Nicht alle Ehen sind gleich:

Islamische Ehe, Ehe auf Zeit, heimliche Ehe und polygame Ehe

Muhammad A. Fadel

übersetzt von Dr. Ibrahim Rüschoff

Einführung zum Artikel „Nicht alle Ehen sind gleich!“ von Mohammad H. Fadel:

Der Artikel befasst sich mit Bestimmungen zur Ehe aus der Perspektive des islamischen Rechts, d.h. den Regelungen zur Eheschließung der vier sunnitischen Rechtsschulen, die bis heute für die Mehrheit der Muslime orientierungsgebend sind. Diese Regelungen setzt der Autor in Beziehung zum Ethos der Ehe, wie es aus dem Koran hervorgeht. Sein zentrales Anliegen ist die Unterscheidung von Ehen und Scheinehen, die – möglicherweise – formal korrekt geschlossen wurden, aber dennoch den Zielsetzungen der Ehe widersprechen. Darüber hinaus problematisiert er die polygame Ehe, die islamrechtlich zwar zulässig ist, im gegenwärtigen Kontext in den meisten Fällen aber ebenfalls dem Ethos der Ehe zuwiderläuft. Die hier besprochenen Arten von Scheinehen in Form von heimlichen und/oder Zeitehen sowie polygame Ehen sind Phänomene, die auch in Deutschland zu beobachten sind und dieselben Probleme hervorrufen, die Fadel beschreibt. Es gibt in Deutschland Akteure im islamischen Feld, die Zeitehen eingehen oder für andere schließen, ohne dies in der Öffentlichkeit zu thematisieren; andere propagieren auch öffentlich die Zeitehe und arbeiten somit auf eine Normalisierung dieser Form der Scheinehe hin. Was Fadel über die amerikanischen Verhältnisse sagt, kann daher auf den deutschen Kontext übertragen werden. Für Personen, die mit solchen Phänomenen konfrontiert sind, ist es wichtig zu verstehen, dass diese Scheinehen nicht nur aus der Perspektive eines zeitgenössischen Verständnisses von Ehe und Partnerschaft und deren Zielsetzungen, sondern auch aus der des islamischen Rechts nicht zu tolerieren sind.

Nicht berücksichtigt wird im Artikel die staatliche bzw. zivilrechtliche Ebene. Eine islamische Heirat gilt für Muslime zwar unabhängig von der Heirat vor dem Standesamt. Dennoch machen die meisten Moscheen inzwischen eine standesamtliche Eheschließung zur Voraussetzung, um eine Ehe auch islamisch zu schließen – so auch in Deutschland. Dies geschieht genau aus dem Grund, um den Missbrauch einer rein islamischen Eheschließung zu vermeiden, da diese keine zivilrechtliche Wirkung entfaltet.

Artikel „Nicht alle Ehen sind gleich!“ von Mohammad H. Fadel:

Jeder, der in eine typische muslimische Familie hineingeboren wird, kann sich der zentralen Stellung nicht entziehen, die die Ehe im Konzept eines guten muslimischen Lebens einnimmt. In der muslimischen Volkskultur wird der Ehe eine solche religiöse Bedeutung beigemessen, dass sie oft als „die Hälfte der Religion“ beschrieben wird, eine Ansicht, die von einem bekannten Hadith des Propheten (s) abgeleitet ist, in dem er gesagt haben soll: „Wer heiratet, hat die Hälfte seines Glaubens vollendet, also soll er in der verbleibenden Hälfte Gott fürchten.“ [1] Auch kann niemand den Koran studieren ohne zu erkennen, welche Bedeutung er der Ehe beimisst. Ein wesentlicher Teil der koranischen Gesetzgebung ist der Reform der vorislamischen arabischen Familie gewidmet. Auch wird die eheliche Liebe als ein Zeichen des Göttlichen erwähnt, [2] außerdem hat die Ehe mit dem Versprechen Gottes, dass die Gläubigen mit ihren Ehepartnern und Kindern im nächsten Leben wiedervereint sein werden, ein transzendentes Element. [3]

