-Balchī gegen die Mediziner seiner Zeit, die Gesundheit und Behandlung lediglich in Zusammenhang mit physischen Merkmalen brachten und die Wechselwirkung zwischen Körper und Geist negierten. al-Balchī nahm keine qualitative Unterscheidung zwischen physischen und psychischen Erkrankungen vor und beschrieb, dass beide Arten sich gegenseitig bedingen. Dadurch hat er einen psychophysiologischen Ansatz zur mentalen Gesundheit etabliert, der als Basis für darauffolgende Gelehrten- und Philosophengenerationen diente (Mohammad et al., 2018). Manche Autoren schreiben ihm darüber hinaus auch die Prägung der Begriffe der mentalen Hygiene und der mentalen Gesundheit zu, die nach ihm maßgeblich von einer Körper-Seele-Balance abhängt (Husain, 2017).

    Referenzen:

    Awaad, R. & Ali, S. (2015). Obsessional Disorders in al-Balkhi′s 9th century treatise: Sustenance of the Body and Soul. Journal of Affective Disorders, 180, 185-189. doi:10.1016/j.jad.2015.03.003

    Awaad, R. & Ali, S. (2016). A modern conceptualization of phobia in al-Balkhi’s 9th century treatise: Sustenance of the Body and Soul. Journal of Anxiety Disorders, 37, 89-93. doi:10.1016/j.janxdis.2015.11.003

    Awaad, R. (2017, September). Historical and Islamic Scholarly Roots of Mental Health. Paper präsentiert auf dem Islamic Models of Nurturing Psychological and Spiritual Health Konferenz des Khalil Centers, Islamic Center at New York University.

    Badri, M. (1998). Abu Zayd Al-Balkhi: A Genius Whose Psychiatric Contributions Needed More Than Ten Centuries To Be Appreciated. Malaysian Journal of Psychiatry6(2).

    Badri, M. (2013). Abū Zayd al-Balkhī’s sustenance of the soul: The cognitive behavior therapy of a ninth century physician. London: International Institute of Islamic Thought.

    Babai, A. (1999). Zur Psychologie und Psychotherapie Ibn Sinas. Berlin, Deutschland: Galda und Wilch Verlag.

    Benson, H., & Stark, M. (1997). Timeless healing: the power and biology of belief. New York: Simon & Schuster.

    Deuraseh, N. & Abu Talib M. (2005). Mental health in Islamic medical tradition. The International Medical Journal, 4, 76-79.

    Haque, A. (2004). Psychology from Islamic Perspective: Contributions of Early Muslim Scholars and Challenges to Contemporary Muslim Psychologists. Journal of Religion and Health, 43(4), 357-377. doi:10.1007/s10943-004-4302-z

    Haque, A., Khan, F., Keshavarzi, H., & Rothman, A. E. (2016). Integrating Islamic Traditions in Modern Psychology: Research Trends in Last Ten Years. (2016). Journal of Muslim Mental Health, 10(1), 75-100.

    Husain, A. (2017). Contributions of Arab Muslim Scholars to Psychology. In A. Husain (Ed.), Contemporary Trends in Islamic Psychology (pp. 13-25). Hdyerabad, Indien: Centre for Study and Research.

    Khalili, S., Murken, S., Reich, K. H., Shah, A. A., & Vahabzadeh, A. (2002). Religion and Mental Health in Cultural Perspective: Observations and Reflections After The First International Congress on Religion and Mental Health, Tehran, 16–19 April 2001. The International Journal for the Psychology of Religion, 12(4), 217–237.

    Mohammad, A., Elzamzamy, K., Fereydooni, S., Gamar, M., & Awaad, R. (2018). Mental Health in the Islamic Golden Era: The Historical Roots of Modern Psychiatry. in H. S. Moffic, J. Peteet, A. Hankir, R. Awaad, Islamophobia & Psychiatry: Recognition, Prevention, and Treatment (in press).

    Özkan, Z. (1990). Die Psychosomatik bei Abu Zaid al-Balhi (gest. 934 A.D.). In F. Sezgin (Ed.), Veröffentlichungen des Institutes für Geschichte der Arabisch-Islamischen Wissenschaften, Reihe A, Texte und Studien, Bd. 4. Frankfurt am Main, Deutschland.

  • Blogreihe: Die Terra Incognita der islamischen Psychologie – Woche 2

    Lerntheoretische Prinzipien, kognitive Strategien in der Behandlung der Depression

    Die Blütezeit des Islam (7.-13. Jahrhundert) ist bekannt für ihre wissenschaftliche Produktivität, die unter anderem durch religiöse, politische und sozioökonomische Bedingungen befördert wurde. Die Texte früherer muslimischer Gelehrter bieten dabei eine Gelegenheit, sich mit dem historischen Verständnis psychischer Gesundheit und der Klassifikation psychischer Störungen im Islam auseinanderzusetzen (Mohammad et al., 2018). Muslimische Gelehrte haben psychologische Themen im Rahmen von vier inhaltlichen Kategorien besprochen: psycho-philosophisch, -spirituell, -medizinisch und -präventiv (Awaad, 2018).

