Bewusstsein für psychische Gesundheit unter Muslimen

Autor: Imam Taha Ali Zeidan

Verschriftlicht und überarbeitet von: Pastor Dr. Lorberg-Fehring[1]

Nach Aussage des Korans hat Gott den Menschen Würde verliehen.[2] Zu dieser Würdigung gehört das Vermögen zu logischer Begriffsbestimmung und zum begrifflichen Denken.[3] Beide Voraussetzungen sind wichtig, um die Dreiteilung des Menschen in Körper, Seele und Geist (Verstand) zu verstehen und die entsprechenden Konsequenzen daraus zu ziehen.

Nach islamischem Verständnis ist die ganze Welt durch Gott geschaffen worden, weshalb Muslime Gott als Schöpfer, Ernährer und Erhalter der Menschen und des ganzen Universums verehren.[4] Jeder einzelne Mensch ist einerseits Teil dieser großen, umfassenden Schöpfungsgeschichte und wird anderseits als individuelles Wesen mit Leben beschenkt. Das individuelle Leben beginnt in dem Moment, wenn das Embryo „in Übereinstimmung mit dem, was er sein soll“ im Mutterleib geformt wird und Gott „ihm von Seinem Geiste“ einhaucht.[5] Auf diese Weise entsteht eine Verbindung zwischen Gott dem Schöpfer und dem von ihm geschaffenen Menschen, die dazu führt, dass Gott den Menschen näher ist als ihre „Halsschlagader“.[6] Diese untrennbare Verbindung von materieller und geistiger Welt macht als „Seele“ die eigentliche „Person des Menschen“ aus.[7]

Der dritte Teil des Menschen, die Seele, resultiert wie die beiden vorangegangen Teile, Körper und Verstand, aus seiner Beziehung zu Gott. Als gleichgestellte und gleichwertige Geschöpfe sind Männer und Frauen mit dem Vermögen ausgestattet, Gott zu erkennen.[8] Deshalb besitzen sie Geist im Sinne von Verstand, um als „freie und vernünftige Lebewesen und Personen … Verantwortung als gläubige Menschen für ihre Handlungen hier und im Jenseits zu tragen.“[9]

Alle drei Komponenten des Menschen, Körper, Verstand und Seele, bedürfen der individuellen und gemeinschaftlichen Fürsorge und haben ihre je eigenen Ansprüche: der Körper, indem ich ihn ernähre und auf ihn achte; die Seele durch das Gedenken, die Spiritualität und die Verbindung zu Gott und der Verstand, indem ich ihn mit Willen und Wissen fülle.

Wenn wir auf das Verständnis der Muslime heutzutage blicken, so stellen wir fest, dass das Bewusstsein für den Körper weit verbreitet ist. Viele pflegen und versorgen ihren Körper, versuchen auf ihre Nahrung zu achten und treiben Sport, um gesund und schön zu sein. Oft ist zu hören: ‚Mein Körper ist eine Amāna, ein von Gott anvertrautes Gut‘.[10] Gleiches gilt auch für den Verstand: die eigene Bildung und die der Kinder genießt in der muslimischen Community einen hohen Stellenwert. Viele Muslime suchen gute Schulen aus und sind darauf bedacht, dass ihre Kinder möglichst viel lernen. In diesem Zusammenhang wird oftmals das bekannte Sprichwort zitiert: „Der gesunde Geist, der gesunde Verstand, ist im gesunden Körper.“[11] Aber oftmals wird eine Sache vergessen: Die Seele. Was ist mir der Seele? Was bedarf die Seele? Und warum gerät sie so leicht aus dem Blickfeld?

Ein Bewusstsein für die Seele, für ihre Bedürfnisse, ihre vielgestaltige Fürsorge und umfangreiche Pflege, ist bei vielen Muslimen nur unzureichend vorhanden. Oft wird das seelische Verständnis auf ein enges Verständnis von Spiritualität beschränkt. Dann wird gesagt: „Ich habe mir ein Duʿā angehört, bis ich geweint habe. Ich höre die Rezitation dieses Shaykhs, weil sie mein Herz flattern lässt.“[12] Aber hier liegt ein beschränktes Verständnis und Bewusstsein der Seele und ihrer Bedürfnisse vor, die weitreichende Konsequenzen hat.

Um zu einem hilfreichen Umgang mit der Seele zu gelangen, kann sie sich wesenhaft wie der Körper vorgestellt werden – als etwas, das Nahrung, Zuwendung und Pflege bedarf. Und was genauso wichtig ist: Wenn die Seele verletzt ist, muss sie ebenso wie der Körper unterstützend und umsichtig behandelt werden. Vor allem dafür ist in muslimischen Kontexten leider oftmals zu wenig Verständnis vorhanden.

Ich möchte zur Vertiefung des Verständnisses der Seele einen Vergleich zur Lebensgeschichte des Propheten Mohammed ziehen. Nach muslimischem Verständnis gab es keinen Menschen, der ein ereignisreicheres und turbulenteres Leben geführt hat: Es gibt kaum etwas, das er nicht erlebt hat – im Positiven wie im Negativen, im Privaten wie im Beruflichen.

Nach muslimischer Glaubensüberlieferung ist er als Halbwaise auf die Welt gekommen, hat seinen Vater niemals gesehen und verlor mit sechs Jahren seine Mutter. Später starben auch sein Onkel Abū Tālib und seine geliebte Ehefrau Chadīdscha. Nur ein einziges seiner Kinder hat ihn überlebt – alle anderen sind während seiner Lebenszeit gestorben.

Im Koran und der Prophetenbiographie wird anschaulich beschrieben, wie Mohammed nach seinem ersten Offenbarungserlebnis am Berg Hirāʾ und der Berufung zum Propheten zunehmend Feindschaft von Seiten der Bevölkerung Mekkas entgegengebracht wird und wie er ihren Angriffen ausgesetzt ist.[13] Beispielhaft zeigt sich diese feindselige Haltung an den Anschlagsplänen gegen den Propheten, seine Vertreibung aus Mekka und dem notwendig gewordenen Auszug nach Yathrib, dem späteren Medina.[14] Aber auch danach kehrte keine Ruhe ein.