Aber die Ehe ist auch eine weltliche Institution und ein Ort säkularer Interessen. Sie bietet die Legitimation für Geschlechtsverkehr, Fortpflanzung und Kindererziehung sowie die überzeitliche und transgenerationale Weitergabe von Vermögen und Einkommen innerhalb der Familie. Das islamische Recht, mit dem ich die Regelungen der Ehe in den Traktaten der verschiedenen Rechtsschulen meine (d.h. der hanafītischen, mālikītischen, schāfiʿītischen, hanbalītischen und dschaʿfarītischen Rechtssschule), befasst sich fast ausschließlich mit der weltlichen Regelung dieser Beziehung. Für einen Muslim, der seine Religion nur oberflächlich kennt, ist es sehr leicht möglich, die gesetzlichen Regeln, die die Ehe als weltliche Institution im Islam regeln, mit den Idealen über die Ehe als religiöse Institution zu verwechseln. Wenn eine solche Verwechslung vorliegt, können selbst gültig geschlossene Ehen zumindest aus religiöser Sicht mangelhaft und im schlimmsten Fall unmoralisch sein und kaum mehr als einen Vorwand für unerlaubten Sex darstellen.

Das islamische Recht versucht innerhalb der Grenzen dessen, was der menschlichen Vernunft zugänglich ist, Ehen, die die islamischen Zwecke der Ehe zu erfüllen suchen, von Scheinehen zu unterscheiden, die den Rahmen der Ehe nutzen, um ein islamisch unerlaubtes Ziel zu erreichen. Zwei häufige Formen von Scheinehen sind die Zeitehe (mutʾa) und die heimliche Ehe (zawāj al-sirr). Aus verschiedenen Gründen, von denen einige im Folgenden erörtert werden, sind diese Praktiken in vielen muslimischen Gesellschaften nicht unbekannt. Und da amerikanische Muslime in größeren Kontakt mit der weltweiten muslimischen Gemeinschaft gekommen sind, ist das Wissen um diese Praktiken in das kollektive Bewusstsein der muslimischen Gemeinschaft gesickert. Von Zeit zu Zeit hört man anekdotische Geschichten von Männern, die sich heimlich eine zweite Frau nehmen oder vorübergehende Ehen eingehen. Geheime Ehen werden trotz intensiver Bemühungen des Paares unweigerlich entdeckt, mit oft verheerenden Folgen für die erste Frau und ihre Kinder. Angesichts der schwerwiegenden Folgen geheimer Ehen und ihrer umstrittenen Position innerhalb der sunnitischen Tradition [4] ist es für uns als Gemeinschaft von entscheidender Bedeutung zu verstehen, warum muslimische Institutionen in Nordamerika eine klare öffentliche Haltung gegen die Legitimität dieser geheimen Ehen einnehmen müssen.

Sowohl eine Ehe auf Zeit als auch eine geheime Ehe verstoßen gegen das grundlegende koranische Ethos der Ehe.

Der Qur‘an unterscheidet zwischen drei verschiedenen Arten von intimen Beziehungen, von denen er nur eine gutheißt. Er billigt eine dauerhafte Ehe, in der sowohl der Mann als auch die Frau heiraten, um Tugend und Reinheit zu erreichen. Diesen Wunsch nach Tugend und Reinheit verwendet der Koran, um ihre Beziehung von zwei anderen Arten von intimen Beziehungen zu unterscheiden, die er verurteilt. Die erste ist eine, bei der der Mann die Frau für eine einmalige sexuelle Begegnung bezahlt, nach der es ihr frei stand, ähnliche Geschäfte mit anderen Männern einzugehen. Am anderen Ende des Spektrums unterhalten ein Mann und eine Frau eine geheime Beziehung, in der der Mann die Frau unterhält und sie zustimmt, nur mit ihm Sex zu haben. [6]

