Aus der Schatzkiste. Die Wenigsten wissen, dass die IASE seit den 1980er Jahren existiert. Wir haben alte Tagungsbeiträge ausgesucht, um sie wöchentlich hier zu posten. Viel Vergnügen beim Lesen.


Muslimische Familien zwischen Islam und Tradition

Malika Douallal

Nicht nur in der westlichen, sondern auch in der islamischen Welt selbst herrschen viele Unklarheiten und Mißverständnisse über die Lebensweise des Islam. Viele Sitten und Bräuche, die für geheiligt und unverletzlich angesehen werden und für die Bevölkerung schon längst Teil ihres Glaubens geworden sind, haben beim genaueren Hinsehen nur wenig mit dem Islam zu tun und stehen oft sogar im Widerspruch zu islamischen Vorschriften. Dieser Widerspruch zwischen den Vorschriften der Religion und den Gepflogenheiten der Tradition fällt jedoch nur einem Kenner auf. Die Gläubigen selbst, die in einer bestimmten gesellschaftlichen Konstellation leben, können hier genauso wenig differenzieren wie ein außenstehender Betrachter.

Für die Beschäftigung mit diesem Thema ist vorweg zu klären, was mit „Islam“ gemeint ist und beschrieben wird: Ist z.B. die Lehre der islamischen Religion gemeint oder eher die Sitten und Gewohnheiten der breiten und eher ungebildeten Bevölkerungsschichten sogenannter muslimischer Länder, die Lebensweise der muslimischen Migranten in Europa oder die Staatsideologie sog. islamischer Länder?

Es soll am Typ der emigrierten muslimischen Familie versucht werden zu zeigen, wie unterschiedliche Faktoren das Bild des Islam verformen, ja oft sogar verfälschen. Das soll unter Berücksichtigung dreier Fragenkomplexe geschehen:

  1. Inwieweit beeinflußt die Familie selbst das Bild des Islam durch regionale und schichtspezifische Gewohnheiten?
  2. Wie wird die muslimische Familie von der nicht-islamischen Gesellschaft gesehen? Wird das, was die Außenwelt für islamisch hält, auch von der Familie selbst so gesehen?
  3. Inwiefern wird eine Vermischung von Tradition und Religion von der herrschenden Schicht eines Landes begünstigt oder gefördert, was auch die Lebensweise der ausgewanderten Familien beeinflußt?

Zur Verdeutlichung der Situation seien einige kurze Beispiele genannt:

Ein 17-jähriger türkischer Schüler erzählt seinen deutschen Mitschülern und Lehrern stolz, dass er jeden Jungen verprügele, der sich seiner Schwester auch nur annähere. Er selbst jedoch gibt ständig mit seinen Beziehungen zu Mädchen an. Für das Verständnis der Lehrer und Mitschüler handelt der Junge aus seiner islamischen Identität heraus. Dessen Verhalten stellt eine Bestätigung ihrer Ansichten über die Haltung des Islam zu Frauen dar: muslimische Mädchen werden abgeschirmt und eingeschränkt, während ihre Brüder alle Freiheiten in dieser Gesellschaft genießen dürfen. Dabei ist es unerheblich, ob der Junge selbst sein Verhalten mit Islam begründet oder nicht.

Ein junges Ehepaar kommt in die Beratung, nachdem ihre Probleme in der Ehe schon zum zweiten Mal eskaliert sind. Sie ist eine praktizierende Muslima, die versucht, ihr Leben nach islamischen Regeln zu orientieren. Vor der Ehe war sie gesellschaftlich engagiert, leitete u.a. eine Studentengruppe und war im Ausländerbeirat aktiv. Nach der Heirat mußte sie alle ihre Aktivitäten aufgeben. Auch das Studium geriet in Gefahr, weil eine Frau in den Augen des Ehemannes nach islamischer Vorschrift in das Haus gehöre, ihre Stimme Bestandteil ihres Intimbereiches („Aura“) und der Umgang mit Fremden in gemischten Gruppen islamisch nicht erlaubt sei. Von seiner Mutter in Syrien, die für ihn das vollkommene Bild einer Muslima darstellt, hat er gelernt, wie eine muslimische Frau zu sein hat. Weil die Ehefrau sich nicht ohne weiteres in dieses Bild fügt, kommt es ständig zu Konflikten. Im Sinne unseres Themas können wir hier fragen, ob die traditionell syrische Frau wirklich dem Bild der muslimischen Frau, wie es die Lehre zeichnet oder ob der junge Mann eine regional-spezifische Lebensweise der Frau mit den islamischen Inhalten vermischt.