Mohammeds Gegner zwangen ihn und seine Anhänger immer wieder in Schlachten und Auseinandersetzungen hinein. Dabei war der Prophet darum bemüht, die kriegerische und gewaltbesetzte Tradition des vorislamischen Arabiens zu pazifizieren und zu rationalisieren.[15] Es waren aber nicht nur die physischen Angriffe, die ihm stark zugesetzt haben. Noch schlimmer waren die psychischen, die seelischen Schmerzen, die er ertragen musste. Sie resultieren nicht nur aus den vielen menschlichen Verlusten, die er im Laufe seines Lebens erlitten hat. Auch die Unterstellungen und Anfeindungen, die ihm nach der Veröffentlichung seiner Offenbarungen entgegengebracht wurden, haben ihm schwer zugesetzt.

Eigentlich war Mohammed als ehrlicher und vertrauenswürdiger Mensch und Kaufmann in Mekka bekannt.[16] Durch die Öffentlichmachung der an ihn ergangenen Offenbarungen war er aber mit einem Schlag in den Augen vieler Kritiker auf einmal ein Lügner, jemand, der verrückt war und seinen Verstand verloren hat. Er wurde beschimpft und ihm wurde vorgehalten, die Offenbarungen nur erfunden zu haben.[17]

Warum erwähne ich das? Um Gottes Fürsorge und Schütz für seinen Propheten zu zeigen. Doch wie sah diese Fürsorge konkret aus? Sie war vor allem eine seelische Fürsorge. Im Koran lesen wir: „Die Großen unter seinem Volk, die sich weigerten, die Wahrheit anzuerkennen, sagten: ‚Wahrlich, wir sehen, daß du schwachsinnig bist; und, wahrlich, wir denken, daß du ein Lügner bist.“[18] Die Bewohner Mekkas verlachten und verachteten Mohammed dafür, dass er nach dem Erhalt der ersten Offenbarung (al-Fadschr (89; Die Morgenröte)) zunächst keine weiteren erhielt und spotteten, dass Gott ihn anscheinend verlassen habe.[19]

In der Sure aḍ-Ḍuḥā (93; Der helle Morgen‘) antwortet Gott auf diese Anschuldigungen mit dem Hinweis, der sowohl ganz konkret an den Propheten als auch an alle Menschen gerichtet ist: In unserer Beziehung zu Gott sind wir alle Waisen, die sich auf ihren Wegen verirrt haben und einsam sind. Deshalb sind alle Menschen – wie der Prophet – auf Gottes Schutz angewiesen, der uns in unserer Bedürftigkeit aufhilft und uns rechtleitet. (Q 93:6-8) Um den Propheten – und in ihm wiederum alle Menschen – zu trösten, hat Gott als Zeichen die Helligkeit des Morgens und die Finsternis und Stille der Nacht geschickt.[20] Als der Prophet in tiefster Trauer war angesichts des Verlustes seines Sohns Ibrahim, halfen ihm diese Zeichen, seinen Mut angesichts des Todes nicht zu verlieren.[21]

Gott hat dem Propheten vom Beginn seines Lebens an mehrmals gezeigt, dass er für ihn da ist – auch und gerade in seelischer Hinsicht: „HABEN WIR NICHT dein Herz geöffnet und von dir die Last genommen, die so schwer auf deinem Rücken lastete?“[22] An mehreren Stellen im Koran wird sichtbar, wie Gott für den Propheten sorgt und dass die Offenbarung die Lösung seiner Probleme beinhalten kann.[23] Und mehr noch: Der Koran selbst ist Heilung für das, was an seelischen Problemen auf den Menschen lastet.[24] Indem Gott zum Propheten – und durch ihn zu allen Gläubigen – gesprochen hat, haben wir eine Anleitung erhalten nicht nur für körperliche, sondern auch für seelische Fürsorge.

Der Koran kann daher als Vorbild angesehen werden, dass der Mensch sich mit seinem Inneren, mit seinen seelischen Zuständen, auseinandersetzen und sie nicht ignorieren soll. Denn Gott selbst spricht die Probleme an, unter denen Menschen leiden: Depressionen, Schlafmangel, Suizidgedanken. Gleichzeitig ermöglicht er den Menschen durch die Offenbarungen die Erkenntnis ihrer Probleme: Wer bereit ist, sich auf diesen Erkenntnisweg einzulassen, dem eröffnet Gott die Chance, sein enges, bedrücktes Leben hinter sich zu lassen. Die Verse im Koran, die das bezeugen, sind zahlreich.[25] Meine Frage ist: Warum wollen viele Muslime dies heutzutage nicht begreifen?

Stattdessen wird der Druck, der zu seelischen Leiden führt, oftmals noch durch unbedachtes Handeln gesteigert. Als Beispiel möchte ich auf den Umgang mit jungen Leuten verweisen, die ein begrenztes Lernvermögen haben und nicht für die von den Eltern erhoffte Schullaufbahn geeignet sind. Ich kenne zahllose Beispiele, in denen Eltern sich weigern, die kognitiven Lernschwierigkeiten ihrer Kinder zu akzeptieren. Stattdessen werfen sie ihren Kindern vor, in der Schule nicht gut genug aufzupassen und verlangen, dass die vermeintlichen Wissensdefizite durch entsprechende Nachhilfestunden behoben werden. Dafür sind sie sie bereit, oftmals große Summen für zusätzlichen Nachmittagsunterricht zu investieren. Warum? Damit das Lernvermögen ihrer Kinder wächst? Hilfreicher wäre es, die kognitiven Möglichkeiten der Kinder richtig wahrzunehmen und sie ihrem Vermögen nach entsprechend zu fördern.

Die seelischen Verletzungen, die aus diesem falschen Umgang entstehen, können erheblich sein und tiefe Spuren hinterlassen. Wenn es zu solchen Verletzungen kommt, bleibt es oft nicht aus, dass die Betroffenen sich entsprechend verhalten. Wenn wir ein Problem mit unserem Körper haben – wenn sich z. B. jemand den Arm bricht oder eine Wunde hat – würden wir sofort zum Arzt gehen. Wenn aber jemand eine seelische Verletzung aufweist, bleibt dieser wichtige Gang oft aus. Stattdessen wird über die betroffene Person gesagt: Er ist verrückt! Er spinnt! Das verletzte (und leider oft gleichzeitig auch verletzende) Verhalten wird abgeblockt und abgetan, statt die Verletzung zu erkennen und sie wie eine Krankheit behandeln zu lassen.