Da es für einen außenstehenden Beobachter schwierig sein kann, zwischen diesen drei Arten von intimen Beziehungen zu unterscheiden, hat das islamische Recht zahlreiche objektiven Anhaltspunkte festgelegt, die einer legalen Ehe vorausgehen, um objektive Anzeichen dafür zu liefern, dass die Parteien von dem Wunsch nach Reinheit und nicht von etwas Unerlaubtem (z. B. dem Handel mit Sex gegen Geld oder der unentgeltlichen Befriedigung von Begierde) motiviert werden. Nach dem Koran und dem Beispiel des Propheten (Friede sei mit ihm) sollte das Paar die Erlaubnis der Familie der Braut einholen, außerdem muss der Ehemann der Braut ein Heiratsgeschenk (mahr) machen und zwei Zeugen müssen die Verbindung bezeugen. Bräuche, die nicht vorgeschrieben sind, aber empfohlen werden, da sie die guten Absichten der Parteien unterstreichen, sind eine Predigt zum Zeitpunkt der Eheschließung und die Ausrichtung einer öffentlichen Feier der Eheschließung. [7]

Obwohl nur Gott die Absichten des Einzelnen kennt, sind sich die sunnitischen Rechtsgelehrten einig, dass jeder Ehevertrag nichtig ist, der ausdrücklich ein Enddatum für die Ehe festlegt. [8] Dies liegt darin begründet, dass für sunnitische Rechtsgelehrte dauerhafte Intimität ein grundlegender Zweck der Ehe ist.

Das Bekenntnis zur unbefristeten Natur der Ehe ist eine praktische Folge aus der Forderung des Korans, dass das Paar Keuschheit anstrebt, was den ehelichen Sex von unerlaubtem Sex unterscheidet.

Der Ehevertrag ist jedoch nur dann ungültig, wenn das Paar in seinem Ehevertrag ausdrücklich ein Enddatum für seine Verbindung festlegt. Wenn z.B. ein Mann im Ausland heiraten möchte, aber plant, nach einer bestimmten Zeit in seine Heimat zurückzukehren, möchte die Frau, die er heiratet, nicht in sein Heimatland ziehen. Der Mann und die Frau können stillschweigend vereinbaren, dass sie, falls und wenn er nach Hause zurückkehrt, nicht mit ihm gehen wird und sie sich stattdessen scheiden lassen werden. Trotz der Indizien, die darauf hindeuten, dass die Parteien in diesem Fall ihre eigene Scheidung in Erwägung ziehen, überlassen die sunnitischen Rechtsgelehrten die Frage nach dem rechten Glauben der Eheleute Gott. Sie gehen davon aus, dass die Absichten der Eheleute zum Zeitpunkt der Eheschließung zwar den islamischen Zielen der Ehe widersprechen, dass sich ihre Absichten aber nach der Eheschließung ändern können. Unter den sunnitischen Rechtsgelehrten ist es daher unumstritten, dass jeder Ehevertrag, der eine ausdrückliche Klausel enthält, nichtig und sündhaft ist.

Geheime Ehen stellen aus der Perspektive der traditionellen sunnitischen Lehre eine schwierigere Frage dar. Eine geheime Ehe ist eine Ehe, die alle formalen Anforderungen einer Ehe erfüllt, insofern beide Parteien der Ehe zustimmen, die Frau die Mahr erhält, es Zeugen gibt und die Zustimmung des Vormunds eingeholt wird, aber die Parteien vereinbaren, dass sie die Tatsache dieser Ehe vor anderen verbergen. Die sunnitischen Rechtsgelehrten sind sich über die Gültigkeit einer solchen Ehe uneinig. Diejenigen, die der hanafītischen und der schāfiitischen Rechtsschule angehören, halten solche Ehen für gültig, da alle vertraglichen Anforderungen erfüllt sind, auch wenn nur die Vertragsparteien von der Verbindung wissen. Die Mālikīten halten diese Ehen für rechtlich nichtig und bestrafen alle Parteien eines solchen Vertrages, d.h. den Ehemann, die Ehefrau, den Vormund und die Zeugen. Darüber hinaus handelt es sich nach Ansicht der Mālikīten auch dann um eine geheime Ehe, wenn die Vereinbarung darin besteht, die Ehe vor nur einer einzigen Person geheim zu halten, und sie ist daher sowohl unmoralisch als auch rechtlich ungültig.

