Mit dem Namen ALLAHs, des Barmherzigen, des Allerbarmers, bismi ʾllāhi ʾr-raḥmāni ʾr-raḥīm

Author: Dr. Ibrahim Rüschoff

  • Lese-Ecke: Nicht alle Ehen sind gleich: Islamische Ehe, Ehe auf Zeit, heimliche Ehe und polygame Ehe

    Nicht alle Ehen sind gleich:

    Islamische Ehe, Ehe auf Zeit, heimliche Ehe und polygame Ehe

    Muhammad A. Fadel

    übersetzt von Dr. Ibrahim Rüschoff

    Einführung zum Artikel „Nicht alle Ehen sind gleich!“ von Mohammad H. Fadel:

    Der Artikel befasst sich mit Bestimmungen zur Ehe aus der Perspektive des islamischen Rechts, d.h. den Regelungen zur Eheschließung der vier sunnitischen Rechtsschulen, die bis heute für die Mehrheit der Muslime orientierungsgebend sind. Diese Regelungen setzt der Autor in Beziehung zum Ethos der Ehe, wie es aus dem Koran hervorgeht. Sein zentrales Anliegen ist die Unterscheidung von Ehen und Scheinehen, die – möglicherweise – formal korrekt geschlossen wurden, aber dennoch den Zielsetzungen der Ehe widersprechen. Darüber hinaus problematisiert er die polygame Ehe, die islamrechtlich zwar zulässig ist, im gegenwärtigen Kontext in den meisten Fällen aber ebenfalls dem Ethos der Ehe zuwiderläuft. Die hier besprochenen Arten von Scheinehen in Form von heimlichen und/oder Zeitehen sowie polygame Ehen sind Phänomene, die auch in Deutschland zu beobachten sind und dieselben Probleme hervorrufen, die Fadel beschreibt. Es gibt in Deutschland Akteure im islamischen Feld, die Zeitehen eingehen oder für andere schließen, ohne dies in der Öffentlichkeit zu thematisieren; andere propagieren auch öffentlich die Zeitehe und arbeiten somit auf eine Normalisierung dieser Form der Scheinehe hin. Was Fadel über die amerikanischen Verhältnisse sagt, kann daher auf den deutschen Kontext übertragen werden. Für Personen, die mit solchen Phänomenen konfrontiert sind, ist es wichtig zu verstehen, dass diese Scheinehen nicht nur aus der Perspektive eines zeitgenössischen Verständnisses von Ehe und Partnerschaft und deren Zielsetzungen, sondern auch aus der des islamischen Rechts nicht zu tolerieren sind.

    Nicht berücksichtigt wird im Artikel die staatliche bzw. zivilrechtliche Ebene. Eine islamische Heirat gilt für Muslime zwar unabhängig von der Heirat vor dem Standesamt. Dennoch machen die meisten Moscheen inzwischen eine standesamtliche Eheschließung zur Voraussetzung, um eine Ehe auch islamisch zu schließen – so auch in Deutschland. Dies geschieht genau aus dem Grund, um den Missbrauch einer rein islamischen Eheschließung zu vermeiden, da diese keine zivilrechtliche Wirkung entfaltet.

    Artikel „Nicht alle Ehen sind gleich!“ von Mohammad H. Fadel:

    Jeder, der in eine typische muslimische Familie hineingeboren wird, kann sich der zentralen Stellung nicht entziehen, die die Ehe im Konzept eines guten muslimischen Lebens einnimmt. In der muslimischen Volkskultur wird der Ehe eine solche religiöse Bedeutung beigemessen, dass sie oft als „die Hälfte der Religion“ beschrieben wird, eine Ansicht, die von einem bekannten Hadith des Propheten (s) abgeleitet ist, in dem er gesagt haben soll: „Wer heiratet, hat die Hälfte seines Glaubens vollendet, also soll er in der verbleibenden Hälfte Gott fürchten.“ [1] Auch kann niemand den Koran studieren ohne zu erkennen, welche Bedeutung er der Ehe beimisst. Ein wesentlicher Teil der koranischen Gesetzgebung ist der Reform der vorislamischen arabischen Familie gewidmet. Auch wird die eheliche Liebe als ein Zeichen des Göttlichen erwähnt, [2] außerdem hat die Ehe mit dem Versprechen Gottes, dass die Gläubigen mit ihren Ehepartnern und Kindern im nächsten Leben wiedervereint sein werden, ein transzendentes Element. [3]

    Aber die Ehe ist auch eine weltliche Institution und ein Ort säkularer Interessen. Sie bietet die Legitimation für Geschlechtsverkehr, Fortpflanzung und Kindererziehung sowie die überzeitliche und transgenerationale Weitergabe von Vermögen und Einkommen innerhalb der Familie. Das islamische Recht, mit dem ich die Regelungen der Ehe in den Traktaten der verschiedenen Rechtsschulen meine (d.h. der hanafītischen, mālikītischen, schāfiʿītischen, hanbalītischen und dschaʿfarītischen Rechtssschule), befasst sich fast ausschließlich mit der weltlichen Regelung dieser Beziehung. Für einen Muslim, der seine Religion nur oberflächlich kennt, ist es sehr leicht möglich, die gesetzlichen Regeln, die die Ehe als weltliche Institution im Islam regeln, mit den Idealen über die Ehe als religiöse Institution zu verwechseln. Wenn eine solche Verwechslung vorliegt, können selbst gültig geschlossene Ehen zumindest aus religiöser Sicht mangelhaft und im schlimmsten Fall unmoralisch sein und kaum mehr als einen Vorwand für unerlaubten Sex darstellen.

    Das islamische Recht versucht innerhalb der Grenzen dessen, was der menschlichen Vernunft zugänglich ist, Ehen, die die islamischen Zwecke der Ehe zu erfüllen suchen, von Scheinehen zu unterscheiden, die den Rahmen der Ehe nutzen, um ein islamisch unerlaubtes Ziel zu erreichen. Zwei häufige Formen von Scheinehen sind die Zeitehe (mutʾa) und die heimliche Ehe (zawāj al-sirr). Aus verschiedenen Gründen, von denen einige im Folgenden erörtert werden, sind diese Praktiken in vielen muslimischen Gesellschaften nicht unbekannt. Und da amerikanische Muslime in größeren Kontakt mit der weltweiten muslimischen Gemeinschaft gekommen sind, ist das Wissen um diese Praktiken in das kollektive Bewusstsein der muslimischen Gemeinschaft gesickert. Von Zeit zu Zeit hört man anekdotische Geschichten von Männern, die sich heimlich eine zweite Frau nehmen oder vorübergehende Ehen eingehen. Geheime Ehen werden trotz intensiver Bemühungen des Paares unweigerlich entdeckt, mit oft verheerenden Folgen für die erste Frau und ihre Kinder. Angesichts der schwerwiegenden Folgen geheimer Ehen und ihrer umstrittenen Position innerhalb der sunnitischen Tradition [4] ist es für uns als Gemeinschaft von entscheidender Bedeutung zu verstehen, warum muslimische Institutionen in Nordamerika eine klare öffentliche Haltung gegen die Legitimität dieser geheimen Ehen einnehmen müssen.

    Sowohl eine Ehe auf Zeit als auch eine geheime Ehe verstoßen gegen das grundlegende koranische Ethos der Ehe.

    Der Qur‘an unterscheidet zwischen drei verschiedenen Arten von intimen Beziehungen, von denen er nur eine gutheißt. Er billigt eine dauerhafte Ehe, in der sowohl der Mann als auch die Frau heiraten, um Tugend und Reinheit zu erreichen. Diesen Wunsch nach Tugend und Reinheit verwendet der Koran, um ihre Beziehung von zwei anderen Arten von intimen Beziehungen zu unterscheiden, die er verurteilt. Die erste ist eine, bei der der Mann die Frau für eine einmalige sexuelle Begegnung bezahlt, nach der es ihr frei stand, ähnliche Geschäfte mit anderen Männern einzugehen. Am anderen Ende des Spektrums unterhalten ein Mann und eine Frau eine geheime Beziehung, in der der Mann die Frau unterhält und sie zustimmt, nur mit ihm Sex zu haben. [6]

    Da es für einen außenstehenden Beobachter schwierig sein kann, zwischen diesen drei Arten von intimen Beziehungen zu unterscheiden, hat das islamische Recht zahlreiche objektiven Anhaltspunkte festgelegt, die einer legalen Ehe vorausgehen, um objektive Anzeichen dafür zu liefern, dass die Parteien von dem Wunsch nach Reinheit und nicht von etwas Unerlaubtem (z. B. dem Handel mit Sex gegen Geld oder der unentgeltlichen Befriedigung von Begierde) motiviert werden. Nach dem Koran und dem Beispiel des Propheten (Friede sei mit ihm) sollte das Paar die Erlaubnis der Familie der Braut einholen, außerdem muss der Ehemann der Braut ein Heiratsgeschenk (mahr) machen und zwei Zeugen müssen die Verbindung bezeugen. Bräuche, die nicht vorgeschrieben sind, aber empfohlen werden, da sie die guten Absichten der Parteien unterstreichen, sind eine Predigt zum Zeitpunkt der Eheschließung und die Ausrichtung einer öffentlichen Feier der Eheschließung. [7]

    Obwohl nur Gott die Absichten des Einzelnen kennt, sind sich die sunnitischen Rechtsgelehrten einig, dass jeder Ehevertrag nichtig ist, der ausdrücklich ein Enddatum für die Ehe festlegt. [8] Dies liegt darin begründet, dass für sunnitische Rechtsgelehrte dauerhafte Intimität ein grundlegender Zweck der Ehe ist.

    Das Bekenntnis zur unbefristeten Natur der Ehe ist eine praktische Folge aus der Forderung des Korans, dass das Paar Keuschheit anstrebt, was den ehelichen Sex von unerlaubtem Sex unterscheidet.

    Der Ehevertrag ist jedoch nur dann ungültig, wenn das Paar in seinem Ehevertrag ausdrücklich ein Enddatum für seine Verbindung festlegt. Wenn z.B. ein Mann im Ausland heiraten möchte, aber plant, nach einer bestimmten Zeit in seine Heimat zurückzukehren, möchte die Frau, die er heiratet, nicht in sein Heimatland ziehen. Der Mann und die Frau können stillschweigend vereinbaren, dass sie, falls und wenn er nach Hause zurückkehrt, nicht mit ihm gehen wird und sie sich stattdessen scheiden lassen werden. Trotz der Indizien, die darauf hindeuten, dass die Parteien in diesem Fall ihre eigene Scheidung in Erwägung ziehen, überlassen die sunnitischen Rechtsgelehrten die Frage nach dem rechten Glauben der Eheleute Gott. Sie gehen davon aus, dass die Absichten der Eheleute zum Zeitpunkt der Eheschließung zwar den islamischen Zielen der Ehe widersprechen, dass sich ihre Absichten aber nach der Eheschließung ändern können. Unter den sunnitischen Rechtsgelehrten ist es daher unumstritten, dass jeder Ehevertrag, der eine ausdrückliche Klausel enthält, nichtig und sündhaft ist.