Ein marokkanisches Mädchen kommt zum Jugendamt, weil der Vater es verprügelt hat. Im darauf fol-genden Gespräch mit dem Vater sagt dieser, als muslimischer Vater müsse er seine Tochter schlagen, damit sie gehorche. Die Sozialarbeiterin, die sonst nicht viel mit dem Islam zu tun hat, bekommt durch dieses Gespräch die Information, dass der Islam nicht nur dem Vater erlaube, seine Tochter zu schlagen, sondern ihn sogar dazu auffordere. Diese Information prägt ihr Bild von der muslimischen Familie. Dass dieser Familienvater eher eine traditionelle Lebensweise führt, die mit dem Islam in vieler Hinsicht unvereinbar ist, ist für die Sozialarbeiterin nicht ohne weiteres erkennbar.

Ein 4-jähriges Kind läßt sich von seiner Erzieherin im Kindergarten auf einmal nichts mehr sagen. Es läßt sich nicht mehr von ihr anfassen und respektiert sie nicht. In einem langen Gespräch sagt das Kind endlich, der Vater habe ihm gesagt, seine Erzieherin sei eine Ungläubige und komme ins Höllenfeuer. Da müsse sie doch böse sein. In seiner Angst, sein Kind könne von einer nichtmuslimischen Erzieherin zu sehr beeinflußt oder sogar missioniert werden, wollte der Vater nur klare Grenzen für das Kind schaffen, wählte dazu jedoch völlig untaugliche Mittel.

Betrachten wir diese Beispiele genau, so lassen sich aus dem Bedingungsgefüge einige grundlegende Faktoren herausarbeiten:

Das Problem der Tradition

Traditionen haben im Leben der Menschen durchaus ihren lebenspraktischen Wert und sind im Zusammenhang mit den jeweiligen Lebensumständen logisch nachvollziehbar. So ist verständlich, wenn sich ein Bauer mehr auf die Geburt eines Sohnes als auf die einer Tochter freut. Ein Sohn kann ihm bei der schweren Feldarbeit helfen, er bedeutet für ihn außerdem eine Stärkung in der oft rivalisierenden Männergesellschaft und, was noch wichtiger ist, seine Altersvorsorge. Ein Mädchen kann ihn erstens nicht so sehr entlasten und zweitens wird sie sowieso irgendwann heiraten und nicht mehr zur Familie gehören.

Schwierigkeiten entstehen besonders dann, wenn diese Traditionen von ihrem Kontext losgelöst weitergelebt werden. Ein Bauer aus Zentralanatolien kann seine Sozialisation nicht einfach abstreifen, nur weil er plötzlich in einer Großstadt in Mitteleuropa lebt. Vergleicht man ihn außerdem mit vergleichbarer deutscher Landbevölkerung, wird man gerade in dieser Hinsicht manche Ähnlichkeiten finden. Das Problem liegt darin, dass der Anatolier für die nichtmuslimische Gesellschaft in erster Linie ein Muslim ist und seine Religion repräsentiert, auch wenn er nicht viel darüber weiß und in vieler Hinsicht sich ganz anders verhält als es die Religion fordert. Große Teile seines Verhaltens werden mit dem Islam assoziiert, viele Mißstände finden somit eine Erklärung.

Nicht die durchdachte und bewußte Verbindung von Religion und Tradition an sich ist ein Problem, sondern die unreflektierte Vermischung beider. Da sich in vielen einzelnen traditionellen Praktiken oder Einstellungen oft ein kleines Fünkchen „islamischer Wahrheit“ findet, ist diese Vermischung so widerstandsfähig. Wenn wir z.B. dem gewalttätigen Ehemann entgegenhalten, dass er seine Frau nicht schlagen darf, so würde er uns auf die bekannte Stelle im Koran verweisen (4:35), die unter bestimmten Umständen in einer bestimmten Art und Weise dem Mann erlaubt, seine Frau zu schlagen. Dass er diese Stelle eigenmächtig und ohne jede Sachkenntnis (fehl-)interpretiert, ändert zunächst an dem Sachverhalt nichts, dass diese Stelle im Koran steht. Ebenso wird der junge Mann, dessen Frau nicht zusammen mit Männern studieren soll, aus dem Koran zitieren, dass auch die Frauen des Propheten (Friede mit ihm) nur hinter einem Vorhang von Männern angesprochen werden durften. Dass dieses Verhalten nur für die Frauen des Propheten galt und unzählige Gegenbeispiele existieren, ist für ihn ebenfalls ohne Belang.