Statt anzuerkennen, dass etwas Schwerwiegendes vorgefallen ist, das sorgfältige Aufmerksamkeit braucht, sind wir häufig blind und erkennen weder das Problem, noch die Lösung und erst recht nicht die mögliche Heilung. Dabei könnte uns der Koran für alle drei Punkte als Vorbild dienen. Dabei ist der erste und für den Anfang ganz sicher der wichtigste Rat des Korans, weder in „starrköpfige Verachtung“ (al-ḥamia) noch in „Unwissenheit“ (al-ǧāhiliya) zu verfallen[26], sondern durch das Gedenken Gottes zunächst einmal die Herzen zu beruhigen[27]. Dadurch kann Ruhe, Gelassenheit, Seelenfrieden, (Glück-)Seligkeit, Sicherheit und Gottesbewusstsein einziehen, was im Arabischen mit dem Wort Sakīna umschrieben wird.[28]

Doch statt diesen Weg zu beschreiten und das Vorbild des Korans anzuerkennen, wählen viele Menschen einen anderen Weg und sagen: „Dieser Mensch ist verrückt.“ Und um noch einen drauf zu setzen, wird er ausgelacht, ausgeschlossen und ausgegrenzt. Manchmal geschieht das in bewusster Absicht, das ist dann besonders schlimm. Manchmal nehmen Eltern oder der gesamte Clan aber nicht einmal wahr, wie tiefe seelische Verletzungen sie mit ihren Worten anrichten.[29] Ich denke dabei an eine mir bekannte Familie mit drei Kindern. Vor dem Onkel, der Tante, dem Opa und allen, die es hören möchten, werden die Kinder von klein auf abgestempelt: „Das ist der Intelligente, das ist der Sportliche und das ist der Dumme. Er wird nie aufs Gymnasium kommen. Nur mit Glück wird er überhaupt einen Beruf finden.“ Und der Junge – oder auch das Mädchen – wächst mit dem Komplex auf: „Ich bin nicht dazu bestimmt, irgendetwas zu erreichen. Ich bin begrenzt. Erreichen können nur die anderen etwas.“ Wenn es ganz schlimm kommt, wird er oder sie auch noch mit entsprechenden Spitznamen bedacht. Damit wird ihm oder ihr die eigene, verzweifelte Situation immer wieder schmerzhaft vorgehalten. Genau aus diesem Grund sagt Gott im Koran, dass wir uns nicht gegenseitig mit Namen beschimpfen sollen.[30] Weil nämlich nicht nur die physischen Schmerzen wehtun, sondern auch die seelischen Verletzungen, die wir uns gegenseitig zufügen.

Der erste Schritt zur Lösung dieses Problems, wäre es, anzuerkennen, dass die Seele leiden kann. Der zweite Schritt wäre es, zu realisieren, dass wir Lösungen haben, das zu verhindern bzw. dass es wichtig ist, verletzte Seelen zu heilen. Aber statt diesen Weg zu beschreiten, verirrt sich die Gemeinschaft der Gläubigen, die Umma, viel zu oft in Wahnvorstellungen, Hokuspokus und Aberglaube.[31] Wie oft höre ich, dass Menschen mir sagen: „Shaykh, ich bin von einem Dschinn besessen, ich bin vom bösen Blick getroffen.“ Als Lösungen werden mir mystische Ideen präsentiert, die weder etwas mit dem Verstand noch mit dem Koran oder der Sunna zu tun hat.[32] Entsprechende Praktiken sind sicherlich vielen bekannt, sie reichen von der Vorstellung, dass bei Hochzeiten immer eine Hand am Tisch sein soll bis zu der Idee, dass heilende Wasser Gesundheit bringen usw. Die Umma des Propheten, die Gemeinschaft der Rechtleitung, ist ganz offensichtlich kaum davon abzuhalten, sich mit Glücksamuletten zu behängen. Shaykhs oder Hodschas in Anspruch zu nehmen, die so tun, als würden sie in Wasserflaschen den Koran einlesen und Menschen anhalten, das zu trinken.[33]

Religiöse Barmherzigkeit für Muslime soll alleine darin liegen, Gott fünfmal am Tag im Gebet anzurufen. Wichtig ist dabei die Einsicht, dass es wirklich nur um Anrufung geht und damit kein mystischer Zauber verbunden ist. Denn Gott hat nichts von dem Gebet. Wozu braucht Gott Gebete? Die Gebete sind alleine für die Gläubigen da.[34] So liegt z.B. die der Schutz des morgendlichen fadschr-Gebetes, das in der Gemeinschaft verrichtet wird, darin dass, der Betende etwas verstanden hat von seiner Angewiesenheit auf Gott allein – denn darin liegt der Schutze Gottes vom Morgen bis zum Abend.[35] Ein Mensch, der weiß, dass Gott ihm einen Propheten herabgesandt hat, der nach jedem Gebet den Thronvers liest, dem trennt vom Paradies nur das Grab.[36] Wovor sollte dieser Mensch Angst haben? Der glücklichste Mensch ist der gläubige Mensch. Wenn er auf diesen Glauben vertraut, den Gott ihm anbietet, ist er in religiöser Hinsicht von jeglichem Irrgang befreit. Wenn Menschen kein Licht am Ende des Tunnels sehen, sendet Gott ihnen den Koran als Licht ihres Lebens.[37]

Wenn es ein solches Licht gibt, das alles überstrahlt: als Rechtleitung, Heilung und Freudenbotschaft, warum möchte ich da dann noch jemanden haben, der mir vormacht, einen Dschinn auszutreiben und mir entsprechende Rezepte anbieten? [38] Nach meiner Schätzung sind 95% der Leute, die auf diesem Gebiet ihre Dienste anbieten, Scharlatane.[39]

Derjenige, der fünf Mal am Tag betet – und das mit Verstand – und weiß, warum er seine Stirn niederwirft auf den Boden, kann sich aus freien Stücken Gott hingeben in dem Vertrauen: „Ich habe, bin, kann und weiß nichts und bin auf Dich, Gott, angewiesen.“ Wer sich zurückzieht von der Welt, sich ehrlich loslöst von allem und Gott inständig bitten, den wird Gott niemals im Stich lassen. Gott hat sich dazu verpflichtet, obwohl er es nicht nötig hat, sich zu verpflichten.[40]

Eine solche religiöse Ausrichtung des Lebens ist für viele Menschen heute keine Selbstverständlichkeit. Ich höre zwar von vielen Muslimen, dass sie auf der Suche sind nach einem religiösen Lebenssinn. Aber wenn ich sie frage: „Bruder, betest Du? Schwester, betest Du?“ bekomme ich oft zur Antwort: „Nein, aber ich suche…“ Und wenn ich frage, wo sie suchen, erzählen sie etwas von Yoga und Ähnlichem. Gegen Yoga ist ja gar nichts einzuwenden – wenn ich Rückenprobleme habe und einen sportlichen Ausgleich suche. Aber wenn ich höre: „Ich mache jeden Morgen um 5 Uhr Yoga, finde darin Ruhe und trete deswegen aus dem Islam aus“, dann haben nicht nur diejenigen, die das zu mir sagen, etwas von ihrer Religion verkannt. Sondern was noch dramatischer ist: Wir anderen haben etwas verkannt! Weil wir den Islam, den vollständigen, ausgeglichen Islam, der für Körper, Verstand und Seele sorgt, nicht weitergeben, vorleben und lehren.