In der letzten Generation hat sich das Phänomen der geheimen Ehen in der muslimischen Welt, insbesondere unter Arabern, weiter verbreitet. Die Menschen haben unterschiedliche Motive, diese Art von Ehe einzugehen. Witwen fürchten zum Beispiel den Verlust ihrer Rentenansprüche, wenn der Staat erfährt, dass sie wieder geheiratet haben. Verliebte im College-Alter hingegen können sich die Mittel zum Heiraten vielleicht nicht leisten oder eine oder beide Familien missbilligen ihre Beziehung, und so schließen sie eine heimliche Ehe, um die Einwände der Familie zu umgehen. Ein Mann möchte vielleicht eine zweite Frau heiraten, aber weder er noch die zweite Frau möchten, dass die erste Frau davon erfährt. Da in manchen Ländern wie z. B. Ägypten die erste Frau benachrichtigt wird, wenn der Mann eine zweite Frau heiratet, greift das Paar auf eine geheime Ehe zurück. Befürworter dieser Art von Ehe behaupten, dass sie Frauen, die sonst nicht in der Lage wären, eine vollwertige Ehe einzugehen, oder die sich vielleicht nicht mit den Anforderungen einer vollwertigen Ehe auseinandersetzen wollen, ermöglicht, ihre persönlichen Interessen in einem erkennbar islamischen Rahmen zu verfolgen. Sie räumen ein, dass die Praxis nicht ideal ist, verurteilen sie aber nicht als sündhaft.

Wenn wir ein Argument gegen geheime Ehen anführen, müssen wir bedenken, dass die Ehe im Islam viele verschiedene Ziele verfolgt, und das aus vielen verschiedenen Perspektiven. Das erste ist das Glück der Partner in der Beziehung. Der Islam strebt natürlich das persönliche Glück der Ehepartner an. In der Tat ist das genau der Grund, warum die Ehe die Zustimmung beider Parteien erfordert, und warum die Scheidung für den Fall, dass die Ehe eine Ursache für Unglück ist, immer eine Option sein muss. Es besteht kein Zweifel, dass eine geheime Ehe die Ziele der Individuen in dieser Beziehung fördert und ihnen ein gewisses Maß an Befriedigung und Zufriedenheit bringt, sonst würden sie sich nicht darauf einlassen. Aber das islamische Recht erkennt das persönliche Glück nicht als das einzige relevante Anliegen in einer islamischen Ehe an.

Dementsprechend ist das zweite Ziel der Ehe das, was man als deren soziale Funktion bezeichnen könnte, nämlich eine stabile und glückliche muslimische Gemeinschaft hervorzubringen und zu reproduzieren. Aus diesem Grund regelt das islamische Recht die Ehe, indem es Formalitäten wie eine Mitgift (mahr), die Beglaubigung durch Zeugen und die Erlaubnis eines Vormunds vorschreibt. Das islamische Recht regelt die Ehe außerdem, indem es muslimische Männer darauf beschränkt, ausschließlich Angehörige der sog. Schriftbesitzer zu heiraten und muslimische Frauen auf muslimische Ehemänner beschränkt. In der Tat ist die soziale Dimension der Ehe so wichtig, dass einige muslimische Rechtsgelehrte wie Imām Mālik muslimischen Männern, die in nichtmuslimischen Ländern leben, verboten, Angehörige der Schriftbesitzer zu heiraten, die ansonsten legitime Ehepartner wären, aus Angst, dass ihre Kinder nicht als Muslime erzogen werden könnten. Es ist zu beachten, dass die Vorschriften, die die soziale Funktion der Ehe fördern sollen, dem obersten Ziel dienen: dem Glück von Mann und Frau. Werden die Formalitäten eingehalten und die Rechte öffentlich anerkannt, verringert sich das Risiko von Missbrauch oder Vernachlässigung. Wenn die Parteien einer Ehe sicher sind, dass ihre Rechte der Gemeinschaft bekannt sind, befinden sie in einer besseren Position, da sie darauf vertrauen können, dass ihr Partner ihnen diese Rechte gewähren wird und sei es nur aus Angst, in der Gemeinschaft in Ungnade zu fallen. In der Tat hilft die öffentliche Verpflichtung, diese Rechte zu respektieren dabei, auch die eigenen Pflichten in einer Ehe zu verinnerlichen. Daher behindert die öffentliche Kenntnis und Anerkennung einer Ehe nicht das langfristige persönliche Glück eines Paares, sondern sichert und stärkt es vielmehr.