    Geheime Ehen stellen aus der Perspektive der traditionellen sunnitischen Lehre eine schwierigere Frage dar. Eine geheime Ehe ist eine Ehe, die alle formalen Anforderungen einer Ehe erfüllt, insofern beide Parteien der Ehe zustimmen, die Frau die Mahr erhält, es Zeugen gibt und die Zustimmung des Vormunds eingeholt wird, aber die Parteien vereinbaren, dass sie die Tatsache dieser Ehe vor anderen verbergen. Die sunnitischen Rechtsgelehrten sind sich über die Gültigkeit einer solchen Ehe uneinig. Diejenigen, die der hanafītischen und der schāfiitischen Rechtsschule angehören, halten solche Ehen für gültig, da alle vertraglichen Anforderungen erfüllt sind, auch wenn nur die Vertragsparteien von der Verbindung wissen. Die Mālikīten halten diese Ehen für rechtlich nichtig und bestrafen alle Parteien eines solchen Vertrages, d.h. den Ehemann, die Ehefrau, den Vormund und die Zeugen. Darüber hinaus handelt es sich nach Ansicht der Mālikīten auch dann um eine geheime Ehe, wenn die Vereinbarung darin besteht, die Ehe vor nur einer einzigen Person geheim zu halten, und sie ist daher sowohl unmoralisch als auch rechtlich ungültig.

    In der letzten Generation hat sich das Phänomen der geheimen Ehen in der muslimischen Welt, insbesondere unter Arabern, weiter verbreitet. Die Menschen haben unterschiedliche Motive, diese Art von Ehe einzugehen. Witwen fürchten zum Beispiel den Verlust ihrer Rentenansprüche, wenn der Staat erfährt, dass sie wieder geheiratet haben. Verliebte im College-Alter hingegen können sich die Mittel zum Heiraten vielleicht nicht leisten oder eine oder beide Familien missbilligen ihre Beziehung, und so schließen sie eine heimliche Ehe, um die Einwände der Familie zu umgehen. Ein Mann möchte vielleicht eine zweite Frau heiraten, aber weder er noch die zweite Frau möchten, dass die erste Frau davon erfährt. Da in manchen Ländern wie z. B. Ägypten die erste Frau benachrichtigt wird, wenn der Mann eine zweite Frau heiratet, greift das Paar auf eine geheime Ehe zurück. Befürworter dieser Art von Ehe behaupten, dass sie Frauen, die sonst nicht in der Lage wären, eine vollwertige Ehe einzugehen, oder die sich vielleicht nicht mit den Anforderungen einer vollwertigen Ehe auseinandersetzen wollen, ermöglicht, ihre persönlichen Interessen in einem erkennbar islamischen Rahmen zu verfolgen. Sie räumen ein, dass die Praxis nicht ideal ist, verurteilen sie aber nicht als sündhaft.

    Wenn wir ein Argument gegen geheime Ehen anführen, müssen wir bedenken, dass die Ehe im Islam viele verschiedene Ziele verfolgt, und das aus vielen verschiedenen Perspektiven. Das erste ist das Glück der Partner in der Beziehung. Der Islam strebt natürlich das persönliche Glück der Ehepartner an. In der Tat ist das genau der Grund, warum die Ehe die Zustimmung beider Parteien erfordert, und warum die Scheidung für den Fall, dass die Ehe eine Ursache für Unglück ist, immer eine Option sein muss. Es besteht kein Zweifel, dass eine geheime Ehe die Ziele der Individuen in dieser Beziehung fördert und ihnen ein gewisses Maß an Befriedigung und Zufriedenheit bringt, sonst würden sie sich nicht darauf einlassen. Aber das islamische Recht erkennt das persönliche Glück nicht als das einzige relevante Anliegen in einer islamischen Ehe an.

    Dementsprechend ist das zweite Ziel der Ehe das, was man als deren soziale Funktion bezeichnen könnte, nämlich eine stabile und glückliche muslimische Gemeinschaft hervorzubringen und zu reproduzieren. Aus diesem Grund regelt das islamische Recht die Ehe, indem es Formalitäten wie eine Mitgift (mahr), die Beglaubigung durch Zeugen und die Erlaubnis eines Vormunds vorschreibt. Das islamische Recht regelt die Ehe außerdem, indem es muslimische Männer darauf beschränkt, ausschließlich Angehörige der sog. Schriftbesitzer zu heiraten und muslimische Frauen auf muslimische Ehemänner beschränkt. In der Tat ist die soziale Dimension der Ehe so wichtig, dass einige muslimische Rechtsgelehrte wie Imām Mālik muslimischen Männern, die in nichtmuslimischen Ländern leben, verboten, Angehörige der Schriftbesitzer zu heiraten, die ansonsten legitime Ehepartner wären, aus Angst, dass ihre Kinder nicht als Muslime erzogen werden könnten. Es ist zu beachten, dass die Vorschriften, die die soziale Funktion der Ehe fördern sollen, dem obersten Ziel dienen: dem Glück von Mann und Frau. Werden die Formalitäten eingehalten und die Rechte öffentlich anerkannt, verringert sich das Risiko von Missbrauch oder Vernachlässigung. Wenn die Parteien einer Ehe sicher sind, dass ihre Rechte der Gemeinschaft bekannt sind, befinden sie in einer besseren Position, da sie darauf vertrauen können, dass ihr Partner ihnen diese Rechte gewähren wird und sei es nur aus Angst, in der Gemeinschaft in Ungnade zu fallen. In der Tat hilft die öffentliche Verpflichtung, diese Rechte zu respektieren dabei, auch die eigenen Pflichten in einer Ehe zu verinnerlichen. Daher behindert die öffentliche Kenntnis und Anerkennung einer Ehe nicht das langfristige persönliche Glück eines Paares, sondern sichert und stärkt es vielmehr.

    Das dritte und höchste Ziel der islamischen Ehe besteht darin, Liebe und Barmherzigkeit zu praktizieren, indem man einander mit Freundlichkeit und Zuneigung behandelt, eine neue Generation muslimischer Kinder in einem liebevollen Zuhause aufzieht und Bande der Solidarität zwischen den Großfamilien von Mann und Frau schafft. Wenn wir das Phänomen der geheimen Ehen im Lichte der islamischen Ziele für die Ehe betrachten, sollte es offensichtlich sein, dass eine Vereinbarung, eine Ehe vor einer anderen Person, einigen Menschen oder der gesamten Welt außer den am Vertrag Beteiligten geheim zu halten, jedes der islamischen Ziele für die Ehe untergräbt. Während es vielleicht das persönliche Glück der Ehepartner fördert, insofern es ihre unmittelbare Befriedigung erleichtert, ist es unwahrscheinlich, dass es dieses auch auf lange Sicht tut, und daher ist es unvereinbar mit dem göttlichen Ziel für die Ehe, nämlich, dass sie zu dauerhafter Intimität führt. Es ist auch wichtig zu beachten, dass eine heimliche Ehe dem Verbot im Koran, sich heimliche Geliebte zu nehmen, sehr ähnlich ist. [9] Selbst wenn ein Paar sich die Mühe macht, die formalen Anforderungen eines Ehevertrags zu erfüllen, die beiden dann aber die Verbindung vor der Öffentlichkeit verbergen, kommen sie der Art von geheimer Beziehung, die der Koran verbietet, gefährlich nahe.

    Wenn eine geheime Ehe auch noch polygam ist, werden die Gefahren noch größer. Erstens ist eine solche Ehe ein prima facie-Verstoß gegen das islamische Gebot der Gleichbehandlung weiterer Ehefrauen, und sei es nur, weil die zweite, heimliche Ehefrau von der Existenz der ersten Frau weiß, während die erste Frau bzgl. der Existenz der zweiten unwissend bleibt. Zweitens geben der Ehemann und seine zweite Frau durch die heimliche Heirat einer zweiten Frau im Wesentlichen zu, dass ihre Beziehung die erste Frau unglücklich machen würde, und so untergräbt sie eines der drei Ziele der islamischen Ehe – beiden Ehepartnern Glück zu bringen. Drittens verletzt eine geheime, polygame Ehe die Rechte der ersten Frau, denn im Rahmen einer polygamen Ehe genießt sie, zumindest nach der malikitischen Rechtsschule, erhöhte Rechte in Bezug auf den Zugang zu ihrem Mann. Wenn sie jedoch nichts von seiner zweiten Frau weiß, ist sie offensichtlich nicht in der Lage, diese Rechte wahrzunehmen. [10] Viertens, und das ist für die nordamerikanische muslimische Gemeinschaft vielleicht am bedeutsamsten, führt die Entdeckung der heimlichen Ehe fast unweigerlich zum Scheitern der ersten Ehe und schadet den Kindern aus dieser Ehe, die über das Verhalten ihres Vaters verwirrt sind, insbesondere wenn sie ihn als religiösen Muslim kennengelernt haben, und der, sobald er entdeckt wird, oft versuchen wird, sein Verhalten auf der Grundlage des Islam zu verteidigen. Dies ist besonders schädlich für muslimische Kinder in Nordamerika, die oft große Mühe haben, sich an die islamischen Normen der Keuschheit zu halten. Wenn sie Erwachsene sehen, die sich in einer Weise verhalten, die sie als zügellos empfinden, schwächt dies verständlicherweise ihre Entschlossenheit, sich an die islamischen Lehren zu halten. Es kann auch destruktiv für das Wohlergehen der heimlichen Ehefrau sein, besonders wenn die heimliche Ehefrau eine Konvertitin ist, mit geringen sozialen Bindungen zur Gemeinde oder jung und die Ehe mit einem älteren Mann ohne das Wissen ihrer Familie eingegangen ist.

    Einige Muslime, insbesondere diejenigen, die an geheimen Ehen beteiligt sind, werden jedoch behaupten, dass der einzige Grund dafür sei, dass die erste Frau, die normalerweise von der Gemeinschaft unterstützt wird, sich weigere, eine polygame Ehe zu akzeptieren. Sie argumentieren, dass diese Weigerung ein unislamisches Verhalten ihrerseits sei, da ein Mann vier Frauen gleichzeitig haben dürfe und entschuldigen damit die geheime Natur der Beziehung. Wenn nur die erste Frau nachgeben und die polygame Beziehung akzeptieren würde, gäbe es keine Notwendigkeit für die Geheimhaltung.

    Zunächst einmal missversteht eine solche Position eindeutig die Haltung des Islam zu polygamen Ehen.

    Es ist schlicht falsch aus der Tatsache, dass der Koran und das Beispiel des Propheten (Friede sei mit ihm) eine Handlung nicht als verboten ansehen, sicher zu schließen, dass es vollkommen in Ordnung ist, die fragliche Handlung zu vollziehen.