Ich sehe eine Gefahr darin, dass wir auf diese Weise Menschen, die nach Halt und Stabilität suchen, vorenthalten, Trost in ihrer Religion zu finden. Dadurch leben sie – religiös gesprochen – in einem Zustand der Oberflächlichkeit, dem sie vor allem dann zum Opfer fallen, wenn sie seelisch angeschlagen, kaputt und verletzt sind. Es kommt dann zu solchen absurden Situationen, dass sie in Momenten des Verlustes eines geliebten Menschen auf einmal denken: ‚Ich darf nicht trauern – das verbietet mir meine Religion‘. Wie falsch sie damit liegen, zeigt das Beispiel des Propheten, der nach dem Verlust seines Sohnes weinte, trauerte und litt.[41] Was ihn rettete, war die Zuflucht zum Koran, wo es heißt: „Wahrlich, Gott gehören wir, und, wahrlich, zu Ihm werden wir zurückkehren.“[42]

Der Prophet kann Vorbild sein, Trauer nicht zu unterdrücken, sondern ihr Raum zu geben – auch wenn sie zuweilen von außen besehen unerklärliche Züge annimmt. Es ist wichtig, Trauerprozesse zu akzeptieren und Betroffene nicht auszugrenzen, auszuschließen oder gar für verrückt zu erklären. Es kommt immer wieder vor, dass Angehörige von Trauernden zu mir kommen und sagen: „Shaykh, ich habe einen verrückten Sohn, er sperrt sich alleine im Zimmer ein, er zieht sich immer zurück, er spricht mit niemandem. Wir haben alles versucht: Wir haben jemanden geholt, der im Koran liest, wir haben ihn geschlagen, wir haben jemand für einen Exorzismus geholt – aber nichts geht.“ Statt in Betracht zu ziehen, dass die Trauer in ihm eine Depression ausgelöst hat, wird gesagt: „Er spinnt.“ Vor solchen – im wahrsten Sinne des Wortes lebensgefährlichen – Urteilen sind auch diejenigen nicht sicher, die regelmäßig die Moschee besuchen.

Ich habe so eine Situation erlebt. Es war vor ca. zweieinhalb Jahren. Die Beerdigung war einem Freitag Der Betroffene hatte jahrelang gelitten. Jeder, der ihn gesehen hat, hat gemerkt: Irgendetwas stimmt nicht mit ihm: Wie er spricht, wie er redet. Aber statt auf ihn zuzugehen und ihm Hilfe anzubieten, hörte ich, wie einer in seiner Gemeinde sagte: „Bei dem stimmt was nicht. Bei dem schwirrt nicht ein Dschinn im Kopf herum, sondern eine ganze Mannschaft. Er sitzt immer alleine in der Garage.“ Niemand ist auf ihn zugegangen und hat ihn gefragt: „Wie geht es Dir?“ Und damit meine ich: „Wie geht es Dir wirklich? Wie geht es Dir innendrinn? Wie geht es Deiner Seele?“ Stattdessen wurde über ihn gelacht, er wurde ausgrenzt und gemobbt. Was war das Ergebnis? Zwei Monate war der Betroffene weg. Keiner wusste, wo er ist. Er ist einfach untergetaucht. Da bekam ich einen Anruf von jemandem, der ihm sehr nahe stand, der sagte: „Sie haben ihn gefunden. Tot. Im Wald. Verdacht auf Freitod.“ Alle schienen schockiert. Alle schienen überrascht. Keiner war so ehrlich, zu sagen: „Wir haben alle damit gerechnet.“ Stattdessen wurde sein Leiden jahrelang verdrängt und ignoriert. Vielleicht haben manche auch gedacht: „Hoffentlich passiert uns das nicht.“ Und als dann das schrecklichste, was wir uns vorstellen können, passiert ist, standen viele einfach nur sprachlos da.[43]

Um es ganz deutlich zu sagen: Das Problem des Freitods und das Problem des Wegsehens sind sehr weit verbreitet – auch und gerade unter Muslimen. Deswegen brauchen wir Menschen, die sich damit auskennen, wie man sich nicht nur um Körper und Geist, sondern auch um die Seele eines Menschen sorgt. Wir brauchen Seelsorger und Seelsorgerinnen, die sich mit Problemen auskennen, die bereit stehen, um in den beschriebenen Fällen Hilfe leisten zu können und die darin geschult sind, solche Probleme nicht zu verdrängen, sondern anzusprechen und zur Lösung beizutragen. Und wenn diejenigen, die im Rahmen ihrer seelsorglichen Ausbildung durch psychologische Gesprächsführung, hilfreiche Kommunikation und einfühlsamen Umgang geschult sind, feststellen, dass es sich bei den Problemen der Betroffenen um Krankheitsbilder handelt, für die offene, ehrliche und einfühlsame Gespräche nicht ausreichen, dann braucht es die Bereitschaft, psychologische und psychiatrische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Es sollte unter Muslimen Pflicht sein, solche Dienste in Anspruch zu nehmen, genauso wie man Imame für religiöse und Ärzte für gesundheitliche Fragen aufsucht.

Wichtig ist, dass diejenigen, die Seelsorge – oder gegebenenfalls auch Psychologie und Psychiatrie – anbieten, gut ausgebildet sind und wissen, wie man mit muslimischen Gesprächspartnern oder auch Patienten umgeht.[44] Es braucht ein Grundwissen für muslimische Spiritualität, um z.B. sagen zu können: Es gibt gemäß des islamischen Glaubens eine Dunyā, die Welt des menschlichen Erfahrens und Gestaltens, also das Diesseits[45] und eine Āḫira, der Ort des folgenden Lebens und des Tags des Gerichts, also das Jenseits.[46] Beides ist wichtig – das Jenseits und das Diesseits. Denn wenn wir das diesseitige Leben vernachlässigen, laufen wir Gefahr, auch das Jenseits zu verlieren.