    In der psycho-philosophischen Kategorie finden sich Schriften zur Natur der Seele, verschiedenen Konzeptualisierungen des Verstands und seiner mentalen und kognitiven Domänen, Trauminterpretation und die Diskussion von Konzepten wie der Glückseligkeit. Die wichtigsten Autoren in dieser Kategorie sind Ibn Rushd (Averroes) (Blogbeitrag 13), Ibn Sīnā (Avicenna) (Blogbeitrag 9), al-Fārābī (Blogbeitrag 6), al-Kindī (in diesem Blogbeitrag) und Ibn Miskawayh (Blogbeitrag 8). All diese Gelehrte werden wir im Verlauf dieser Blogreihe näher beleuchten und wir werden entdecken, dass ihre Texte zwar stark von der griechischen Philosophie beeinflusst waren, jedoch auch genuine Beiträge und Ansichten weitläufig zu finden sind.

    Schriften in der psycho-medizinischen Kategorie haben die medizinischen Fakultäten in Europe für viele Jahrhunderte begleitet. Ibn Sīnās Kanon der Medizin und al-Razis Umfassendes Buch der Medizin sind zwei wichtige Beispiele für medizinische Enzyklopädien, die sich im Rahmen von Krankheiten des Gehirns intensiv mit psychotischen Störungen, ihrer Symptome, Ätiologien und Behandlungen auseinandergesetzt haben. In den medizinischen Werken haben Gelehrte angenommen, dass psychotische Krankheitsformen organische Ursachen haben (vgl. Körpersäfte oder Veränderungen der Temperamente), daher wurden somatische Behandlungen verschrieben (Kräuter, Sirupe, physische Interventionen).

    Die psycho-spirituelle Kategorie behandelte vor allem die Rolle des Herzens, der Seele und des Geistes in Moral, Spiritualität und Ethik. Gelehrte wie al-Ghazālī (Blogbeitrag 10), al-Muhasibi, al-Balchī (Blogbeitrag 4) und Ibn Hazm sind gesondert hervorzuheben – diese haben sich zu verschiedensten spirituellen, moralischen und emotionalen Krankheiten geäußert. Heute als neurotisch bezeichnete Krankheiten wie Depression, Angst, Phobien oder Zwänge wurden als Teil dieser ethischen und spirituellen Kategorie eingeordnet und die Betonung galt den kognitiven und verhaltensorientierten Behandlungsformen (Mohammad et al., 2018).

    Einer der bedeutendsten muslimischen Gelehrten aus der Blütezeit des Islams ist Abū Yaʿqūb ibn Ishāq al-Kindī (Alchindus). Er lebte von 801 bis in die frühen 870er Jahre im Gebiet des heutigen Iraks (geb. in Basra und lehrte in Bagdad). Seine für die Psychologie relevanten Werke umfassen Über Schlaf und Träume, Die erste Philosophie, Über den Intellekt, Diskurs über die Seele, Dass es immaterielle Substanzen gibt und Beseitigung der Trauer (Haque, 2004; Husain, 2017; Vahab, 1996). Seine Schriften basierten maßgeblich auf aristotelischem, platonischem und neuplatonischem Gedankengut (Nasr & Leaman, 2001), was nicht verwunderlich ist, da al-Kindī auch für seine rege Übersetzungstätigkeit bekannt ist (Mohammad et al., 2018). Bezüglich psychologischer Ideen und Theorien widmete sich al-Kindī insbesondere der Ontologie der Seele und des Intellekts und vertrat eine dualistische Position, dass die Seele eine immaterielle, spirituelle Substanz sei. Darüber hinaus betonte er den freien Willen des Menschen (Haque, 2004; Majeed & Jabir, 2017). al-Kindī wandte sich auch lerntheoretischen Prinzipien zu und regte an, dass Verhalten graduell gelernt werden sollte. Hinsichtlich der psychologischen Behandlungspraxis äußerte er sich zur Verwendung kognitiver Strategien zur Behandlung der Depression und setzte sich mit Träumen auseinander (Mohammad et al., 2018). Quasem (1981) beschreibt außerdem, dass al-Kindī als erster Gelehrter auf psychologische Konzepte in der Formulierung seiner philosophischen Ethik zurückgriff.

    Referenzen:

    Awaad, R. (2018, October). Historical Perspectives and Modern Clinical Implications for the development of Islamic Psychology. Paper presented at the conference of the International Association of Islamic Psychology, Istanbul, Turkey.

    Mohammad, A., Elzamzamy, K., Fereydooni, S., Gamar, M., & Awaad, R. (2018). Mental Health in the Islamic Golden Era: The Historical Roots of Modern Psychiatry, in H. S. Moffic,, J. Peteet, A. Hankir, R. Awaad, Islamophobia & Psychiatry: Recognition, Prevention, and Treatment (in press).

    Haque, A. (2004). Psychology from Islamic Perspective: Contributions of Early Muslim Scholars and Challenges to Contemporary Muslim Psychologists. Journal of Religion and Health, 43(4), 357-377. doi:10.1007/s10943-004-4302-z

    Husain, A. (2017). Contributions of Arab Muslim Scholars to Psychology. In A. Husain (Ed.), Contemporary Trends in Islamic Psychology (pp. 13-25). Hyderabad, Indien: Centre for Study and Research.

    Majeed, A. & Jabir, K. P. (2017). The Contribution of Muslims and Islamic Concepts: Rethinking and Establishing the Actual Origin of Concepts and Thought in Psychology. The International Journal of Indian Psychology4(2), 68-77.

    Nasr, S. H. & Leaman, O. (2001). History of Islamic philosophy (3rd ed.). London, New York: Routledge.

    Quasem, M. A. (1981). Psychology in Islamic ethics. The Muslim World71(3-4), 213-227.

    Vahab, A. A. (1996). Section I: An Introduction to Islamic Psychology. In An Introduction to Islamic Psychology. New Delhi: Institute of Objective Studies.