    Die islamische Ethik besteht aus fünf Kategorien – obligatorisch, empfohlen, erlaubt, missbilligt und verboten. Die Heirat eines Mannes mit einer zweiten Frau fällt normalerweise in die ethische Kategorie des Missbilligten, nicht in die des Erlaubten. [11] Tatsächlich warnt der Koran, nachdem er den Männern die Erlaubnis erteilt hat, bis zu vier Frauen zu heiraten, ausdrücklich davor, dass ein Mann monogam bleiben sollte, wenn er befürchtet, dass er seinen Frauen gegenüber nicht fair sein wird. [12] Der Koran stellt weiter fest, dass es für Männer unmöglich ist, mit mehreren Frauen gerecht umzugehen, selbst wenn sie ihr Äußerstes versuchen, und dass ein Mann, anstatt sich von einer Frau abzuwenden, um eine andere zu heiraten, seine Beziehung zu ihr verbessern und auf Gott bedacht sein sollte.

    Zusätzlich zu der klaren Aussage des Koran raten auch gut überlieferte Beispiele aus dem Leben des Propheten (Friede sei mit ihm) davon ab, eine zweite Frau zu heiraten. Imām Bayhaqī berichtete in seinem Buch Schiʿab al-Īmān mit Bezug auf die Autorität von Abū Hurayra, dass der Prophet (Friede sei mit ihm) sagte: „Wer auch immer zwei Frauen hat und einer von ihnen zugeneigt ist, wird am Tag der Auferstehung vor Gott kommen, mit der Hälfte seines Körpers gebeugt.“ Polygamie ist also nicht etwas, dem der Islam gleichgültig gegenübersteht, wie die Behauptung vermuten lassen könnte, dass sie erlaubt ist. Vielmehr hält der Islam sie unter den besten Umständen für eine zu missbilligende Praxis. Wenn die zweite Ehe dazu heimlich geschlossen wird, geht sie über die Missbilligung hinaus und betritt den Bereich des Verbotenen, wie die Mālikīten argumentiert haben. Wie bereits besprochen, hat ein Mann, der eine zweite Frau heiratet, ohne diese Tatsache seiner ersten Frau mitzuteilen, der zweiten Frau gegenüber bereits Parteilichkeit gezeigt, einfach aufgrund der Tatsache, dass die zweite Frau von der ersten Frau weiß, während die erste Frau über die zweite im Dunkeln bleibt, ganz zu schweigen von all den anderen schädlichen Auswirkungen, die geheime Ehen auf Ehepartner und ihre Kinder haben. [13]

    Die Position, die der ersten Frau die Schuld für die Geheimhaltung der zweiten Ehe gibt, geht auch fälschlicherweise davon aus, dass eine muslimische Frau moralisch verpflichtet sei, einer zweiten Frau willfährig zuzustimmen. Dies steht im Widerspruch zum islamischen Recht und zur historischen muslimischen Praxis. Der Prophet Muḥammad (Friede sei mit ihm) selbst hat ʿAlī b. Abī Ṭālib daran gehindert, eine zweite Frau zu nehmen, während er mit Faṭima verheiratet war, weil sie stark dagegen war. [14] Unter den Muslimen der nachprophetischen Generation war es gängige Rechtspraxis, dass muslimische Eheverträge Klauseln zugunsten der Ehefrau enthielten, die ihr das Recht auf Scheidung einräumten. [15] Obwohl Imām Mālik solche Vereinbarungen missbilligte, waren sie nicht ḥarām und gerichtlich durchsetzbar. Dementsprechend handelt eine muslimische Frau nicht sündhaft, wenn sie sich weigert, einer zweiten Frau zuzustimmen. Da ihr Einwand, in einer polygamen Beziehung zu leben, nicht unrechtmäßig ist, kann er kaum als Entschuldigung dafür dienen, die zweite Ehe des Ehemanns vor ihr zu verbergen.

    Die muslimischen Gemeinden in Nordamerika müssen öffentlich einen strikten Standpunkt gegen die Praxis der geheimen Ehen einnehmen. Obwohl wir hoffen, dass die Gerüchte über ihr häufiges Auftreten kein Abbild der Wirklichkeit sind, müssen die Führer der muslimischen Gemeinden diese Praxis anprangern, bevor sie in unseren Gemeinden Wurzeln schlägt und das muslimische Familienleben unter dem Deckmantel der Treue zum Islam verwüstet. Wir beten inständig zu Gott, dass er unseren Gemeinschaften eine Führung schenkt, die mutig genug ist, diese Probleme öffentlich anzusprechen und sich entschieden dagegen zu stellen.

     

    Mohammad H. Fadel ist außerordentlicher Professor an der Juristischen Fakultät der University of Toronto, der er seit Januar 2006 angehört. Während seines Studiums an der University of Chicago schrieb er seine Doktorarbeit über Rechtsprozesse im mittelalterlichen islamischen Recht. Professor Fadel wurde im Jahr 2000 als Anwalt in New York zugelassen und praktizierte bei der Kanzlei Sullivan & Cromwell LLP in New York, wo er an einer Vielzahl von Unternehmensfinanzierungstransaktionen und wertpapierbezogenen regulatorischen Untersuchungen arbeitete. Professor Fadel wirkte auch als Rechtsreferendar für den ehrenwerten Paul V. Niemeyer vom United States Court of Appeals for the 4th Circuit und den ehrenwerten Anthony A. Alaimo vom United States District Court for the Southern District of Georgia. Professor Fadel hat zahlreiche Artikel in den Bereichen islamische Rechtsgeschichte und Islam und Liberalismus veröffentlicht.

    Endnoten:

    [1] http://www.dorar.net/h/7267babbcdaf6ebc6ebff16eb09d19ff.

    [2] Al-Rūm, 30:21 („Und zu Seinen Zeichen gehört, dass Er für euch aus eurer Mitte Gattinnen erschaffen hat, bei denen ihr Ruhe findet, und Er hat zwischen euch Liebe und Zärtlichkeit geschaffen. Darin sind Zeichen für ein Volk, das aufmerksame Überlegungen anstellt.“).

    [3] Siehe z. B. al-Baqara, 2:25; al-Nisāʾ, 4:57; al-Raʿd, 13:23; und Yā Sīn, 36:56. In der Tat beschrieb Ibn ʿĀbidīn, der große hanafitische Damaszener Rechtsgelehrte des 19. Jahrhunderts, die Ehe zusammen mit dem Bekenntnis zur Einheit Gottes als den einzigen Akt der Hingabe, der im nächsten Leben fortbesteht.

    4] Die sunnitischen Rechtsschulen sind die Ḥanafīten, Mālikīten, Schāfiʿīten und Ḥanbalīten. Die wichtigste Rechtsschule der Schīʿa ist die dschaʿfarītische Schule.

    [5] Siehe z.B. al-Nisāʾ, 4:24-25 und al-Māʾida, 5:5.

    [6] Der Begriff des Korans für die erste geschlechtliche Beziehung ist sifāḥ. Er verwendet die Formulierung „sich keinen heimlichen Liebhaber nehmen (ghayr muttakhidhī akhdān)“, um sich auf die zweite Art von Beziehung zu beziehen. Im zeitgenössischen Sprachgebrauch ist sifāḥ mit gewöhnlicher Prostitution verwandt, während die zweite Bedeutung dem ähnelt, was im Volksmund als „Sugar Daddy“-Phänomen bekannt ist. Der Koran bezieht sich auf die Keuschheit der Ehe mit dem Begriff iḥṣān.

    [7] Der Prophet (s) ermutigte jede Person, die heiratet, eine Feier nach ihren Möglichkeiten auszurichten, indem er sagte: „Awlim, wa law bi-schā („Haltet ein Hochzeitsfest, auch mit einem einzigen Lamm“).“ Siehe http://www.dorar.net/h/3321919409fb870fecbf309ad3886e8b.

    [8] Eine solche Heirat ist als zawāj mutʿa oder zawāj ilā ajal bekannt. Dieser Begriff wird im Volksmund mit „Vergnügungsehe“ übersetzt, aber die genauere Übersetzung lautet „Ehe auf Zeit.“ Obwohl die Schīʿa solche Ehen erlaubt, betrachtet sie sie als verpönt (makrūh) und unterwirft sie dem Regelwerk, das für reguläre Ehen gilt. Es würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, die schiitische Auffassung der Zeitehe oder die sunnitischen Argumente gegen ihre Sichtweise zu erörtern.

    [9] Für einen Überblick über die Diskussion der Vorzüge und Kritikpunkte von zawāj al-misyār in der arabischen Welt siehe https://ar.wikipedia.org/wiki/%D8%B2%D9%88%D8%A7%D8%AC%D8%A 7%D9%84%D9%85%D8%B3%D9%8A%D8%A7%D8%B1.

    [10] Wenn zum Beispiel ein Ehemann in einer monogamen Ehe kein sexuelles Interesse an seiner Frau zeigt, ist das, sofern die Ehe vollzogen wurde, normalerweise kein Scheidungsgrund, es sei denn, die Frau kann beweisen, dass er den Geschlechtsverkehr mit ihr aus einem böswilligen Grund unterlässt. Wenn er jedoch eine zweite Frau heiratet und sexuelles Interesse an dieser zeigt, die erste Frau aber weiterhin ignoriert, ist es offensichtlich, dass es sich nicht um eine allgemeine Abwesenheit von sexuellem Verlangen handelt, sondern eher um Abneigung gegen die Frau, was diese unter diesem Umstand zu einer gerichtlichen Scheidung berechtigt.

    [11] Wenn Juristen von der Zulässigkeit einer Ehe mit einer zweiten, dritten oder vierten Frau sprechen, dann sprechen sie die Sprache des positiven Rechts (al-aḥkām al-waḍʿīyya), nicht der Ethik. Solche Ehen sind also jāʾiz, in dem Sinne, dass sie gültig und verbindlich sind und allen relevanten rechtlichen Folgen einer Ehe aus einer säkularen Perspektive unterliegen. Das bedeutet jedoch nicht, dass solche Ehen islamisch gefördert werden. Ein weiterer Beleg dafür, dass die Ehe mit einer zweiten Frau moralisch missbilligt wird, liegt in der Tatsache, dass es einem ledigen zahlungsunfähigen Schuldner zwar erlaubt ist, eine Ehe zu schließen, jedoch keine zweite.

    [12] Al-Nisāʾ, 4:3; 4:129.

    [13] Das bedeutet nicht, dass Polygamie als kategorisch verboten angesehen wird, auch nicht für nordamerikanische muslimische Gemeinschaften. Es kann sehr wohl Situationen geben, in denen eine polygame Ehe vertretbar sein kann, auch wenn insgesamt davon abgeraten wird. In diesem Fall kann sie jedoch nicht heimlich oder vor der ersten Frau verborgen durchgeführt werden. Es würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, zu erörtern, welche Bedingungen im nordamerikanischen Kontext erfüllt sein sollten, bevor eine polygame Ehe als islamisch anerkannt wird.