Das dritte und höchste Ziel der islamischen Ehe besteht darin, Liebe und Barmherzigkeit zu praktizieren, indem man einander mit Freundlichkeit und Zuneigung behandelt, eine neue Generation muslimischer Kinder in einem liebevollen Zuhause aufzieht und Bande der Solidarität zwischen den Großfamilien von Mann und Frau schafft. Wenn wir das Phänomen der geheimen Ehen im Lichte der islamischen Ziele für die Ehe betrachten, sollte es offensichtlich sein, dass eine Vereinbarung, eine Ehe vor einer anderen Person, einigen Menschen oder der gesamten Welt außer den am Vertrag Beteiligten geheim zu halten, jedes der islamischen Ziele für die Ehe untergräbt. Während es vielleicht das persönliche Glück der Ehepartner fördert, insofern es ihre unmittelbare Befriedigung erleichtert, ist es unwahrscheinlich, dass es dieses auch auf lange Sicht tut, und daher ist es unvereinbar mit dem göttlichen Ziel für die Ehe, nämlich, dass sie zu dauerhafter Intimität führt. Es ist auch wichtig zu beachten, dass eine heimliche Ehe dem Verbot im Koran, sich heimliche Geliebte zu nehmen, sehr ähnlich ist. [9] Selbst wenn ein Paar sich die Mühe macht, die formalen Anforderungen eines Ehevertrags zu erfüllen, die beiden dann aber die Verbindung vor der Öffentlichkeit verbergen, kommen sie der Art von geheimer Beziehung, die der Koran verbietet, gefährlich nahe.

Wenn eine geheime Ehe auch noch polygam ist, werden die Gefahren noch größer. Erstens ist eine solche Ehe ein prima facie-Verstoß gegen das islamische Gebot der Gleichbehandlung weiterer Ehefrauen, und sei es nur, weil die zweite, heimliche Ehefrau von der Existenz der ersten Frau weiß, während die erste Frau bzgl. der Existenz der zweiten unwissend bleibt. Zweitens geben der Ehemann und seine zweite Frau durch die heimliche Heirat einer zweiten Frau im Wesentlichen zu, dass ihre Beziehung die erste Frau unglücklich machen würde, und so untergräbt sie eines der drei Ziele der islamischen Ehe – beiden Ehepartnern Glück zu bringen. Drittens verletzt eine geheime, polygame Ehe die Rechte der ersten Frau, denn im Rahmen einer polygamen Ehe genießt sie, zumindest nach der malikitischen Rechtsschule, erhöhte Rechte in Bezug auf den Zugang zu ihrem Mann. Wenn sie jedoch nichts von seiner zweiten Frau weiß, ist sie offensichtlich nicht in der Lage, diese Rechte wahrzunehmen. [10] Viertens, und das ist für die nordamerikanische muslimische Gemeinschaft vielleicht am bedeutsamsten, führt die Entdeckung der heimlichen Ehe fast unweigerlich zum Scheitern der ersten Ehe und schadet den Kindern aus dieser Ehe, die über das Verhalten ihres Vaters verwirrt sind, insbesondere wenn sie ihn als religiösen Muslim kennengelernt haben, und der, sobald er entdeckt wird, oft versuchen wird, sein Verhalten auf der Grundlage des Islam zu verteidigen. Dies ist besonders schädlich für muslimische Kinder in Nordamerika, die oft große Mühe haben, sich an die islamischen Normen der Keuschheit zu halten. Wenn sie Erwachsene sehen, die sich in einer Weise verhalten, die sie als zügellos empfinden, schwächt dies verständlicherweise ihre Entschlossenheit, sich an die islamischen Lehren zu halten. Es kann auch destruktiv für das Wohlergehen der heimlichen Ehefrau sein, besonders wenn die heimliche Ehefrau eine Konvertitin ist, mit geringen sozialen Bindungen zur Gemeinde oder jung und die Ehe mit einem älteren Mann ohne das Wissen ihrer Familie eingegangen ist.