Trotz aller Kritik ist zu betonen, dass Traditionen und Volkssitten wichtige Funktionen haben und nicht grundsätzlich zu kritisieren sind. Der Islam ist nicht im luftleeren Raum entstanden. Die Völker, die ihn angenommen haben, hatten ihre Bräuche und Gewohnheiten, die der Islam nicht ersetzen wollte. Es entstand nicht etwas völlig Neues, sondern die jeweiligen Kulturen wurden durch den Islam lediglich überformt. Auch war der Prophet selbst nicht grundsätzlich gegen Praktiken aus vorislamischer Zeit. Es gab solche, zu denen er sich nicht geäußert hat oder denen er neutral gegenüber stand. Dann gab es welche, die er zu unterlassen empfohlen und wiederum andere, die er strikt verboten hat.

Traditionen sind dann gefährlich, wenn sie andere benachteiligen oder gar menschenverachtenden Charakter erhalten, religiösen Charakter annehmen und dadurch unantastbar werden und mit religiösen Inhalten vermischt werden und somit das Bild des Islam verfälschen.

Migration 

Viele Verhaltensweisen und Gewohnheiten von Muslimen in der nichtislamischen Gesellschaft, die von dieser zwar als eigenartig und befremdend, jedoch typisch für den Islam angesehen werden, gelten selbst in der islamischen Heimat der Migranten als rückschrittlich, verkrustet und inflexibel. Während die Herkunftsgesellschaft sich weiter entwickelt und von bestimmten Traditionen entfernt hat, werden diese bei im Ausland lebenden Muslimen immer noch gepflegt und gleichsam konserviert. Unter Berücksichtigung der Lebensbedingungen der ersten muslimischen Gastarbeiter ist es nicht verwunderlich, dass diese den mitgebrachten Sitten und Traditionen weit größere Bedeutung beimaßen als diejenigen, die in der Heimat geblieben waren, stellten sie doch bei allen Unsicherheiten und Ängsten, die das Leben in der Fremde mit sich brachte, ein Stück Vertrautheit und Geborgenheit dar.

Später wurden dann Frauen und Kinder nachgeholt, oft aus dem Dorf direkt in das westliche Stadtleben. Aus Sorge, die Kinder können von der westlichen Gesellschaft verdorben werden, wurde das Festhalten an althergebrachten Sitten und Dogmen ganz bewußt dazu benutzt, Grenzen zur Außenwelt zu schaffen. Hier liegt einer der Gründe, warum besonders muslimische Migranten der ersten Generation sich weigern, darüber zu reflektieren, welche Bestandteile ihres Handelns der islamischen Lehre entsprechen und welche nicht. Denn würde dabei deutlich, dass vieles eher mit Traditionen zu tun hat, verlören viele ihrer starren Grenzen ihre Legitimation. Das verunsicherte sie um so mehr, als es in Deutschland durch den geringen muslimischen Bevölkerungsanteil und die geringe öffentliche Präsenz des Islam wenig Modelle gibt, wie islamisches Leben hier aussehen kann, der Verlust von Traditionen also immer mit einem Verlust islamischer Identität assoziiert wird.

Nur der Vollständigkeit halber soll an dieser Stelle erwähnt werden, dass natürlich nicht alle muslimische Familien nach diesem Muster leben. Vielen Familien bietet gerade das Leben in der Migration eine wichtige Chance, losgelöst von den Zwängen der heimatlichen Tradition den ursprünglichen Islam wieder zu entdecken und zu den Quellen selbst zurück zu gelangen.

Schichtspezifisches Verhalten

Es darf nicht außer Acht gelassen werden, dass es sich bei den in Deutschland und den westeuropäischen Ländern lebenden Muslime meistens um Arbeitsmigranten handelt, d.h. es geht hier um Menschen, die bereits in der Heimat eine niedrige gesellschaftliche Stellung innehatten oder ein geringes Bildungsniveau besaßen. Hätten sie über eine gesicherte wirtschaftliche und soziale Existenz verfügt, wären nur die wenigsten nach Europa gekommen, um unter oft menschenunwürdigen Arbeitsverhältnissen ihren Unterhalt zu verdienen. Fragen wir nach der Herkunft der Familien, die am meisten das Islam-Bild in der hiesigen Gesellschaft geprägt haben, so stellen wir fest, dass sie meistens aus ländlichen Regionen der Türkei, Marokkos oder Tunesiens kommen.