    [14] S. http://www.dorar.net/h/d3d8a494b4ceab8ec3c1c531a6ff3167.

    [15] Diese vertragliche Festlegung ist als tamlīk bekannt. Juristen verstanden sie als Bestimmung, mit der der Ehemann seiner Frau seine Befugnis zur Scheidung für den Fall überträgt, dass eine bestimmte Situation eintritt wie z. B. seine Heirat mit einer zweiten Frau.

  • Nachruf auf Dr. Malik Badri

    As-salamu alaikum!

    In diesem Blogbeitrag möchten wir Euch die deutsche Übersetzung eines Nachrufs auf Dr. Malik Badri zur Verfügung stellen. Der Nachruf wurde von Dr. Rania Awaad verfasst und von Dr. Ibrahim Rüschoff übersetzt. Das Original ist hier einzusehen.

    Der Vater der modernen islamischen Psychologie: Das Vermächtnis von Dr. Malik Badri

    Rania Awaad

    Dr. Badri war ein Pionier der modernen islamischen Ansätze in der Psychologie, der unzählige Studenten auf diesem Gebiet beeinflusste, durch die sein Vermächtnis weiterlebt.

    „Mach dir keine Sorgen, Malik, Freud unterschreibt ihre Gehaltsschecks!“ Mit diesen Worten tröstets ein Freund den kürzlich verstorbenen Vater der modernen islamischen Psychologie, Dr. Malik Badri, als er sich bei ihm darüber beklagte, dass er von anderen Psychologen, darunter auch Muslimen, verspottet wurde, als er in den 1960er Jahren versuchte, ihnen ein islamisches Konzept der Psychologie vorzustellen.

    Nach seiner Ausbildung zum Psychologen in Großbritannien, nach dem Grundstudium in seinem Heimatland Sudan und seinem Bachelor- und Master-Abschluss an der American University of Beirut wurde Dr. Badri zum Fellow der British Psychological Society gewählt.

    Während er das Gefühl hatte, dass vieles aus seiner Ausbildung der muslimischen Gemeinschaft zugute kommen könnte, wurde er Zeuge, wie andere muslimische Psychologen pauschal den streng säkularen Rahmen der westlichen Psychologie übernahmen, in dem kein Platz für Religion oder Spiritualität war.

    Dr. Badri war sehr besorgt über die ernsten kulturellen und ideologischen Dilemmata, die sich aus dem ergeben würden, was er als „ethnozentrischen, wahllosen Export der säkularen westlichen Psychologie“ in muslimische und Dritte-Welt-Länder unter dem Deckmantel der „wissenschaftlichen Überlegenheit“ des Westens bezeichnete. Er war besonders besorgt darüber, dass Psychologiestudenten in muslimischen Ländern „den Kern der Psychologie mit der Nussschale verschlucken und das Baby mit dem schmutzigen Wasser behalten.“

    Dies führte dann zur Veröffentlichung von Dr. Badris berühmtem Aufsatz „Muslim Psychologists in the Lizard’s Hole“, gefolgt von seinem meistverkauften Buch „The Dilemma of Muslim Psychologists“, das 1979 in London erschien. Dieses Opus magnum hat zusammen mit Dr. Badris zahlreichen anderen Büchern viele dazu inspiriert, die unkritische Akzeptanz westlicher psychologischer Theorien und Praktiken abzulehnen und sie stattdessen gemäß einer islamischen Weltsicht zu überarbeiten.

    Von dort aus eröffnete sich für Dr. Badri ein weiterer wichtiger Weg: die Untersuchung der Werke früher muslimischer Gelehrter, die zu dem Bereich beigetragen haben, den wir heute als Psychologie bezeichnen. Welchen besseren Weg gibt es, Muslimen die Vorteile der Psychologie nahe zu bringen, als ihre ursprünglichen Wurzeln in den Werken früher muslimischer Gelehrter zu finden?

    Die ursprünglichen Beiträge muslimischer Gelehrter und Ärzte sind jedoch von modernen westlichen Historikern der Psychologie weitgehend ignoriert worden, manchmal sogar absichtlich. Heute beginnen Lehrbücher der Psychologie oft mit der Würdigung der Werke der Griechen und Römer und überspringen dann Jahrhunderte bis zur europäischen Renaissance, als ob die Welt dazwischen mehr als tausend Jahre lang in literarischer Ignoranz versunken wäre.

    Das Wort Renaissance bedeutet Wiedergeburt, was impliziert, dass Europa versuchte, die toten Wissenschaften der klassischen Griechen wiederzubeleben. Aber die Wissenschaft war eigentlich nie gestorben. Die Muslime übernahmen die Wissenschaft der Griechen, verfeinerten und entwickelten sie weiter, bevor sie sie an Europa weitergaben.

    In dieser Situation wurde Dr. Badri von seinem Kollegen Professor Mehdi Mohaghegh auf ein Manuskript von Abu Zayd al-Balkhi aus dem neunten Jahrhundert aufmerksam gemacht, das von Professor Fuat Sezgin in der Ayasofya-Bibliothek in Istanbul entdeckt wurde und den Titel Masalih al-Abdan wa al-Anfus (Nahrung für Körper und Seelen) trägt.

    Dr. Badri übernahm die Aufgabe, eine psychohistorische Abhandlung über al-Balkhis Manuskript auf Arabisch zu schreiben und übersetzte dann den psychotherapeutischen Teil des Manuskripts ins Englische, der nun den Titel Sustenance of the Soul (Nahrung der Seele) trägt.

    Dr. Badri zeigte treffend, dass al-Balkhi möglicherweise der erste Gelehrte war, der klar zwischen Psychosen und Neurosen, d.h. zwischen geistigen und psychischen Störungen, differenzierte. Darüber hinaus waren al-Balkhis Klassifizierung der emotionalen Störungen auffallend modern; er teilte psychische Erkrankungen in vier übergreifende Kategorien ein: Angst und Panik, Wut und Aggression, Traurigkeit und Depression sowie Manie. Darüber hinaus war al-Balkhi wahrscheinlich der erste in der Geschichte, der eine verfeinerte kognitive Verhaltenstherapie (CBT) entwickelte und deren Anwendung für jede der von ihm klassifizierten Störungen illustrierte.

    An diesem Punkt kreuzte sich mein Weg zufällig mit dem von Dr. Badri. Da ich selbst in den klassischen islamischen Wissenschaften ausgebildet wurde, bevor ich mich zum Psychiater ausbilden ließ, war ich entschlossen, die Werke der frühen muslimischen Gelehrten und ihr Verständnis der multidisziplinären Wissenschaft aufzudecken, die „ilm ul-nafs“ oder das Studium des Selbst genannt wird.

    Beim Durchstöbern von Hunderten von Originalmanuskripten, die vom siebten bis zum sechzehnten Jahrhundert reichten, stieß ich auf Abu Zayd al-Balkhis Originalmanuskript aus dem neunten Jahrhundert und später auf Dr. Badris arabische Kommentierung. Als ausgebildete Psychiaterin habe ich sofort die Verbindung zwischen al-Balkhis diagnostischer Klassifikation und dem DSM-5 erkannt. In einigen Fällen stimmten die Beschreibungen von al-Balkhi (9. Jahrhundert) Punkt für Punkt mit dem DSM-5 (2013) überein.

    Ich ging das Risiko ein und schrieb eine E-Mail an Dr. Badri, in der ich mich vorstellte, teilte meine Ergebnisse und meinen Plan mit, sie in doppelt verblindeten, von Experten begutachteten medizinischen Fachzeitschriften zu veröffentlichen. Zu meinem absoluten Erstaunen nahm sich Dr. Badri die Zeit, mir zurück zu schreiben.

    Später erfuhr ich von seiner Frau in einer Online-Würdigung, dass er sich die Zeit nahm, auf jede einzelne Nachricht zu antworten, die an ihn geschickt wurde. In seiner E-Mail-Antwort beglückwünschte er mich und ermutigte mich, diesen Weg der Forschung weiterzugehen. Er teilte mir auch die gute Nachricht mit, dass er gerade dabei war, sein berühmtestes Werk ins Englische zu übersetzen: al-Balkhis Manuskript.

    Mit dem Segen von Dr. Badri reichte ich meine Arbeit bei medizinischen Fachzeitschriften ein. Nach Durchsicht meiner Manuskripte schrieben die medizinischen Fachzeitschriften zurück, dass meine Behauptungen „unorthodox“ seien und sie meine Arbeit von Medizinhistorikern überprüfen lassen müssten. Nach vielen langen Monaten des Wartens – und während derer ich mir sicher war, dass die Papiere abgelehnt werden würden – schrieben die Historiker schließlich zurück und bestätigten meine Behauptungen: al-Balkhi war in der Tat wahrscheinlich der erste, der psychiatrische Krankheiten wie Zwangsstörungen und Phobien korrekt klassifizierte, diagnostizierte und funktionelle Behandlungen vorschlug – ein ganzes Jahrtausend vor den europäischen Psychiatern, denen diese Entdeckungen zugeschrieben wurden! Sie gingen sogar so weit zu sagen, dass meine Artikel die Geschichte der Psychologie neu schreiben und die Erzählungen umstoßen, die muslimische Beiträge zu dem Gebiet, das heute als Psychologie bekannt ist, entweder herunterspielen oder absichtlich auslassen.

    Dr. Badri war sehr stolz auf diesen Meilenstein. Dieser Durchbruch führte dazu, dass ich der Geschichte des Islam und der Psychologie in meinem Institut, dem Stanford Muslim Mental Health Lab an der Stanford University, eine ganze Forschungslinie widmete. Heute fahren wir fort, die Schätze der muslimischen Vorgänger auf dem Gebiet der Psychologie zu heben – ein Gebiet, das sie sehr ernst nahmen und zu dem sie viel beigetragen haben. Dr. Badri war ein Pionier der modernen islamischen Ansätze in der Psychologie, der unzählige Studenten auf diesem Gebiet beeinflusste, durch die sein Vermächtnis weiterlebt.

    Einige Jahre später, als Dr. Badri Professor an der Istanbuler Sabahattin-Zaim-Universität in der Türkei war, leitete ich meinen Zwischenstopp in Istanbul auf dem Rückweg von einer Konferenz für islamische Psychologie in Pakistan ein, um ihn wieder zu besuchen. Da wir in Istanbul waren, sagte er, dass er eine Überraschung für mich hätte, und zog aus seinem Bücherregal das Originalmanuskript heraus, das er vor all den Jahren benutzt hatte, um al-Balkhis „Sustenance of the Soul“ zu übersetzen und zu kommentieren, eine Leihgabe der Ayasofya-Bibliothek! Es war, als ob ich Zeuge wurde, wie sich die Geschichte direkt vor meinen Augen entfaltete. Es war ein surrealer Moment, der so perfekt einfing, wie Dr. Badris Hingabe, den ganzheitlichen islamischen Rahmen des Wohlbefindens zurück in die Psychologie zu bringen, nicht nur mich tief inspirierte und transformierte, sondern auch die zahllosen Studenten, die er an Universitäten in ganz Afrika, Asien, Europa und dem Nahen Osten und in von ihm gegründeten islamischen Psychologiezentren und -vereinigungen unterrichtete, die er während seines Lebens gründete.