Wir müssen es hinter uns lassen, zu sagen: „Der oder die ist verrückt!“ Wir müssen stattdessen dazu kommen, zu sagen: „Jemand braucht Hilfe“ und notfalls auch zu akzeptieren, dass diese Hilfe tiefer, umfangreicher und nachhaltiger sein muss, als wir uns das zunächst vorstellen können oder wollen.[47] Wer z.B. unter Depressionen leidet, ist nicht verrückt, ist kein Spinner und auch nicht besessen – er oder sie ist krank und muss medizinisch behandelt werden.

Vieles, was wir heutzutage als Problematisch ansehen, ist auf zwei Dinge zurückzuführen: Fehlende medizinische Behandlung und fehlende Bindung zu Gott. Wer krank ist und sich keine Hilfe holt, muss sich nicht wundern, dass es ihm schlecht geht. Und diejenigen, die nicht mit Gott sprechen, müssen nicht darüber erstaunt sein, dass sie sich haltlos fühlen.

Der beste Bezugspunkt und die beste Beziehung, die wir haben können, ist zu Gott. Denn selbst wenn die wichtigsten Menschen in unserem Leben: Mutter, Vater, Ehemann, Ehefrau, Sohn oder Tochter nicht direkt greifbar sind, hilft es doch, mit ihnen zu sprechen. Genauso ist es auch mit Gott: Je enger du zu ihm bist, desto besser geht es dir. Und je weiter du von ihm entfernt bist, desto schlechter geht es Dir. Diese Bindung und Beziehung geschieht durch das Gebet. Das Gebet ist das A und O, der Anfang und das Ende.[48] Daher ist es von entscheidender Bedeutung, dass wir unsere Beziehung zu Gott immer wieder neu aufbauen, pflegen, und stärken.

Die Sorge um die eigene Seele und die Sorge um die Seele der anderen ist eine wichtige Voraussetzung, um sich selbst und anderen beizustehen. Dafür ist es unerlässlich, darauf zu achten, was wir denken und sagen. Denn genauso, wie wir auf unser Äußeres achten, sollten wir das Innere in uns und in unseren Geschwistern pflegen, wertschätzen und hilfreich damit umgehen.


[1] Überarbeitete Fassung eines Vortrages auf der YouCon – Die Islamische Jugendkonferenz 2018.

[2] Vgl. Q 17:70: „NUN HABEN WIR fürwahr den Kindern Adams Würde verliehen und sie über Land und Meer getragen und für sie Versorgung von den guten Dingen des Lebens bereitet und sie weit über das meiste Unserer Schöpfung begünstigt.“ (Diese und die folgenden Koranstellen folgen der Übertragung von Muhammad Asad: Die Botschaft des Koran. Übersetzung und Kommentar, Ostfildern 6.2018.)

[3] Vgl. Asad: Die Botschaft des Koran, 544, FN 83 (Kommentar zu Q 17:70).

[4] Vgl. Q 50:16: „NUN WAHRLICH, wir sind es, die den Menschen erschaffen haben, und Wir wissen, was sein innerstes Selbst in ihm flüstert“.

[5] Q 32:9.

[6] Q 50:16: „…denn Wir sind ihm näher als seine Halsschlagader.“

[7] Abdullah Takim: Und meine Barmherzigkeit umfasst alle Dinge (Koran 7,156): Das islamische Menschenbild und die Seelsorge im Islam, in: Cibedo-Beiträge; 2016/4, 134-143; zugleich Vortrag auf der konstituierenden Sitzung des Arbeitsausschusses (der DIK) zum Thema Seelsorge am 18. Februar 2016 (Berlin), hier zitiert nach: http://www.deutsche-islam-konferenz.de/SharedDocs/Anlagen/DIK/DE/Downloads/Sonstiges/20160307_vortrag_takim_seelsorge.pdf?__blob=publicationFile (abgerufen am 9.6.2020), 15.

[8] Vgl. Q 30:30: „UND so richte dein Gesicht standhaft zu dem (einen immerwahrenden) Glauben hin und wende dich ab von allem, was falsch ist, in Übereinstimmung mit der natürlichen Veranlagung, die Gott dem Menschen eingegeben hat“.

[9] Takim: Und meine Barmherzigkeit umfasst alle Dinge, 10f.

[10] Vgl. Q 33:72: „Wahrlich, wir hatten das Anvertraute (von Vernunft und Willen) den Himmeln und der Erde und den Bergen dargeboten: aber sie weigerten sich, es zu tragen, weil sie Angst davor hatten. Doch der Mensch nahm es auf sich – denn wahrlich, er war immer geneigt, höchst ruchlos, höchst töricht zu sein.“

[11] Vgl. das Zitat des römischen Schriftstellers Juvenal: Satire 10, 356: „… orandum est ut sit mens sana in corpore sano.“ (dt.: Wir sollten beten, dass es ein gesunder Geist in einem gesunden Körper sein kann), hier zitiert nach: http://www.thelatinlibrary.com/juvenal/10.shtml (abgerufen am 11.12.2020).

[12] Ein Dua bezeichnet im Islam ein persönliches Bitt- oder Dankgebet. Für ein Dua gibt es im Gegensatz zum rituellen, fünfmaligen Gebet (Salāt) keine festgelegte Zeit. Anders als das stärker meditative, nach innen gerichtete Dhikr (ḏikr) umfasst das Dua eine persönliche, ausformulierte Bitte.

[13] Vgl. Q 38:69f: „(Sag, o Muhammad:) „Ich hätte kein Wissen gehabt von (dem, was unter) der Schar hoch droben (geschah), als sie (gegen die Erschaffung des Menschen) stritten, wäre es mir nicht (von Gott) offenbart worden – zu keinem anderen Zweck, als daß ich (euch) eine deutliche Warnung übermittle.“

[14] Vgl. Q 8:30: „UND (gedenke, o Prophet) wie jene, die darauf aus waren, die Wahrheit zu leugnen, gegen dich Ränke schmiedeten, um dich (am Predigen) zu hindern oder dich zu töten oder dich zu vertreiben: also haben sie (immer) Ränke geschmiedet“.