In den ländliche Gegenden der ärmeren Ländern, sei es in den Ländern Südamerikas, im Süden Europas oder in sog. islamischen Ländern, hat besonders die Landbevölkerung keinen oder nur sehr begrenzten Zugang zum Bildungssystem. Deshalb sind viele aus der ersten Migrantengeneration Analphabeten. Diese Menschen kennen nur die innerhalb des Dorfes überlieferten Glaubensgebote und lebenspraktischen Regeln und wissen sonst nicht viel über den Islam. „Auch die auf dem Land tätigen Religionsgelehrten, unterbezahlt und selbst unwissend (von auswendig gelernten Suren abgesehen)“, (Naggar 1982) können an dieser Situation nichts ändern. Im Gegenteil, sie tragen zur Verkrustung der bestehenden Verhältnisse in hohem Maße bei. Die wirklichen Korangelehrten kommen meist mit den Massen der Bevölkerung nicht in Berührung, d.h. ihre Interpretationen bleiben unbekannt. Das Wissen, das den breiten Massen der Landbevölkerung vermittelt wird, dreht sich meistens um das Verbot des Alkohols, des Zinses, des Glücksspiels und die Anwendung des Erbrechts. Im gottesdienstlichen Bereich sind die Dorf-Imame zufrieden, wenn außer der Einhaltung des Gebets und des Fastens genügend Gläubige zum Freitagsgebet erscheinen. Da die Religion überhaupt im Alltagsleben der Menschen eine große Rolle spielt, gewinnen Traditionen und zufällige Erklärungen schnell religiösen Charakter. Es bleibt viel Raum für phantasievolle Auslegungen und Interpretationen von Ereignissen oder Zuständen, die oft von Aberglaube und magischem Denken geprägt sind.

Eine andere große Gruppe der muslimischen Migranten kommt aus ärmeren Schichten der Stadtbevölkerung mit ebenfalls großen Defiziten an Schulbildung und allgemeiner Bildung überhaupt. Fehlende Bildung ist wiederum der Nährboden für die unreflektierte Übernahme von überlieferten Denkinhalten und Verhaltensmuster. Ein Mann schlägt seine Frau, weil es immer schon so war, dass Frauen geschlagen werden und nicht weil er denkt, dass er als Muslim seine Frau schlagen dürfe.

Ohne diese oder ähnliche Verhaltensweisen zu verharmlosen oder zu rechtfertigen muß dennoch festgehalten werden, dass die Ursachen vieler abzulehnender Praktiken in den Lebensumständen dieser Menschen zu suchen sind, d.h. es geht hier um schichtspezifische Verhaltensmuster und weniger um die islamische Lehre. Dieselben Mißstände, die vorschnell auf den Islam zurückgeführt werden, finden sich beim genauen Hinsehen auch bei Menschen anderer Religionen und Glaubensrichtungen unter vergleichbaren gesellschaftlichen Lebensumständen.

Regionalspezifisches Verhalten

Bei vielen für islamisch gehaltene Lebenspraktiken handelt es sich in bei näherer Betrachtung um regionalspezifische Sitten und Gebräuche. Dieses gilt insbesondere für frauenunterdrückende Maßnahmen wie rigide soziale Kontrolle, Einstellung zur weiblichen Ehre oder benachteiligende Geschlechtsrollenverteilung. Diese und ähnliche Verhaltensmuster gelten für bestimmte Regionen und werden dort unabhängig von der Religionszugehörigkeit praktiziert. So unterscheidet sich z.B. die Einstellung zur weiblichen Ehre mit allen sich daraus ergebenden Folgen für die Lebenspraxis in den ländlichen Gegenden Siziliens oder Andalusiens mit katholischer Bevölkerung kaum von denen in Marokko oder Algerien, wo überwiegend Muslime leben.