    Während dieses letzten persönlichen Besuchs bei Dr. Badri hatte ich auch die Gelegenheit, eine weitere Überraschung mit ihm zu teilen – die aufregende Nachricht, dass die Stanford University die erste Universität in den USA sein würde, die einen vollständigen, permanenten Kurs über islamische Psychologie in ihr Angebot aufnimmt. Ich war glücklich über die Gelegenheit, diesen nächsten Meilenstein mit ihm zu feiern. Er verbrachte Stunden mit mir, um zu skizzieren, was in meinem Kurs gelehrt werden sollte, und dafür werde ich und viele zukünftige Studenten der islamischen Psychologie für immer in seiner Schuld stehen.

    Scherzhaft, aber mit einer Portion Wahrheit, sagte er zu mir: „Hätte mir damals in den 1960er Jahren jemand gesagt, dass eine amerikanische Universität eines Tages einen islamischen Psychologiekurs in ihrem Studienangebot haben würde, hätte ich ihn für verrückt erklärt!“ Er hatte immer einen großartigen Sinn für Humor, den wir schmerzlich vermissen werden.

    Ich bin so dankbar, dass Dr. Malik Badri die Gelegenheit hatte, die Wiederbelebung der islamischen Psychologie zu seinen Lebzeiten mitzuerleben und zu sehen, wie seine unermüdliche Arbeit begann, Früchte zu tragen. Heute gibt es weltweit mehrere Konferenzen zur islamischen Psychologie, die von Tausenden von Interessierten besucht werden. Es gibt Kurse, Workshops, Bücher, theoretische und klinische Anwendungen, die alle der Rückgewinnung und Förderung des Feldes der islamischen Psychologie gewidmet sind. Es wäre nicht übertrieben zu sagen, dass all dies auf Dr. Badri zurückgeführt werden kann.

    Dr. Malik Badri wird immer mein Vorbild für einen nicht apologetischen Muslim in der akademischen Welt und einen glühenden Anhänger der prophetischen Sunna sein. Er wird immer mein Held sein, weil er einen Weg für Kliniker und Forscher wie mich aufgezeigt hat, wie man das „Baby“ vom „Badewasser“ trennt, um die nützlichen Aspekte der westlichen Psychologie zu extrahieren, um anderen Muslimen zu helfen.

    Er wird immer als der Wiederbegründer der modernen islamischen Psychologie-Bewegung angesehen werden und maßgeblich an den Bemühungen beteiligt sein, die Seele zurück in die Psychologie zu bringen. Mein Gebet ist, dass die Schüler von Dr. Malik Badri sein Vermächtnis und seine Werke weiterführen, damit sie für ihn als sa-daqah jariyah, fortlaufende Wohltätigkeit, gezählt werden.

  • IASE Tagungsbeitrag 2000: Gewalt in der Praxis der Beratung

    Aus der Schatzkiste. Die Wenigsten wissen, dass die IASE seit den 1980er Jahren existiert. Wir haben alte Tagungsbeiträge ausgesucht, um sie wöchentlich hier zu posten. Viel Vergnügen beim Lesen.


    Gewalt in der Praxis der Beratung

    Bothina El Toukhy

    Beispiel 1:

    Eine Freundin rief für eine Bekannte an, die erhebliche Schwierigkeiten mit ihrem Mann hatte. Wie sich herausstellte, kannte ich diese Frau. Bei der Heirat war die Frau 16 Jahre, der Ehemann 50 Jahre alt. Sie kam mit der Heirat nach Deutschland, der Mann war mit einer Deutschen verheiratet gewesen und hatte aus dieser Ehe zwei erwachsene Kinder. Die zweite Frau lebte im Hause der vorherigen Fa­milie, jedoch in einer eigenen Wohnung. Die Schwierigkeiten bestanden darin, dass der Ehemann ger­ne weitere Kinder haben wollte. Zwei Kinder der Familie hatte der Mann aus der ersten Ehe mitge­bracht, weitere zwei stammten aus der jetzigen Ehe. Die Frau war damit nicht einverstanden und wur­de daraufhin von ihrem Mann geschlagen.

    Nach anfänglicher Weigerung brachte die Frau dann im Alter von 19 Jahren ein drittes Kind zur Welt, insgesamt also drei Kinder in drei Jahren. Da der Mann beruflich viel im Ausland unterwegs war, blieb die Frau mit den Kindern fast die ganze Zeit alleine, ohne Sprachkenntnisse, ohne Führerschein. Auch mit der alten Familie, die ja im Hause wohnte, durfte sie keinen Kontakt aufnehmen. Als sie mit den Nachbarn einmal etwas unternommen hatte, gab es mit dem Mann erhebliche Probleme, dabei auch Tätlichkeiten. Einmal war die zu einer Bekannten nach Berlin geflohen, weil sie die Situation nicht er-trug, bei der Rückkehr des Mannes über alle möglichen Kleinigkeiten genauestens Rechen­schaft ab-legen zu müssen. Der Mann hatte es inzwischen durch seine Interventionen geschafft, auch ihre Familie auf seine Seite zu bringen, die sich schließlich von der Frau lossagte und sie darauf hin­wies, ihrem Mann zu gehorchen.

    Wir waren in der Situation sehr hilflos. Die Frau wollte meinen Rat. Ich lud sie zusammen mit ihrem Mann zu uns ein, die Bemühungen brachten jedoch keinen rechten Erfolg. Die Frau ließ sich schließ­lich scheiden lassen und ist einfach ohne Geld und Paß und ohne die Kinder ausgezogen. Sie kämpft jetzt um das Sorgerecht und Unterhalt durch den Mann.

    Beispiel 2:

    Eine Mutter kam zu mir und berichtete, dass ihre Tochter, ein 12-jähriges Mädchen aus unserer tür­kisch-marokkanischen Mädchengruppe‘ in ein Mädchenhaus gegangen sei.

    Das Mädchen stammte aus der ersten Ehe der Mutter, die inzwischen wieder geheiratet hatte und be­klagte sich, dass es vi-on der Mutter viel geschlagen werde und es daheim nicht mehr aushalten könne. Dazu kam ein kleiner Halbbruder aus der zweiten Ehe, gegenüber dem sie sich als Mädchen benach­teiligt fühlte. Privi-ate Kontakte zu Freundinnen waren schwierig, da de Mutter dagegen war, dass sie mit ihren nichtmuslimischen Freundinnen aus dem Haus ging.

    Das Mädchen war mit zwei Kulturen konfrontiert: In der Schule herrschte ein großes Maß an Freiheit und Selbstbestimmung, in der Familie bekam sie vorwiegend Befehle und Auflagen von der Mutter, die stets alles mit dem Islam und „unserer“ Tradition begründete.

    Während des Aufenthaltes im Mädchenhaus fiel das Kind durch einen Diebstahl in einem Supermarkt auf so dass die Eltern schließlich dafür sorgten, dass das Kind wieder nach Hause kam und dann in die Heimat zu den Großeltern schickten. Auch hier war konkreter Rat sehr schwierig. Die Mutter hatte wenig bis gar kein Vertrauen in diese Gesellschaft.

    Diskussion: 

    Tahira Beg:

    Ich arbeite beim Jugendamt und habe in der Vergangenheit immer wieder versucht, mit Imamen in Kontakt zu treten und gemeinsam zu arbeiten. Wenn ich als Frau, auch wenn ich Muslima bin, meine, ihm etwas sagen zu können, fühlen sie sich meiner Erfahrung nach in ihrer Autorität um so eher ange­griffen, je weniger sie Einblick in unsere gesellschaftliche Realität besitzen Auf diese Weise geht gar nichts. Ich versuche in letzer Zeit eher eine Person anzusprechen, die dieser Imam als Autorität akzep­tiert und die dann mit ihm in Kontakt tritt. Es geht m.E. sehr darum, dass der Hodscha sein Gesicht wahren kann. Dabei ist mir wichtig, dass für die Muslime etwas Positives heraus kommt und nicht, dass ich dort etwas regele.

    Dr. Hamdani:

    Das Problem ist sehr vielschichtig. Es lassen sich mindestens vier Ebenen unterscheiden: Dabei ist es gleich, auf welcher Ebene die Intervention erfolgt oder wie richtig sie ist, wenn sie nur auf einer Ebene erfolgt, reicht sie nicht aus. Folgende Bereiche kann man benennen:

    Der Berater/Therapeut, der sich fragt, was er tun soll, was zwischen ihm und dem Klienten geschieht. Hier wird die Bedeutung einer Supervision klar, einer neutralen Stelle, die ein wenig aus der Ver­wick-lung heraus hilft und einen Überblick verschafft.

    Der Ratsuchende: Hier muß vor allem der Auftrag geklärt werden. Wer will was? Werde ich von einer Seite instrumentalisiert? Wie weit mache ich mit?

    Der Islam: Trotz individueller Spielräume gibt es im Islam anerkannte Linien und Prinzipien, die nicht zur Diskussion stehen. In welchem Verhältnis man zu diesen Prinzipien steht, muß man für sich klä­ren, doch deren Anerkennung klärt bereits eine Vielzahl von Problemen.

    Die eigene Institution: Das Rechtssystem in Deutschland entspringt einer Idee und einer bestimmten Motivation. Diese Motivation zu klären, in die man als Arbeitnehmer, in diesem Fall als Beraterin in einer katholischen Einrichtung hinein genommen ist, klärt viele Verwicklungen und Rollenkonflikte.

    Mondher Ammar

    Zum Thema Imame: Man muß schon den Einzelfall anschauen. Es gibt Imame mit unterschiedlichen Lebensläufen, aus unterschiedlichen Schulen, aus unterschiedlichen Ethnien.

    Wir haben weiterhin als Berater o.ä. mit zwei Systemen zu tun. Auf der einen Seite das deutsche, dass effizient ist und gut funktioniert, dann ein weiteres, das nicht effizient ist und keinen Schutz bietet, jedoch Identität und Zugehörigkeit und ein Stück Ruhe. Es ist nun sehr kompliziert, mit oder auch zwischen diesen beiden Systemen zu arbeiten. Ich selbst bin zwar Soziologe, jedoch durch meine mehrjährige Arbeit bei der Caritas immer wieder mit Scheidungs- und Trennungsfällen konfrontiert worden. Inzwischen habe ich alle Arten von Gewalt erlebt. Besonders schwierig waren die Fälle, in denen die Paare nicht standesamtlich‘ sondern nur islamisch verheiratet waren. Hier ist der Schutz (Z.B. Unterhalt nach Trennung, Sorgerechtsregelungen etc.) besonders schwierig oder auch unmög­lich, so dass ich inzwischen der Überzeugung bin, dass was nicht legal oder offiziell ist, auch nicht is­lamisch sein kann. Was nützt mir ein System der Zugehörigkeit, der Identität, das im Notfall doch keinen Schutz bietet? Was soll ich mit einem Kind über Religion reden, dass immer wieder massivi­geprügelt wird und mir seine blauen Flecken zeigt? Was können wir also praktisch tun?