[15] Vgl. Klaus von Stosch: Herausforderung Islam. Christliche Annährungen, Paderborn 2026, 144, vgl. Hakan Turan: Über die militärischen Konflikte des Propheten mit den Juden von Medina, in: Yaşar Sarıkaya/Mark Chalil Bodenstein/Erdal Toprakyaran (Hrsg.): Muhammad – Ein Prophet – viele Facetten, Berlin 2014, 195–230, hier zitiert nach: https://publishup.uni-potsdam.de/opus4-ubp/frontdoor/deliver/index/docId/9961/file/pardes22_49-85.pdf (abgerufen am 30.12.2020), 84f.: Solche differenzierte Wahrnehmung der gewaltvermindernden Absichten Mohammeds steht kritisch zu einem Prophetenbild, das „deutlich von ganz und gar materiellen Interessen in den militärisch aktiven und expandierenden frühen Reichen der Umayyaden und Abbasiden mitgeprägt ist. Die Spuren dieser überholten Interessen … wirken sich auch heute noch fatal auf nahezu alle umfangreicheren Darstellungen des Propheten aus. Für diese Interessen scheinen Fragen der Verteilung von Kriegsbeute und der Beseitigung politischer Gegner stellenweise interessanter und anregender gewesen zu sein als der Mensch, Lehrer und Gottesdiener Muhammad. Wenn also muslimischerseits erwogen wird, was Muhammad als Barmherzigkeit an alle Welten (21:107) der Menschheit heute noch zu sagen hat, dann ist es sowohl wichtig, Muhammads Leben und Wirken in seinem eigenen historischen Kontext zu begreifen, als auch in wissenschaftlichem Geiste die Frage nach den Quellen zu seinem Leben ständig wachzuhalten.“

[16] Vgl. Q 68:4ff.: „… denn siehe, du hältst dich fürwahr an eine erhabene Lebensweise; und (eines Tages) wirst du sehen, und sie (die dich nun verspotten,) werden sehen, wer von euch der Vernunft beraubt war.“

[17] Vgl. Q 68:2: „Du bist nicht, durch die Gnade deines Erhalters, ein Verrückter!“ Vgl. Asad: Die Botschaft des Koran, 1083, FN 3 (Kommentar zu Q 68:2): „Dies ist eine Anspielung auf den Hohn, mit dem die meisten Zeitgenossen Muhammads den Beginn seines Predigens begrüßten und mit dem sie ihn viele Jahre lang zu verspotteten fortfuhren.“

[18] Q 7:66.

[19] Vgl. Q 93:3: „Dein Erhalter hat dich nicht verlassen, noch verachtet Er dich“.

[20] Vgl. Q 93:1f.: „BETRACHTE die hellen Morgenstunden und die Nacht, wenn sie still und finster wird.“

[21] Vgl. Sahih Muslim, Kapitel 11/Hadithnr. 1522, hier zitiert nach: http://islamische-datenbank.de/sahih-muslim?action=viewhadith&chapterno=11 (abgerufen am 04.01.2021): „Es ereignete sich zur Zeit des Gesandten Allahs, Allahs Segen und Heil auf ihm, eine Sonnenfinsternis, gerade am Tag als (sein Sohn) Ibrahim starb. Darauf sagte der Gesandte Allahs, Allahs Segen und Heil auf ihm: Die Sonne und der Mond sind zwei der Wunderzeichen Allahs. Sie werden nicht finster wegen Tod und Leben eines Menschen. Wenn ihr also so etwas erlebt, dann bittet Allah (um Heil) und betet, bis dies vorüber ist.“

[22] Q 94:1f.; der Vers nimmt Bezug auf Sahih Muslim, Kapitel 2/Hadithnr. 238, hier zitiert nach: http://islamische-datenbank.de/sahih-muslim?chapterno=2&hadithid=95&action=display (abgerufen am 04.01.2021): „Ich war halbwach in der Nähe von der Ka`ba, als ich plötzlich jemanden sagen hörte: Er ist der dritte unter den beiden Männern. Er kam dann zu mir und nahm mich mit. Dann holte er eine goldene Schüssel hervor, die mit Wasser vom Brunnen Zamzam gefüllt war. Er öffnete mein Herz bis zu so und so. Qatada (ein späterer Überlieferer) sagte: Ich fragte denjenigen, der mit mir war (d.h. den Erzähler), was der Prophet mit (bis zu so und so) meinte. Er erwiderte: Er meinte, dass sein Herz bis zum unteren Teil seines Bauches geöffnet wurde. Der Prophet sagte weiter: Mein Herz wurde herausgenommen, mit dem Wasser des Brunnens Zamzam gewaschen und dann wieder zurückgelegt, indem es mit Glauben und Weisheit gefüllt wurde.“

[23] Vgl. Q 9:40: „Wenn ihr nicht dem Gesandten beisteht, dann (wißt, daß Gott es tun wird – geradeso wie) Gott ihm beistand zu der Zeit, da jene, die darauf aus waren, die Wahrheit zu leugnen, ihn vertrieben, (und er war nur) einer von zweien: als diese beiden (sich versteckt haltend) in der Höhle waren (und) der Gesandte zu seinem Gefährten sagte: ‚Sei nicht bekümmert: wahrlich, Gott ist mir uns.‘“

[24] Vgl. Q 17:82: „Also, Schritt für Schritt, erteilen Wir von droben durch diesen Qur’an alles, was (dem Geist) Gesundheit gibt und eine Gnade für jene ist, die (an Uns) glauben“.

[25] Vgl. z.B.: Q 6:104: „Mittel der Einsicht sind nun zu euch von eurem Erhalter gekommen (durch diese göttliche Schrift). Wer immer deshalb wählt, zu sehen, tut dies zu seinem eigenen Wohl; und wer immer wählt, blind zu bleiben, tut dies zu seinem eigenen Schaden. Und (sage zu den Herzensblinden): ‚ich bin nicht eurer Wächter.‘“

[26] Q 48:26.

[27] Vgl. Q 2:248: „Und ihr Prophet sagte zu ihnen: ‚Seht, es soll ein Zeichen seiner (rechtmäßigen) Herrschaft sein, daß euch ein Herz gewährt wird, von eurem Erhalter versehen mit innerem Frieden und mit all dem, was fortbesteht in dem engelgetragenen Vermächtnis, das vom Haus des Moses dem Haus den Aaron hinterlassen wurde.“

[28] Vgl. Q 9:26: „… woraufhin Gott Sein (Geschenk des) inneren Friedens von droben Seinem Gesandten und den Gläubigen erteilte und euch von droben Kräfte, die ihr nicht sehen konntet, erteilte und jene strafte, die darauf aus waren, die Wahrheit zu leugnen“.