Einige Muslime, insbesondere diejenigen, die an geheimen Ehen beteiligt sind, werden jedoch behaupten, dass der einzige Grund dafür sei, dass die erste Frau, die normalerweise von der Gemeinschaft unterstützt wird, sich weigere, eine polygame Ehe zu akzeptieren. Sie argumentieren, dass diese Weigerung ein unislamisches Verhalten ihrerseits sei, da ein Mann vier Frauen gleichzeitig haben dürfe und entschuldigen damit die geheime Natur der Beziehung. Wenn nur die erste Frau nachgeben und die polygame Beziehung akzeptieren würde, gäbe es keine Notwendigkeit für die Geheimhaltung.

Zunächst einmal missversteht eine solche Position eindeutig die Haltung des Islam zu polygamen Ehen.

Es ist schlicht falsch aus der Tatsache, dass der Koran und das Beispiel des Propheten (Friede sei mit ihm) eine Handlung nicht als verboten ansehen, sicher zu schließen, dass es vollkommen in Ordnung ist, die fragliche Handlung zu vollziehen.

Die islamische Ethik besteht aus fünf Kategorien – obligatorisch, empfohlen, erlaubt, missbilligt und verboten. Die Heirat eines Mannes mit einer zweiten Frau fällt normalerweise in die ethische Kategorie des Missbilligten, nicht in die des Erlaubten. [11] Tatsächlich warnt der Koran, nachdem er den Männern die Erlaubnis erteilt hat, bis zu vier Frauen zu heiraten, ausdrücklich davor, dass ein Mann monogam bleiben sollte, wenn er befürchtet, dass er seinen Frauen gegenüber nicht fair sein wird. [12] Der Koran stellt weiter fest, dass es für Männer unmöglich ist, mit mehreren Frauen gerecht umzugehen, selbst wenn sie ihr Äußerstes versuchen, und dass ein Mann, anstatt sich von einer Frau abzuwenden, um eine andere zu heiraten, seine Beziehung zu ihr verbessern und auf Gott bedacht sein sollte.

Zusätzlich zu der klaren Aussage des Koran raten auch gut überlieferte Beispiele aus dem Leben des Propheten (Friede sei mit ihm) davon ab, eine zweite Frau zu heiraten. Imām Bayhaqī berichtete in seinem Buch Schiʿab al-Īmān mit Bezug auf die Autorität von Abū Hurayra, dass der Prophet (Friede sei mit ihm) sagte: „Wer auch immer zwei Frauen hat und einer von ihnen zugeneigt ist, wird am Tag der Auferstehung vor Gott kommen, mit der Hälfte seines Körpers gebeugt.“ Polygamie ist also nicht etwas, dem der Islam gleichgültig gegenübersteht, wie die Behauptung vermuten lassen könnte, dass sie erlaubt ist. Vielmehr hält der Islam sie unter den besten Umständen für eine zu missbilligende Praxis. Wenn die zweite Ehe dazu heimlich geschlossen wird, geht sie über die Missbilligung hinaus und betritt den Bereich des Verbotenen, wie die Mālikīten argumentiert haben. Wie bereits besprochen, hat ein Mann, der eine zweite Frau heiratet, ohne diese Tatsache seiner ersten Frau mitzuteilen, der zweiten Frau gegenüber bereits Parteilichkeit gezeigt, einfach aufgrund der Tatsache, dass die zweite Frau von der ersten Frau weiß, während die erste Frau über die zweite im Dunkeln bleibt, ganz zu schweigen von all den anderen schädlichen Auswirkungen, die geheime Ehen auf Ehepartner und ihre Kinder haben. [13]

Die Position, die der ersten Frau die Schuld für die Geheimhaltung der zweiten Ehe gibt, geht auch fälschlicherweise davon aus, dass eine muslimische Frau moralisch verpflichtet sei, einer zweiten Frau willfährig zuzustimmen. Dies steht im Widerspruch zum islamischen Recht und zur historischen muslimischen Praxis. Der Prophet Muḥammad (Friede sei mit ihm) selbst hat ʿAlī b. Abī Ṭālib daran gehindert, eine zweite Frau zu nehmen, während er mit Faṭima verheiratet war, weil sie stark dagegen war. [14] Unter den Muslimen der nachprophetischen Generation war es gängige Rechtspraxis, dass muslimische Eheverträge Klauseln zugunsten der Ehefrau enthielten, die ihr das Recht auf Scheidung einräumten. [15] Obwohl Imām Mālik solche Vereinbarungen missbilligte, waren sie nicht ḥarām und gerichtlich durchsetzbar. Dementsprechend handelt eine muslimische Frau nicht sündhaft, wenn sie sich weigert, einer zweiten Frau zuzustimmen. Da ihr Einwand, in einer polygamen Beziehung zu leben, nicht unrechtmäßig ist, kann er kaum als Entschuldigung dafür dienen, die zweite Ehe des Ehemanns vor ihr zu verbergen.