    Dr. Hamdani:

    Therapie ist Beziehungsarbeit. Und wenn ich in Therapie und Beratungsarbeit tätig bin, dann sollte ich schauen, zu wem im Umfeld (noch) eine Beziehung besteht. Kann ich da kooperativ anknüpfen, finde ich schnell eine Gemeinsamkeit und stoße auch auf ein Problembewußtsein. Nun ist oft ihre Art, die Probleme zu lösen, nicht optimal. Andererseits muß ich meine Auffassung relativieren, dass meine Art, die Probleme zu lösen, die beste sei. Wenn wir uns dann ohne Schuldzuweisung gemeinsam hinsetzen können, wenn wir das „Teufelsdreieck“ zwischen Opfer, Retter und Verfolgtem nicht aufbauen, be­steht eine Chance, weiter zu kommen. Sonst ist das Spiel aus, bevor es begonnen hat.

    Warum lernen wir nicht voneinander? Warum kann ich nicht zu einem Hodschas sagen: „Du schaffst ‚Wunder‘ mit deinen Methoden der Suggestion, die Menschen verlieren oft ihre Symptome. Ich als Psychiater mache manche ‚Wunder‘ mit Medikamenten, doch es hilft auch nicht immer. Ich möchte gerne einmal von dir lernen wie du das machst.“

  • IASE Tagungsbeitrag 2000: Gewalt in der Praxis der Beratung

    Aus der Schatzkiste. Die Wenigsten wissen, dass die IASE seit den 1980er Jahren existiert. Wir haben alte Tagungsbeiträge ausgesucht, um sie wöchentlich hier zu posten. Viel Vergnügen beim Lesen.


    Gewalt in der Praxis der Beratung

    Kesmat Gössinger

    Nach dem Theorieschwerpunkt des letzten Arbeitstreffens möchte das Thema heute aus praktischer Sicht angehen. Ich selbst habe viel zu tun mit Klienten aus islamisch-arabischen Ländern, zumeist arabisch sprechend. Ich habe drei Fälle aus meiner Praxis ausgewählt, die alle mit Gewalt zu tun ha­ben, und zwar in ganz unterschiedlichen, jedoch typischen Formen.

    Mein größtes Problem in der Begegnung mit solchen Fällen ist, dass ich manchmal islamischen Fami­lien begegne, deren gesamtes Handeln nur sehr wenig islamisch ist. Ich bin dann oft hilflos und frage mich, ob ich die Menschen etwa umerziehen soll oder die ganzen Therapiesitzungen damit zu verbringen, zu zei­gen, was islamisch und was nicht. Doch ich denke, dass unsere therapeutische Aufgabe auf einer ande­re Ebene liegt.

    Die ganze Sache ist äußerst komplex. Begegne ich einem Vater, der seine Tochter gegen ihren Willen verheiraten will, mit dem Hinweis auf einen Hadith und der Tatsache, dass das nicht ethisch ist, so kommt er mir mit anderen Hadithen und Texten, die sein Verhalten rechtfertigen. Und dann stecken wir in einem Streitgespräch von Meinungen und Glaubenssätzen. Ich sage mir irgendwann, das ist doch keine Therapie, was ich hier mache. Ich denke, dass viele von Euch, die in diesem Bereich arbei­ten, diese Situationen aus eigener Erfahrung kennen.

    Weiterhin stellt sich mir die Frage, was eine islamische Familie überhaupt ist. Eine Definition ist auch bei Rückgriff auf die Quellen schwierig, denn ich habe immer auch mein Verständnis eines islami­schen Familiensystems im Kopf. Ebenso geht es den anderen. Jeder Klient hat seine eigene Geschich­te, seine persönliche, seine ethnische, seine geographische Geschichte, und überall wird die Familie etwas anders definiert. Wir sind alles Individuen, die eine einheitliche Theorie leben wollen und diese dennoch alle einzeln prägen.

    Wenn ich also über die islamische Familie etwas sage, dann habe ich meine Vorstellung davon im Kopf, meine Vorstellung als eine in Kairo geborene und aufgewachsene Ägypterin.

    In allen drei folgenden Fällen wird ein Machtmißbrauch deutlich. Im ersten Fall geschieht der Miß­brauch durch einen Mann, im zweiten Fall durch jemanden mit einer Autorität in einer Gemeinde und im dritten Fall durch eine ganze Familie.

    Mein erstes Beispiel handelt von einem 20-jährigen Mädchen, das im 4. Monat schwanger zu mir in die Beratungsstelle kam. Die Eltern des Mädchens stammen aus Syrien, sie selbst ist hier in Deutsch­land geboren und in einer islamischen Familie aufgewachsen. Sie war auf einer deutschen Schule, und in ihrem Kopf war sie eine Mischung aus der islamischen Familie und dem deutschen Einfluß, den sie aus der Schule erhalten hat. Sie sagte mit Tränen in den Augen, dass sie nicht mehr wisse, was sie ma­chen solle. Die Ehe, in der sie lebe, sei eine falsche Entscheidung gewesen.

    Der Ehemann der Frau war erst mit 22 Jahren nach Deutschland gekommen, mit einer Identität als Syrer, einer Sozialisation als Araber. Die Frau hatte bei der ersten Begegnung mit ihm über ihre Vor­stellungen einer Ehe gesprochen und dabei sehr den partnerschaftlichen Umgang miteinander betont. Anfangs war er einverstanden und einer Meinung mit ihr. In den ersten drei, vier Monaten nach der

    Eheschließung war die Ehe perfekt, dann jedoch bemerkte die Frau täglich ein Stück Veränderung in seinem Verhalten. Schließlich eskalierte die Sache so, dass sie mit ihm kaum noch sprechen konnte. Er sei der Mann, er entscheide, sie müsse gehorchen. Er war sehr eifersüchtig auf ihren Vorsprung in der hiesigen Gesellschaft. Wenn dieser in bestimmten Situationen deutlich wurde, wurde er sehr gewalttä­tig, schlug sie und verbot ihr, in seiner Gegenwart anderen gegenüber ihre Meinung zu äußern. Oft holte er seine in Deutschland lebende Familie, Tanten und Schwestern dazu, die in einer Art Tribunal über sie zu Gericht saßen und stets auf seiner Seite gegen die Frau standen, die immer kleiner und kleiner wurde und ihre ganzen Vorstellungen von Partnerschaft zerstört sah.

    Soweit die Situation. Sollte ich ihr sagen, dass das Verhalten des Mannes nicht islamisch sei? Was bringt das, wenn man bedenkt, dass der Mann es so gelernt hat und sich in dieser Phase seiner persönli­chen Entwicklung nicht anders verhalten kann? Ich habe verlangt, dass er mit seiner Frau zusammen in die Beratung kommt, er lehnte es ab, seine Probleme mit einer Fremden zu lösen, er haben seine Schwestern und Tanten. Sie kam stets alleine, weinte immer, ein paar Monate nach dem ersten Kind war sie wieder schwanger. Es war nicht klar, warum sie ihre Probleme mit einer weiteren Schwanger­schaft noch verschärfte, doch dann zeigte sich, dass sie im Gegensatz zu ihrer anfänglichen Lebendig­keit teilweise in erhebliche Apathie verfallen war. Sie fragte sich ständig, wie das, was sie als unisla­misch erkannte, ihm vermitteln könne. Der Mann selbst war anders sozialisiert, er sah seine Eltern ähnlich kommunizieren und hielt das für islamisch. Er selbst war in einer gewissen Weise ein Opfer.

    Wie gehen wir als Therapeuten und Berater mit solchen Situationen um?

    Mein zweiter Fall zeigt ein besonderes Problem der Vernetzung von Hilfsangeboten. Ich dachte, es sei ideal, wenn jemand in die Moschee geht und zu mir kommt. Der Imam und ich könnten vielleicht zu­sammenarbeiten und parallel etwas erreichen. In der Realität ist das allerdings nie passiert.

    Eine deutsche Erzieherin kam sehr verzweifelt zu mir, da sie ein Kind im Kindergarten hatte, mit dem sie nicht umgehen konnte. Das Kind spielte nicht mit anderen Kindern, ging mittags nicht essen ob­wohl es ganztags angemeldet war, es saß die ganz Zeit in einer Ecke und machte gar nichts, wirkte apathisch. Gelegentlich ging es zu einer bestimmten Erzieherin, setzte sich auf ihre Schoß und sagte:

    „Weißt du, ich mag dich sehr, aber du gehst in die Hölle, weil du eine Kafira und nicht verschleiert bist.“ Die Frau wußte natürlich nicht, was eine Kafira ist, sie erschrak, da sie so etwas nie von einem 7-jährigen Kind gehört hatte. Das Kind sagte daraufhin, dass es sich bemühe, ein guter Muslim zu sein, und weil es die Erzieherin liebe, wolle es sie jetzt leiten, den richtigen Weg zu gehen, genau wie es ihr Vater als Imam einer Moschee tue.

    Es stellte sich heraus, dass ich den Vater des Kindes aus den Berichten verschiedener Klienten kannte. Eine litt unter nächtlichen Angststörungen, war zu ihm gegangen, er befreite sie mit Hilfe von Koran­lektüre von ihren Problemen. In anderen Fällen handelte es sich um Familienprobleme, ein Kind war ausgerissen etc. und immer war dieser Mann beteiligt. Seine Interventionen haben eine Zeitlang funk­tioniert, doch irgendwann landeten die Klienten dann doch bei uns. Die Familien bemerkten, dass wir doch mehr in der Realität verankert waren, im Kontakt standen mit den Schulen, den Kindergärten und eine Menge praktische Hilfe leisten konnten. Ich denke in diesem Zusammenhang, dass die Lektüre des Koran sicherlich einen positiven Effekt hat, jedoch löst sie nicht automatisch die alltäglichen Proble­me, die das Kind mit seinen Eltern und Lehrern etc. hat. Wir dürfen nicht halt machen auf der Ebene der islamischen Mittel i.e.S., sondern müssen die Angebote verknüpfen.

    Mein Problem war, dass ich mit dem Mann, der seine islamische Ausbildung in Al Azhar genossen hatte, nicht reden konnte, da er mich in keiner Weise akzeptierte. Er kam nicht zu mir, weil ich kein Kopftuch trage. Ich habe mit ihm telefoniert und versucht, mit ihm zusammen eine Lösung für seinen Sohn zu finden, da die Erzieherinnen nahe daran waren, zum Jugendamt zu gehen, weil sie annahmen, dass das Kind gefährdet sei. Sie hatten die Eltern eingeladen, der Vater kam allein, da die Mutter kein Deutsch konnte und sagte im Gespräch, dass er sehr stolz auf seinen Sohn sei, wenn er sich so beneh­me. Er sei froh, dass sein Sohn nicht mit den anderen spiele, sie nicht zu seinem Glauben gehören.