[29] Vgl. Ali Kemal Gün: Interkulturelle Missverständnisse in der Psychotherapie. Gegenseitiges Verstehen zwischen einheimischen Therapeuten und türkeistämmigen Klienten, Freiburg 2007. 247: „Migration bedeutet Wandlung und Auseinandersetzung. Die Wanderung in ein anderes Land bedeutet für die meisten Migranten Rettung vor zum Beispiel wirtschaftlicher, politischer oder persönlicher Not und eventuell vor Verfolgung. Dies hat aber gleichzeitig die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und mit der Einwanderungsgesellschaft und ihrer Kultur zur Folge. Für Menschen, die aus einer stärker kollektivistischen Kultur kommen, die sich stärker an familiären, sozialen und gesellschaftlich strukturierten Werten orientiert, ist es nicht einfach, sich an eine stärker individualistische Kultur, bei der die Person selbst und die individuellen Werte im Vordergrund stehen, anzupassen … Diese Situation stellt für Migranten eine psychische Belastung dar und führt zu Konflikten. Bei fehlenden oder mangelhaften individuellen Ressourcen an Verarbeitungs-, Kompensations- und Bewältigungsmöglichkeiten können diese Belastungen und Konflikte zu psychischen und psychosomatischen Störungen führen.“

[30] Q 49:11: „Oh IHR, die ihr Glauben erlangt habt! Keine Männer sollen (andere) Männer verspotten: es mag gut sein, daß jene (die sie verspotten), besser als sie selbst sind; und keine Frauen (sollen andere) Frauen (verspotten): es mag gut sein, daß jene (die sie verspotten,) besser als sie selbst sind. Und ihr sollt einander auch nicht verleumden, noch einander beleidigen durch (schimpfliche) Beinamen: übel ist alle Unterstellung von Frevelhaftigkeit (,) nach (-dem einer) Glauben (erlangt hat); und diejenigen, die (dessen schuldig werden und) nicht bereuen – es sind sie, sie, die Übeltäter sind!“

[31] Ali Kemal Gün: Interkulturelle therapeutische Kompetenz. Möglichkeiten und Grenzen psychotherapeutischen Handelns, Stuttgart 2018, 179: „Die Anwendung von Ritualen und Gebeten oder die Verwendung von Amuletten und außerirdischen Kräften ist an sich sowohl im Islam als auch in der Türkei gesetzlich verboten, wird aber noch immer ausgeübt.“

[32] Vgl. ebd: Dass nicht nur in den Herkunftsländern von Migranten, sondern auch „in Deutschland noch immer Formen der traditionellen Medizin ihre Anwendung finden, oftmals parallel zum Einsatz westlicher Medizin, liegt an diesem mystischen Medizinverständnis: Demnach kommt es wegen Tabuverletzungen und falschen Handlungen zur Strafe Gottes. Durch böse Wünsche anderer, über ihren bösen Blick, können alle Arten von Krankheiten, Unfällen und Behinderungen entstehen, die man durch eine magische Gegenhandlung, einen Zauber, ein Amulett zu entkräften sucht. Oftmals ist auch hier noch der Hodscha, als Seelsorger, Lehrer und Priester erster Ansprechpartner bei Krankheiten, mehr noch aber bei seelischen Spannungen oder neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen.“

[33] Vgl. Gün: Interkulturelle Missverständnisse, 285f: „Die Behandlung … bezieht sich zwar meistens auf Amulette, Talismane mit Auszügen aus dem Koran beziehungsweise heiligen Schriften, aber es werden häufig auch rituale verschrieben, welche von dem Betreffenden beziehungsweise von seinen Angehörigen durchzuführen sind. Während der Sitzung werden die Betroffenen oft unter Rauch versetzt, besprochen, es werden Gebete mit dem heilendem Atem in sein Gesichts pustend ausgesprochen, oder sie müssen besprochenes Wasser trinken“. Vgl. Karen Krüger: Eine Reise durch das islamische Deutschland, 119: „Die Behandlung durch einen Heiler kann sehr teuer sein. Für eine Sitzung ist man schnell bis zu 700 Euro los.“

[34] Vgl. Q 35:15: „O Menschen! Ihr seid es, die Gottes bedürftig sind, während Er allein selbstgenügend ist, der Eine, dem aller Preis gebührt.“

[35] Fadschr (ṣalāt al-fadschr) ist eines der fünf obligatorischen täglichen Gebete im Islam. Es ist das erste Gebet des Tages. Es beginnt mit Einsetzen der Morgendämmerung und endet mit dem Sonnenaufgang. Verschiedene Rechtsschulen setzen den Beginn der Dämmerung unterschiedlich fest, sodass es zu verschieden langen Zeitspannen für die Verrichtung des Gebets kommt. Während des Ramadan markiert es den Beginn des täglichen Fastens. (Vgl. Muslim; Salah, 4, 1275).

[36] Q 2:255: „GOTT – es gibt keine Gottheit außer Ihm, dem Immer-Lebendigen, dem Durch-Sich-Selbst-Bestehenden Quell allen Seins. Wer Schlummer überkommt Ihn noch Schlaf. Sein ist alles, was in den himmeln ist, und alles, was auf Erden ist. Wen gibt es, der bei Ihm Fürsprache einlegen könnte, es sei denn mit Seiner Erlaubnis? Er weiß alles, was vor den Menschen offen liegt, und alles, was vor ihnen verborgen ist, während sie nichts von Seinem Wissen erlangen können außer dem, was Er sie erlangen lassen) will. Seine ewige Macht übergreift die Himmel und die Erde, und ihre Bewahrung ermüdet Ihn nicht. Und Er allein ist wahrhaft erhaben, gewaltig.“

[37] Q 4:174: „Oh MENSCHHEIT! Eine Manifestation der Wahrheit ist nun von eurem Erhalter zu euch gekommen, und Wir haben ein klares licht zu euch herabgesandt.“

[38] Vgl. Gün: Interkulturelle Missverständnisse, 284: Diejenigen, „die magisch-religiöse Praktiken ausüben, werden Fähigkeiten zugesprochen, Geisterwesen, ‚Böser Blick‘, schwarze Magie etc. erkennen und behandeln zu können.“

[39] Vgl. a.a.O., 292: „Nach den Erfahrungen des Verfassers können zwar die Einflüsse von Hodschas positiv zur Behandlung beitragen, dies ist aber nur selten der Fall. Im Laufe der 12-jährigen Tätigkeit in der Psychiatrie konnte nur ein einziger Hodscha erkundet werden, der den modernen Behandlungstechniken gegenüber eine offene Haltung hatte und seine Kenntnisse über die Religion und den Koran darauf verwandte, die Patienten zur psychiatrischen-psychologischen Handlung zu motivieren.“

