Die Beiträge muslimischer Gelehrter zur Entwicklung der modernen Wissenschaften gingen weit über die bloße Übersetzung griechischer Texte hinaus (Abou-Hateb, 1998). Die sogenannte Phase der Blütezeit des Islams vom 7.-13. Jahrhundert, in der sich das islamische Reich teilweise vom Atlantik bis zum indischen Subkontinent erstreckte, steht bei der Berücksichtigung islamischer Gelehrsamkeit für die modernen Wissenschaften im Zentrum der Aufmerksamkeit (Koenig & Sohaib, 2014). Muslimische Universalgelehrte mit Expertise von der Medizin bis hin zur Philosophie reflektierten griechisches Gedankengut und entwickelten auf Grundlage ihrer eigenen Fragestellungen, die oft eng mit islamischem Gedankengut verbunden waren, ihre eigene intellektuelle Tradition.

Im Zuge der Rezeption der Texte muslimischer Gelehrten in der wissenschaftlichen Literatur der Gegenwart, z.B. in der Philosophie (Nasr & Leaman, 2001; Polat, Hofmann, Murtaza, 2016; Rudolph, 2013), Philologie (Dieterici, 1868, 1872), Mathematik und Astronomie (Suter, 1900) oder auch Medizin (Bay, 1967; Ali, A., 2009; Hofmann, 1995; Hussain, 2015; Khan, 1986; Syed, 2002), beginnt nun auch die Psychologie, Psychotherapie und Psychiatrie während der letzten 20 Jahre, aus diesem historischen Erbe zu schöpfen (z.B., Awaad & Ali, S., 2015, 2016; Baibai, 1999; Badri, 2013; Haque, 2004; Ibrahim, 2012). In diesem Zusammenhang ergibt sich die Fragestellung, mit der wir uns in dieser Blogreihe näher auseinandersetzen möchten: Wie viel wissen wir heute über die behandelten Thematiken muslimischer Gelehrter des 7.-13. Jahrhunderts in der psychologischen, psychotherapeutischen und psychiatrischen Literatur?

Ein Motiv für die Beschäftigung mit der psychologischen Tradition des Islams ist, dass – wie wir zeigen werden – einige grundlegende Konzepte, die für uns heute als erst kürzlich etabliert gelten, von der frühen islamischen Gelehrsamkeit besprochen wurden (Ahmed, 1992, 2004, 2012). Dies birgt dabei kein apologetisches Motiv, sondern deutet auf den transhistorischen Charakter bestimmter Ideen hin. Das prominenteste Beispiel ist die detaillierte Beschreibung der Klassifikation, Diagnostik und Behandlung der Zwangsstörung durch Abu Zayd Al-Balkhi im 9. Jahrhundert, die erst kürzlich in einer international renommierten Fachzeitschrift durch Forscher der Stanford Universität beschrieben wurde und die psychiatrische Literatur veranlasst, ihre eigene Geschichtsschreibung zur Zwangsstörung kritisch zu überarbeiten (Awaad & Ali, S., 2015; siehe auch: Özkan, 1990). Die psychologische und psychiatrische Tradition des Islams manifestierte sich jedoch nicht nur in der Literatur sondern auch ganz praktisch in der Gründung der weltweit ersten psychiatrischen Abteilung im irakischen Bagdad im 9. Jahrhundert. In dieser Zeit herrschte ein Bewusstsein, dass bei psychiatrischen Erkrankungen nicht nur spirituelle sondern auch organische Faktoren eine Rolle spielen und eine Hospitalisierung und Behandlung durch ein interdisziplinäres Team erfolgen sollte. Die Abteilung in Bagdad zusammen mit zahlreichen weiteren in der islamischen Welt wurden später in eigenständige psychiatrische Kliniken erweitert, deren Finanzierung vollständig durch die abbasidisch Regierung der Zeit übernommen wurde (Al-Issa, 2000; Awaad, 2017).

Wir fassen in dieser Blogreihe zunächst alle durch eine systematische Literaturrecherche gesichteten psychologischen, psychotherapeutischen und psychiatrischen Arbeiten zusammen, die sich mit den Werken muslimischer Gelehrter vom 7.-13. Jahrhundert beschäftigen. Die wichtigsten Gelehrten werden kurz historisch eingeordnet und ihre bedeutendsten Texte mit Relevanz zur Psychologie, Psychotherapie und Psychiatrie werden vorgestellt. Wir werden zeigen, dass sich in der Literatur insbesondere die Struktur und Funktionen der Psyche, die Psychosomatik und Aspekte, die in den Kontext der heutigen kognitiven Verhaltenstherapie einzuordnen sind, als zentrale Thematiken zusammenfassen lassen, mit denen sich die islamische Gelehrsamkeit während des 7.-13. Jahrhundert beschäftigt hat. Es lässt sich dabei eine örtliche Verdichtung von Gelehrten in den Gebieten des heutigen Iran, Afghanistan und Usbekistan und später auch im spanischen Raum feststellen. Gesondert hervorzuheben sind Abu Zayd Al-Balkhi, der sich ausführlich zur Psychosomatik und Psychotherapie äußerte und Abu Hamid Al-Ghazali, der sich einer umfangreichen Persönlichkeitstheorie widmete. Trotz dieser ersten Aufarbeitung warten nach gegenwärtigen Schätzungen aber noch über 90% der Werke islamischer Gelehrsamkeit des 7.-13. Jahrhunderts als auch spätere und zeitgenössische muslimische Gelehrte auf kritische psychologische, psychotherapeutische und psychiatrische Rezeption. Dabei wird zukünftig eine ausschlaggebende Fragestellung sein, ob und inwieweit uns die Texte muslimischer Gelehrter dabei helfen können, Lösungen für die Fragestellungen der gegenwärtigen Psychologie, Psychotherapie und Psychiatrie zu finden bzw. diese unter neuen Gesichtspunkten zu betrachten.

Referenzen

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