    Der Widerspruch ist offensichtlich: der Vater, der nicht will, dass sein Kind Kontakt mit anderen Nichtmuslimen hat, schickt es in eine solche Einrichtung. Warum lebt der Mann mit seiner Familie in einem Land, von dessen Kultur und Identität er sich so bedroht fühlt? Warum geht er nicht weg, wenn hier alles so schlecht ist? In eine Kultur, die seine Identität nicht bedroht?

    Ich war als Beraterin in einer schwierigen Situation. Einerseits war der Mann Imam einer großen Ge­meinde in Frankfurt. In diese Gemeinde gehen viele Muslime, die auch zu mir kommen. Sie haben sehr viel Respekt vor ihm und glauben sehr an seine Interventionen, die ja auch oft helfen. Für mich jedoch mit einem großen „aber“: sie helfen momentan und für eine bestimmte Zeit. Insgesamt jedoch bleiben die Probleme unverändert. Was also tun? Ich kann meinen Klienten nicht sagen, dass ich mit ihm nichts zu tun haben möchte, da er einen großen Einfluß auf sie hat. Ich kann auch nicht zu meinen Klienten sagen, sie sollen nicht zur Moschee gehen oder sie vor dem Imam warnen, dass seine Inter­ventionen keine nachhaltige Wirkung auf ihre Probleme habe.

    Ich hatte ein Gefühl der Lähmung: Ich ließ sie einfach gehen, in die Moschee und zu mir. Ich konnte sie bis zu einem bestimmten Punkt beraten, den Rest überließ ich Allah, dennoch war ich frustriert.

    Die Situation ist immer noch offen, ich habe mich zurückgezogen, als die Erzieherinnen forderten, ich solle mit dieser Familie reden. Sie waren enttäuscht und fragten, was wir denn als Beratungsstelle machten, doch ich denke, hier setzt der Elternwille wie bei jeder deutschen Familie einfach Grenzen. Ich habe mich zurückgezogen, als die Reaktion des Imam kam: „Ach ja, sie sind die Frau Psychologin. Wir kümmern uns um unsere eigenen Probleme. Halten sie sich da bitte heraus.“

    Darüber hinaus habe ich allerdings die Erfahrung gemacht, dass eine Zusammenarbeit durchaus mög­lich ist, wie im Falle eines türkischen Imams. Ich denke, dass hier die Persönlichkeitsstruktur des ein­zelnen Menschen eine große Rolle spielt.

    Im dritten Fall wurde ich von einem Frauenhaus wegen einer jungen Palästinenserin aus dem Libanon angerufen, die sich dort befand und kein Wort Deutsch sprach. Sie erzählte mir, dass sie vor drei Jahren geheiratet hatte. Einmal, um eine Familie zu gründen und zweitens, um ihrer schwierigen Situation im Elternhaus zu entgehen. So erschien ihr der junge Mann mit dem deutschen Paß wie ein Tor zum Himmel. Zu Beginn der Ehe war die Welt in Ordnung, er verwöhnte sie, sagte zu, dass sie deutsch lernen könne, wozu es allerdings nie kam, da er immer wieder Geldprobleme angab. Langsam bekam die Frau das Gefühl, von allem ferngehalten zu werden. Sie durfte keinen Schritt ohne die Erlaubnis der Schwiegermutter tun, die in der Wohnung gegenüber wohnte. Die Schwiegermutter kontrollierte wirklich nahezu jeden Schritt, vom Zeitpunkt des Aufstehens bis zum Abend. Nach der Geburt des ersten Kindes war dieses sofort in die Obhut der Schwiegermutter genommen worden, die der 20-jährigen Frau erklärte, dass sie nicht in der Lage sei, Kinder zu erziehen. Sie sei aus Mitleid aus der Armut ihrer Familie gerettet worden und hätte keinerlei Ansprüche zu stellen.

    Als die Frau eines Tages ein Glas zerbrochen hatte, holte der Mann wie schon oft zuvor seinc Familie, die in einer Art Tribunal über die Frau zu Gericht saß und ihr verbal massiv zusetzte. Sie forderten sie auf, heute noch nach dem Libanon zu gehen, dass Kind bleibe allerdings in der Familie. Die Klientin reagierte mit einem hysterischen Schreianfall, worauf die deutschen Nachbarn die Polizei holten, die die Frau ins Frauenhaus brachte. Das Kind blieb erst bei der Schwiegermutter, bis ein Richter das Sor­gerecht der Mutter übertrug.

    Auch in diesem Beispiel wird der Mißbrauch von Macht deutlich. Der eine hat das Geld, das Wissen, der andere eben nicht. Und wenn in dieser Situation keine Ethik vorhanden ist, eskaliert sie. Die Frau bekam schließlich Hilfe vom Frauenhaus in Form von Geld, sie bekam ihr Kind zurück. Sie wollte sich nicht scheiden lassen konnte, sondern ihren Beitrag zur Wiederherstellung der Familie leisten und fragte mich, ob ich mit ihrem Mann reden könne. Bedingung sei allerdings, dass die Schwiegermutter eine größere Distanz einhalte. Die Familie konnte nicht glauben, dass dieses zwanzigjährige Mädchen in der Lage war, so viele Leute zu mobilisieren, war in ihrem Stolz sehr verletzt und blockierte jede Hilfe und jedes Gespräch auch mit mir. Sie solle das Kind behalten und aus ihrem Leben verschwin­den. Zur Zeit befindet sich dieses Mädchen in einem Frauenhaus, sie kann nicht zurück, da das Kind deutsch ist und sie sich Zuhause in einer schwierigen politischen Situation befände. Das Beste für sie wäre, in unserem deutschen Umfeld weiter zu leben.

  • IASE Tagungsbeitrag 2000: Wie gehen die Moscheen mit dem Thema Gewalt um?

    Aus der Schatzkiste. Die Wenigsten wissen, dass die IASE seit den 1980er Jahren existiert. Wir haben alte Tagungsbeiträge ausgesucht, um sie wöchentlich hier zu posten. Viel Vergnügen beim Lesen.


    Wie gehen die Moscheen mit dem Thema Gewalt um?

    Mehmet Ünal Tosun

    Liebe Schwestern und Brüder, ich habe zwar die Ausbildung hier beim VIKZ genossen und bin seit zehn Jahren ehrenamtlich tätig, bin jedoch kein hauptamtlicher Imam. Ich habe zur Vorbereitung dieses Themas versucht, praktisch vorzugehen und sowohl Mitglieder der Gemeinden als auch Hodschas befragt.

    Wie gehen die Moscheen mit dem Thema Gewalt um?

    Ich möchte hier keine islamisch-rechtliche Begutachtung durchführen, dennoch müssen wir Islam und die Gewalt in den Familien voneinander trenne, denn der Islam unterstützt Gewalt, vor allem nicht innerhalb der Familie. Es gibt diesbezüglich einen Vers im Koran, der das Schlagen der Frau betrifft. Einige Kommentatoren sind der Ansicht, dass man die Frau ganz leicht berühren darf, andere meinen, dass hier eher ein zudringliches Einreden/Ermahnen gemeint ist.

    Gewalt in der Familie möchte ich in drei Bereiche aufteilen:

    1. Gewalt seitens des Mannes gegenüber der Frau
    2. Gewalt seitens des Mannes gegenüber den Kindern
    3. Gewalt seitens der Frau gegenüber den Kindern (und auch gegen den Mann, was es auch gibt)

    Diese Trennung sollte man schon unternehmen, obwohl in den meisten Fällen, in denen man über Gewalt in islamischen Familien spricht, der böse Mann gemeint ist, der nicht nur schlägt, sondern auch psychische Gewalt ausübt, die m.E. eine noch größere Nachwirkung im Leben der Menschen haben kann. Noch schlimmer ist physische mit psychischer Gewalt gepaart, doch das wissen Sie als Psychologen und Pädagogen sicherlich noch besser als ich.

    Beispiel: Ein ca. 17-18-jähriger jugendlicher Rollstuhlfahret kam mehrfach zu mir, da er seine Pro-bleme in seiner Moschee nicht ansprechen könne. Er berichtete schluchzend, dass er von seinem Vater das Verbot bekommen habe, nach 23 Uhr abends an der Haustür zu klopfen oder zu klingeln, da er vor dieser Zeit zuhause sein müsse. Als er nun gestern gegen 23:30 Uhr nach hause kam und klopfte, wur­de er nicht hereingelassen. Auch die Mutter durfte nichts sagen, und so habe er die Nacht draußen ver­bracht.

    Wenn es sich hier nicht um einen behinderten Jugendlichen gehandelt hätte, wäre ich nicht so bestürzt gewesen. Der Junge hat versucht, sich in einem Imbiß zu wärmen, es war im Winter 1999.

    Nach einiger Zeit fragte ich ihn, wie es gehe und bot ihm an, mich über einige Bekannte „einzumi­schen“. Täte ich es direkt, würde ich wahrscheinlich mit Verachtung und Hohn überschüttet oder wäre sogar mit Handgreiflichkeiten konfrontiert. Der Junge wollte das nicht und zog es vor, die Situation auszuhalten, bis er dann irgendwann ausziehen könne.

    Die Situation in den Moscheen 

    Nicht nur die Hodschas, sondern auch die Gemeindevorstände sehen die Gewalt in den Familien als feststehende Tatsache an. Diese Gewalt gibt es natürlich auch bei Familien, deren Väter und Ehemän­ner zum Freitagsgebet kommen. Dies gilt sowohl für die Türken als auch alle anderen ethnischen Gruppierungen. Mir wurde in den Moscheen gesagt, dass das Themas Gewalt allerdings nicht tabuisiert werde. Diese Meinung wird durchgehend vertreten, wobei hier vor dem Hintergrund eigener anderer Erfahrungen ein unterschiedliches Verständnis des Begriffes „Tabu“ zu bestehen scheint. Tabuisie­rung bedeutet nach meinem Verständnis, dass man nicht darüber spricht, sich nicht darum kümmert, dass man Initiative erst entwickelt, wenn man gefragt wird. Gewalt werde in den Moscheen nicht ta­buisiert, sondern „gemäß den Traditionen in der türkischen Kultur gehandhabt“. Ein makabres Zitat, wie ich meine. Was das bedeutet, ist je nach Auffassung ganz unterschiedlich. Dabei ist Diskretion die wichtigsten Sache. Es darf nichts herauskommen, es darf der Ruf des Ehemannes, des Vaters der Fa­milie nicht beschädigt werden. In diesem Fall, so die Auffassung, ist auch der Ruf der Frau und der ganzen Familie beschädigt, man lacht auch über sie. Das bedeutet in der Praxis, dass die Gemeindelei­tung oder der Hodscha nur dann aktiv werden, wenn der Fall an sie heran getragen wird. Und zwar durch einen der Eheleute oder die Kinder, die sagen „mischt euch ein, sonst wird es schlimm“. Wenn es jemand Außenstehender tut und sich die Gemeindeleitung dem Problem vorsichtig nähert, um viel­leicht einen versteckten Hilferuf aus der Familie wahrzunehmen und dann nichts geschieht, zieht man sich wieder zurück. In ganz akuten und schlimmen Fällen wird auch Anzeige erstattet. Hier waren sich eigentlich alle einig, mit denen ich gesprochen habe. Die ordnungspolitische Macht steht dem Staat zu, die Gemeinden können nicht einfach eingreifen und bestrafen, hierüber besteht Konsens.