Die Praxis der Frauenbeschneidung ist ein weiteres Beispiel. In einigen afrikanischen Ländern wurde sie schon in vorislamischer Zeit durchgeführt und ist keinesfalls islamisch. Soweit sie heute vorkommt, wird sie nicht nur von Muslimen durchgeführt, sondern von allen in einer bestimmten Gegend lebenden Menschen, so z.B. auch von koptischen Christen in Ägypten. Angehörige beider Religionen unterscheiden sich bis auf rein religiöse Praktiken kaum in ihren Traditionen und Gewohnheiten.

„Gastarbeiter-Islam“

Eine andere Quelle der Vermischung von Glaubenssätzen und Traditionen, die falsche und irreführende Vorstellungen vom Islam erzeugt, stellt der sog. „Gastarbeiter-Islam“ dar, wie sie ihn Pinn und Wehner (1995) treffend nennen.

Abgesehen von den Bedingungen ihrer regionalen Herkunft und Ängsten, sich von ihren Traditionen und Gewohnheiten in der Fremde zu trennen, bietet das Gastarbeitermilieu sicherlich „keinen günstigen Nährboden für die Entfaltung von Philosophie, Kunst und Wissenschaft einer islamischen Hochkultur“ (Pinn und Wehner 1995). Statt dessen orientieren sich die vom wirtschaftlichen Existenzkampf, schlechten Arbeitsbedingungen wie Schichtarbeit, extrem langen Arbeitszeiten und körperlichen Anstrengungen geprägten Migranten an einfachen Glaubensformeln und überkommenen Ansichten, die sie mit dem Islam vermischen. Hinzu kommen der trotz Fleiß und Mühe zumeist weiterhin niedrige Sozialstatus, die gesellschaftliche Diskriminierung und der zunehmende Rassismus. Es liegt auf der Hand, dass eine solche Lebenssituation keinen Raum für eine distanzierte und kritische Auseinandersetzung mit den eigenen Verhaltensweisen und Einstellungen bietet.

Repressive Staatsideologien sogenannter islamischer Länder

Überall in den muslimischen Ländern erleben wir, dass jedes Bemühen nach Wiederbelebung der ursprünglichen islamischen Lehre im Keim erstickt wird. Der jeweils „offizielle“ Islam ist geprägt von den Interessen und Ansprüchen der herrschenden Schichten, die die Religion dazu benutzt, ihre gesellschaftliche Machtstellung zu festigen. Dem Volk wird genau vorgeschrieben, was es als Islam verstehen darf und was nicht. Allein in Marokko, das sich als islamischer Staat mit dem König als Amir (Führer) der Gläubigen versteht, sitzen Tausende von Menschen aus politischen Gründen im Gefängnis, die nichts anderes begangen haben, als öffentlich abweichende Ansichten über den Islam zu vertreten. Dabei dient die Erhaltung traditioneller Denkinhalte und Ansichten nicht selten dazu, dass Volk in Unmündigkeit und Abhängigkeit zu halten. Das gilt besonders für die Unterdrückung der Frauen.

Dieses Phänomen ist allerdings nicht nur für die sogenannten islamischen Länder typisch. Schon immer wurde in der Geschichte der Menschheit die Religion dazu mißbraucht, Völker zu beherrschen und unter Kontrolle zu halten. Die Geschichte der Staaten Europas bietet genügend Beispiele, wobei nach der Säkularisierung an die Stelle der Religion Staatsideologien wie z.B. der Kommunismus traten, die einen quasi-religiösen Charakter erhielten. Im Sinne des Marxschen Wortes, dass die Religion das Opium des Volkes sein, wird aus naheliegenden Gründen besonders in Zeiten sozialer, politischer und wirtschaftlicher Mißstände die Religion zur Stabilisierung bestehender Verhältnisse eingesetzt. Ein fehlendes oder defizitäres Bildungssystem tut ein Übriges, und so führen solche Situationen dazu, dass die Stärkeren Schwächere unterdrücken, sei es der König seine Untertanen, der Fabrikant seine Arbeiter, der Ehemann seine Frau oder der Bruder seine Schwester. Diese Tendenz macht deutlich, warum islamische Regeln, die der Frauen eher Pflichten auferlegen, herauskristallisiert und ausgebaut werden und Regeln, die Frauen Rechte einräumen und Männern Pflichten auferlegen, vergessen oder ignoriert werden. Hier liegt mit ein Grund dafür, warum der türkische Junge eine Freundin haben darf und seine Schwester keinen Freund, obwohl der Islam sowohl Männern wie auch Frauen außereheliche Beziehungen verbietet.