Die muslimischen Gemeinden in Nordamerika müssen öffentlich einen strikten Standpunkt gegen die Praxis der geheimen Ehen einnehmen. Obwohl wir hoffen, dass die Gerüchte über ihr häufiges Auftreten kein Abbild der Wirklichkeit sind, müssen die Führer der muslimischen Gemeinden diese Praxis anprangern, bevor sie in unseren Gemeinden Wurzeln schlägt und das muslimische Familienleben unter dem Deckmantel der Treue zum Islam verwüstet. Wir beten inständig zu Gott, dass er unseren Gemeinschaften eine Führung schenkt, die mutig genug ist, diese Probleme öffentlich anzusprechen und sich entschieden dagegen zu stellen.

 

Mohammad H. Fadel ist außerordentlicher Professor an der Juristischen Fakultät der University of Toronto, der er seit Januar 2006 angehört. Während seines Studiums an der University of Chicago schrieb er seine Doktorarbeit über Rechtsprozesse im mittelalterlichen islamischen Recht. Professor Fadel wurde im Jahr 2000 als Anwalt in New York zugelassen und praktizierte bei der Kanzlei Sullivan & Cromwell LLP in New York, wo er an einer Vielzahl von Unternehmensfinanzierungstransaktionen und wertpapierbezogenen regulatorischen Untersuchungen arbeitete. Professor Fadel wirkte auch als Rechtsreferendar für den ehrenwerten Paul V. Niemeyer vom United States Court of Appeals for the 4th Circuit und den ehrenwerten Anthony A. Alaimo vom United States District Court for the Southern District of Georgia. Professor Fadel hat zahlreiche Artikel in den Bereichen islamische Rechtsgeschichte und Islam und Liberalismus veröffentlicht.

Endnoten:

[1] http://www.dorar.net/h/7267babbcdaf6ebc6ebff16eb09d19ff.

[2] Al-Rūm, 30:21 („Und zu Seinen Zeichen gehört, dass Er für euch aus eurer Mitte Gattinnen erschaffen hat, bei denen ihr Ruhe findet, und Er hat zwischen euch Liebe und Zärtlichkeit geschaffen. Darin sind Zeichen für ein Volk, das aufmerksame Überlegungen anstellt.“).

[3] Siehe z. B. al-Baqara, 2:25; al-Nisāʾ, 4:57; al-Raʿd, 13:23; und Yā Sīn, 36:56. In der Tat beschrieb Ibn ʿĀbidīn, der große hanafitische Damaszener Rechtsgelehrte des 19. Jahrhunderts, die Ehe zusammen mit dem Bekenntnis zur Einheit Gottes als den einzigen Akt der Hingabe, der im nächsten Leben fortbesteht.

4] Die sunnitischen Rechtsschulen sind die Ḥanafīten, Mālikīten, Schāfiʿīten und Ḥanbalīten. Die wichtigste Rechtsschule der Schīʿa ist die dschaʿfarītische Schule.

[5] Siehe z.B. al-Nisāʾ, 4:24-25 und al-Māʾida, 5:5.

[6] Der Begriff des Korans für die erste geschlechtliche Beziehung ist sifāḥ. Er verwendet die Formulierung „sich keinen heimlichen Liebhaber nehmen (ghayr muttakhidhī akhdān)“, um sich auf die zweite Art von Beziehung zu beziehen. Im zeitgenössischen Sprachgebrauch ist sifāḥ mit gewöhnlicher Prostitution verwandt, während die zweite Bedeutung dem ähnelt, was im Volksmund als „Sugar Daddy“-Phänomen bekannt ist. Der Koran bezieht sich auf die Keuschheit der Ehe mit dem Begriff iḥṣān.