    Exkurs:

    Die Moscheegemeinden in Deutschland stecken in Fragen des sozialen Zusammenlebens tatsächlich noch in den Kinderschuhen. Sie sind der Kern des religiösen Zusammenlebens der Muslime. Eine eigenständige Ausweitung der Kompetenzen auf weitere gesellschaftliche Felder (Seelsorge, Diakoni­sehe Einrichtungen etc.), so wie es christliche Kirchen mit ihren Organisationen tun, wäre eine An­gleichung der hierarchischen Strukturen der hiesigen Kirchen, eine solche Institutionalisierung wird meiner Erfahrung nach von den Gemeinden abgelehnt. Wir wollen keine Kirchenstrukturen, sondern solche, die uns ermöglichen, uns zum Gebet und zum Gespräch zu treffen usw. Spezielle seelsorgeri-sehe Strukturen gibt es zwar hier und dort, doch besonders die erste Generation steht dem skeptisch gegenüber. Die Muslime sind es eher gewohnt, in den Moscheen zu beten, Armenhäuser in Eigeni­nitiative zu errichten und gesellschaftliche Probleme nicht mit Hilfe einer kirchlich-hierarchischen Struktur zu lösen. So ist vor 150 Jahren (!) ein Altenheim in Istanbul nicht von einer Moschee oder einem Moscheeverband gegründet worden, sondern von verschiedenen engagierten Einzelpersonen. Dies ist der von vielen Muslime bevorzugte Lösungsweg. Ein Frauenhaus z.B. sollte nicht von einem Moscheeverband, sondern einem sozialen Verband, der von Muslimen betrieben wird, eingerichtet und betrieben werden.

    Gewalt herrscht vor allem in den muslimischen Familien, in denen der Bildungsgrad niedrig ist. Wei­terhin kommt sie in Familien vor, in denen die Affinität zu religiösem, rechtschaffenem Leben gering ist. Hierzu zählen vor allem das Bewußtsein, Muslim zu sein, den Islam auch über die fünf täglichen Gebete hinaus zu praktizieren und das „Brennen“ der Liebe Gottes im Herzen zu haben. Dabei müssen wir besonders für die türkischen Muslime in Deutschland feststellen, dass sehr an Beidem mangelt. Dazu ist wichtig zu wissen, dass die meisten türkischen Muslime aus ländlichen Regionen nach Deutschland gekommen sind, wo das traditionelle Mann-Frau-Kind-Verhältnis oft sehr viel stärker ist als das, was der Islam zu diesen Dingen lehrt. Ich denke, dass wir hier in Deutschland die Chance ha­ben, die Religion auf die eine und die Tradition auf die andere Seite zu stellen und dazwischen eine Mitte zu finden. Dabei möchte ich nicht Tradition und Kultur der muslimischen Familien negativ be­werten. Ich erinnere mich an eine schöne Formulierung eines Predigers in der Türkei, der sagte: „Tra­ditionen machen die Grenzen des sozialen Lebens aus.“ Dies gilt insofern, dass zwar viele Muslime nicht praktizieren, sich aber durch gewisse Traditionen wie z.B. Fasten oder das Schlachten am Op­ferfest zum Islam bekennen.

    Wie bereits erwähnt, ist man sich in den Gemeindeleitungen der Gewaltproblematik bewußt. Deswe­gen wird sie sowohl in den normalen Predigten als auch in Zweiergesprächen immer wieder zum Thema gemacht.

    So kommt vielleicht jemand zum Hodscha und berichtet über seinen Nachbarn, der jeden Tag seine Frau schlägt. Man eruiert dann gemeinsam ob es möglich ist, die Situation mit der Familie zu themati­sieren. Wenn nicht, wird es zum allgemeinen Thema in der Gemeinde gemacht, z.B. in der Freitags-predigt oder in kleineren Gesprächsrunden ohne die Person direkt anzusprechen. Noch effektiver ist es, dass man Vertrauenspersonen wie z.B. Verwandte findet, der die Familie anspricht und Lösungen sucht.

    So erinnere ich mich an einen Fall, in dem nach vielen Gerüchten und Beschuldigungen in der Mo­schee die Gemeindeleitung zu dieser Familie fuhr und den Ehemann auf sein Verhalten ansprach. Sie drohten auch klar mit Konsequenzen wie dem Gang zur Polizei oder damit, die Frau aus der Familie zu holen und ins Krankenhaus zu bringen.

    Üblich dagegen ist es nicht, dass eine Frau zum Hodscha kommt und ihm berichtet, dass sie geschlagen wird. Meist geschieht es um fünf Ecken, und bis der Hodscha davon erfährt, hat oft die Großfamilie schon eine Lösung gefunden. Die meisten waren sich einig, dass man auf jeden Fall die staatlichen Stellen wie das Jugendamt, ein Frauenhaus usw. einschalten müsse, wenn die Mittel der Gemeinde nicht ausreichten. In der Praxis sind dieses aber Ausnahmefälle.

    Nadja El Ammarine:

    Mir fehlte als Pädagogin heute bisher die andere Seite. Hier wurde nur betont, was Kindern angetan wurde und wird, aber andererseits existiert auch die Notwendigkeit einer Grenzsetzung. Hierzu zählt das Beispiel mit dem Rollstuhlfahrer. Die Eltern waren zumindest so „fair“, eine Vereinbarung zu treffen, nämlich dass der Junge bis 23 Uhr zuhause sein mußte. Insofern verstehe ich die Gewalt nicht ganz. Natürlich ist es schlimm, die Nacht draußen zu verbringen, doch ein 17-jähriger hat auch die Option, um 23 Uhr noch Hause zu kommen. Ich brauche als Erzieher auch die Möglichkeiten, Gren­zen zu setzen und Konsequenzen folgen zu lassen, auch wenn diese in dem geschilderten Fall vielleicht unsinnig gewesen sind.

    Antwort:

    Ohne Einzelheiten zu berichten war in diesem Fall das Aussetzen sozusagen die Spitze des Eisberges. Schläge waren an der Tagesordnung, die Frau war gebrochen und konnte keinerlei Widerstand gegen

    den Vater leisten usw.

    Malika Douallal:

    Wie weit sind die Hodschas in den Moscheen über die psychosozialen Beratungsangebote in der Um­gebung informiert? Man muß ja nicht gleich zum Frauenhaus oder Jugendamt gehen. Es gibt Informa­tionen über Beratungsstellen bei der Stadtverwaltung usw.

    Antwort:

    Ein Wissen über die Angebote gibt es nicht, das muß man ganz klar sagen. Man weiß auch über die herausstechenden Angebote der Frauenhäuser und des Jugendamtes nur durch besondere Ereignisse in den Familien und deren Erfahrungen. Eine systematische Information der Hodschas und der Gemein­den ist bisher nicht erfolgt, da diese Arbeit in den Bereich eines seelsorgerisch ausgebildeten Psycho­logen oder Sozialarbeiters hinein reicht. Dazu sind wir doch in einer gewissen Weise noch zu sehr abgeschieden mit unserer Kultur. Ich denke, dass sich das in Zukunft ändern wird. Die Vermittlung von Informationen dieser Art wären z.B. eine wichtige Aufgabe für Eure Arbeitsgemeinschaft. Ihr seid versiert und kennt Euch mit einer solchen Problematik aus. Eine Möglichkeit wäre z.B. in Zusammen­arbeit mit verschiedenen Moscheen oder Verbänden dergestalt, dass jemand von Euch kommt und die Hodschas auf ihren Fortbildungstreffen informiert.

    In Dortmund haben wir jemanden, der sowohl Hodscha als auch ausgebildeter Therapeut ist, zu dem schicken wir schon in Einzelfällen.

    Amina Theißen:

    Tatsache ist, dass es Gewalt in muslimischen Familien gibt. Tatsache ist auch, dass das bestehende An­gebot an Beratungsmöglichkeiten für Muslime nicht zufriedenstellend ist. Ich glaube auch nicht, dass von islamischer Seite aus das Jugendamt eingeschaltet wird, da hinterher die Probleme manchmal noch größer sind als zuvor und das Kind ganz entwurzelt ist. Von den Moscheen selbst wird auch nichts unternommen, so dass die Frauen und Kinder in ihrer Not alleine sind. Es brennt uns unter den Nägeln, dass wir dringend eigene Angebote schaffen müssen, und zwar in Zusammenarbeit. Du hast zwar gesagt, dass der Auftrag der Moscheen eher ein religiöser im engeren Sinne sei, doch wer soll es denn anders tun? Wir müssen uns als Muslime dieser Verantwortung stellen, vor allem, wenn wir wis­sen, dass es diese Probleme gibt.

    Antwort:

    Diese Aufgabe müsste eigentlich von den Moscheen durchgeführt werden, doch ich fürchte, dass die Muslime noch nicht so weit sind. Wir erleben hier in Europa einen Umgang mit derartigen Problemen, den wir aus unseren Heimatländern nicht kennen. Es wird noch eine Menge Erziehungsarbeit im isla­mischen Sinne erforderlich sein, dann ist es auch Zeit für Beratungsstellen etc.

    Dr. Hamdani:

    Ich habe den Eindruck, dass die Wahrnehmung für die Probleme zwar vorhanden ist, doch sehr indivi- i­duell erfolgt. Es gibt m.E. kein Konzept, keine Idee. Das Problem wird in der Familie eher verheim­licht, diese Verheimlichung geht weiter auf der Ebene der Moschee, auch wenn in Einzelfällen Dritte eingeschaltet werden. So haben die Imame vor 200 Jahren praktiziert und so praktizieren sie heute, in Anatolien und in Nippes. Wo ist unsere Antwort an die Herausforderung der Zeit? Wir sind dieser Herausforderung bisher nicht gewachsen und leben immer defensiv.

    Antwort:

    Ich denke, es handelt sich hier um ein gesellschaftliches Problem und betrifft uns Muslime in der Ge­samtheit. Wenn ich das Verständnis von Erziehung aus der Zeit des Propheten betrachte, ist Erziehung in erster Linie eine Angelegenheit der Familien. Es wird eine Zeit brauchen, bis ein Bewusstsein dafür geschaffen ist, dass auch die islamische Öffentlichkeit Hilfen bereitstellt.