Mangel an Ijtihad[1]

Ein weiterer wichtiger Bedingung für die Mißstände in der islamischen Welt ist die Auffassung vieler Muslime, dass die zeit- und ortsgebundene Interpretation des Korans und der Sunna ohne weiteres auf beliebige Lebensumstände oder -situationen übertragbar sind. Bekanntlich ist die Sunna in einem geschichtlichen Kontext entstanden. Genauso hatten auch die Rechtsschulen einen bestimmten historischen Hintergrund. Die Rechtsgelehrten früherer Jahrhunderte brachten ohne Zweifel große Fortschritte für das Verständnis der islamischen Lehre, doch auch sie sind Kinder ihrer Zeitepoche. Auch sie haben die Kernquellen des Islam in einer bestimmten Art und Weise wahrgenommen. Daher läßt sich ihre Auslegung der islamischen Quellen nicht einfach ohne weiteres auf die heutigen Lebensverhältnisse muslimischer Familien in Mitteleuropa übertragen. Dinge, die in der damaligen Lebenssituation wichtig waren und daher im Vordergrund ihres Interesses standen, sind heute nicht mehr in dem Maße von Bedeutung oder sogar nur noch von historischem Interesse.

Ein weiteres Problem heutiger Muslime ist, dass z.B. Lehren und Auslegungen ägyptischer und saudi-arabischer Gelehrter haargenau auf das Leben der Familien in Mitteleuropa übertragen werden, auch wenn klar ist, dass die Gelehrten die Lebenssituation dieser Familien überhaupt nicht kennen. So wird aus einem flexiblen, menschennahen Islam ein starres Gebilde, das den Menschen das Leben u. U. eher erschwert als erleichtert. Den Familien wäre dagegen viel geholfen, würden die Gelehrten zu den ursprünglichen Quellen zurückkehren und eine Auslegung betreiben, die den Anforderungen ihres tatsächlichen Lebens entspräche. Statt dessen wird oft der Ijtihad früherer Gelehrte mit den Kernquellen des Islam vermischt und deren Versuche, den Koran gemäß ihrer Lebensumstände zu interpretieren, zu unantastbaren Glaubensregeln gemacht. So mag das in Saudi-Arabien bestehende und mit dem Islam begründete Fahrverbot für Frauen zu einer Zeit, als es weder Handy noch Abschleppdienst gab, vielleicht einen Sinn gehabt haben, diesen Sachverhalt jedoch auf das Leben der muslimischen Frau in der heutigen Zeit zu übertragen ist nicht nur unsinnig, sondern für die Frau mit den Anforderungen, die das Leben an sie stellt, geradezu eine Schikane.

Differenzierter Umgang mit der Erscheinungsform des Islam ist jedoch nicht nur auf Seiten der Muslime erforderlich, sondern ebenfalls auf der Seite der westlichen Gesellschaft. Denn erst wenn diese aufhört, eine Polarisierung zwischen der „abendländischen Zivilisation“ und dem „rückständigen Islam“ zu betreiben, erst wenn der Westen nicht mehr versucht, alle Ursachen für Mißstände in islamischen Familien auf den Islam selbst zurückzuführen, die Augen jedoch vor parallelen Fehlentwicklungen in der eigenen Gesellschaft verschließt, erst wenn zur eigenen psychischen Entlastung nicht mehr alles Negative auf den Islam projiziert und daher die Notwendigkeit übersehen wird, sich selbstkritisch zu betrachten, kann sich an den Mißverständnissen und Unklarheiten über den Islam und damit an der Haltung der Muslime gegenüber etwas ändern.

Literatur

El-Naggar, Ahmed: Zinslose Sparkassen. Ein Entwicklungsprojekt im Nildelta. Köln: Al-Kitab-Verlag 1982.

Pinn, Irmgard; Wehner, Marlies: EuroPhantasien. Die islamische Frau aus westlicher Sicht. Duisburg: DISS 1995.

Ramadan, Said: Das islamische Recht. Theorie und Praxis., Wiesbaden: Otto Harrassowitz 1980.

[1] Ijtihad bedeutet „sich mühen“ oder „sich anstrengen“. Es handelt sich um ein Prinzip der islamischen Rechtslehre, nach dem der Gelehrte durch selbständige Meinungsbildung zu einer Rechtsauffassung gelangt (Ramadan, 1980).