[7] Der Prophet (s) ermutigte jede Person, die heiratet, eine Feier nach ihren Möglichkeiten auszurichten, indem er sagte: „Awlim, wa law bi-schā („Haltet ein Hochzeitsfest, auch mit einem einzigen Lamm“).“ Siehe http://www.dorar.net/h/3321919409fb870fecbf309ad3886e8b.

[8] Eine solche Heirat ist als zawāj mutʿa oder zawāj ilā ajal bekannt. Dieser Begriff wird im Volksmund mit „Vergnügungsehe“ übersetzt, aber die genauere Übersetzung lautet „Ehe auf Zeit.“ Obwohl die Schīʿa solche Ehen erlaubt, betrachtet sie sie als verpönt (makrūh) und unterwirft sie dem Regelwerk, das für reguläre Ehen gilt. Es würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, die schiitische Auffassung der Zeitehe oder die sunnitischen Argumente gegen ihre Sichtweise zu erörtern.

[9] Für einen Überblick über die Diskussion der Vorzüge und Kritikpunkte von zawāj al-misyār in der arabischen Welt siehe https://ar.wikipedia.org/wiki/%D8%B2%D9%88%D8%A7%D8%AC%D8%A 7%D9%84%D9%85%D8%B3%D9%8A%D8%A7%D8%B1.

[10] Wenn zum Beispiel ein Ehemann in einer monogamen Ehe kein sexuelles Interesse an seiner Frau zeigt, ist das, sofern die Ehe vollzogen wurde, normalerweise kein Scheidungsgrund, es sei denn, die Frau kann beweisen, dass er den Geschlechtsverkehr mit ihr aus einem böswilligen Grund unterlässt. Wenn er jedoch eine zweite Frau heiratet und sexuelles Interesse an dieser zeigt, die erste Frau aber weiterhin ignoriert, ist es offensichtlich, dass es sich nicht um eine allgemeine Abwesenheit von sexuellem Verlangen handelt, sondern eher um Abneigung gegen die Frau, was diese unter diesem Umstand zu einer gerichtlichen Scheidung berechtigt.

[11] Wenn Juristen von der Zulässigkeit einer Ehe mit einer zweiten, dritten oder vierten Frau sprechen, dann sprechen sie die Sprache des positiven Rechts (al-aḥkām al-waḍʿīyya), nicht der Ethik. Solche Ehen sind also jāʾiz, in dem Sinne, dass sie gültig und verbindlich sind und allen relevanten rechtlichen Folgen einer Ehe aus einer säkularen Perspektive unterliegen. Das bedeutet jedoch nicht, dass solche Ehen islamisch gefördert werden. Ein weiterer Beleg dafür, dass die Ehe mit einer zweiten Frau moralisch missbilligt wird, liegt in der Tatsache, dass es einem ledigen zahlungsunfähigen Schuldner zwar erlaubt ist, eine Ehe zu schließen, jedoch keine zweite.

[12] Al-Nisāʾ, 4:3; 4:129.

[13] Das bedeutet nicht, dass Polygamie als kategorisch verboten angesehen wird, auch nicht für nordamerikanische muslimische Gemeinschaften. Es kann sehr wohl Situationen geben, in denen eine polygame Ehe vertretbar sein kann, auch wenn insgesamt davon abgeraten wird. In diesem Fall kann sie jedoch nicht heimlich oder vor der ersten Frau verborgen durchgeführt werden. Es würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, zu erörtern, welche Bedingungen im nordamerikanischen Kontext erfüllt sein sollten, bevor eine polygame Ehe als islamisch anerkannt wird.

[14] S. http://www.dorar.net/h/d3d8a494b4ceab8ec3c1c531a6ff3167.

[15] Diese vertragliche Festlegung ist als tamlīk bekannt. Juristen verstanden sie als Bestimmung, mit der der Ehemann seiner Frau seine Befugnis zur Scheidung für den Fall überträgt, dass eine bestimmte Situation eintritt wie z. B. seine Heirat mit einer zweiten Frau.