[40] Vgl. Q 6:12: „Sag: ‚Wem gehört alles, was in den Himmeln und auf Erden ist?‘ Sag: ‚Gott, der für Sich Selbst das Gesetz der Gnade und Barmherzigkeit gewollt hat.“

[41] Sahih Muslim, Kapitel 43/Hadithnr. 4279, hier zitiert nach: http://islamische-datenbank.de/sahih-muslim?action=viewhadith&chapterno=43&min=20&show=10: „Der Gesandte Allahs, Allahs Segen und Heil auf ihm, sagte: ‚Heute in der Nacht ist mir ein Junge geboren, den ich nach dem Namen meines Vaters Ibrahim nannte.‘ Er schickte das Kind zu seiner Pflegemutter Umm-Saif, der Frau eines Schmieds namens Abu-Saif. Der Prophet, Allahs Segen und Heil auf ihm, ging später zum Schmied und ich folgte ihm, bis wir das Haus von Abu-Saif erreichten. Dabei fachte er das Feuer mit dem Blasebalg an, und das Haus war voll Rauch. So eilte ich mich ein bisschen vor dem Gesandten Allahs, Allahs Segen und Heil auf ihm, und sagte Abu-Saif: ‚Höre auf anzufachen, denn der Gesandte Allahs, Allahs Segen und Heil auf ihm, kommt gleich.‘ So hörte er auf. Der Prophet, Allahs Segen und Heil auf ihm, ließ das Kind zu sich bringen, umarmte es und sprach, was er nach dem Willen Allahs zu sprechen vermag … Ich sah das Kind auf dem Arm des Gesandten Allahs, Allahs Segen und Heil auf ihm, seine letzten Atemzüge aufgebend. Da begannen die Tränen des Gesandten Allahs, Allahs Segen und Heil auf ihm, zu fließen und er sagte: ‚Wahrlich, das Auge tränt, das Herz trauert und wir sprechen nur Worte, die unserem Herrn wohlgefällig sind. O Ibrahim, wir sind wahrlich bei deinem Abschied von Traurigkeit erfüllt.‘“

Das Missverständnis, dass Muslime angesichts des Todes nicht weinen dürfen, geht auf eine Fehlinterpretation eines anderen Hadtihs zurück. Darin hatte der Propheten gesagt: „Der Tote wird mit dem Weinen seiner Angehörigen um ihn gequält.“ (Sahih Muslim, Kapitel 12, Hadithnr. 1536, hier zitiert nach: http://islamische-datenbank.de/sahih-muslim?action=viewhadith&chapterno=12 (abgerufen am 05.01.2020).) Das Missverständnis bestand darin, dass der Prophetengefährte Sa’d ibn ‘Ubaadah aufgrund dieser Äußerung des Propheten dachte, dass Weinen um Tote grundsätzlich nicht erlaubt sei. Aber Mohammed erklärte ihm, dass Weinen und Tränenvergießen Barmherzigkeit bedeuten, die Gott in die Herzen seiner Diener gebe. (Sahih Muslim, Kapitel 12/Hadithnr. 1531, hier zitiert nach: http://islamische-datenbank.de/sahih-muslim?action=viewhadith&chapterno=12 (abgerufen am 06.01.2020).) Der Prophet geht auf dieses Missverständnis in einem weiteren Hadtih noch einmal explizit ein und sagt: „Höret ihr nicht zu? Allah quält weder mit den Tränen des Auges noch mit den Schmerzen des Herzens, sondern mit diesem, – und er deutete auf seine Zunge- oder Er erbarmt Sich seiner.“ (Sahih Muslim, Kapitel 12/Hadithnr. 1532, hier zitiert nach: http://islamische-datenbank.de/sahih-muslim?action=viewhadith&chapterno=12 (abgerufen am 06.01.2020).)

[42] Q 2:155f: „Und ganz gewiß werden Wir euch prüfen mittels Gefahr und Hunger und Verlust von weltlichen Gütern und leben und Früchten (der Arbeit). Aber gib jenen frohe Kunde, die geduldig in Widrigkeit sind – die, wenn Unheil sie trifft, sagen: ‚Wahrlich, Gott gehören wir, und, wahrlich, zum Ihm werden wir zurückkehren.‘“

[43] Vgl. Gün: Interkulturelle Missverständnisse, 270: „Migranten versuchen ständig, die schwer zu vereinbarenden Lebensweisen miteinander in Einklang zu bringen, was ihnen natürlich nie gelingen kann, was dann zu pathologischen Formen führen kann. Die Psychodynamik dieser Familien wird dadurch geprägt, dass sie sich ständig in einem Auseinandersetzungsprozess zwischen den mitgebrachten Normen und Werten und denen der hiesigen Gesellschaft befinden.“

[44] Vgl. Alexander Thomas: Interkulturelle Psychologie, Göttingen 2016, 20: Für interreligiöses Verstehen kann hier gelten, was auch für interkulturelles Verstehen notwendig ist, nämlich „die Fähigkeit, jegliches Verhalten und Handeln von Personen unterschiedlicher kultureller Herkunft aus der Kenntnis ihres kulturspezifischen Orientierungssystems und den daraus ableitbaren kontextspezifischen Bezugssystemen und Bedeutungszuschreibungen heraus einordnen und interpretieren zu können. In einer dyadischen, sozialen Beziehung bedeutet das, dass der Handelnde sich seines eigenen kulturspezifischen Orientierungssystems und den sich daraus ergebenden spezifischen Handlungsmöglichkeiten und Handlungsgrenzen bewusst ist, ebenso wie des kulturspezifischen Orientierungssystems seines fremdkulturellen Partners. Hinzukommen muss noch das Bewusstsein für die Besonderheit und Neuartigkeit, die sich aus der Dynamik des so geschaffenen interkulturellen Interaktionsfeldes ergeben. Dieses interkulturelle Interaktionsfeld ergibt sich aus der Überschneidung zwischen den Besonderheiten des eigenen kulturellen und des fremdkulturellen Orientierungssystems, das in spezifischen Interaktionskontexten zur Lösung der kommunikativen und interaktiven Anforderungen aktiviert wird“.

[45] Vgl. Q 2:86: „Alle, die das Leben dieser Welt um den Preis des kommenden Lebens erkaufen – ihr Leiden wird nicht erleichtert werden, noch wird ihnen beigestanden werden.“

[46] Vgl. 28:77: „Suche statt dessen durch das, was Gott dir gewährt hat, das (Gute des) kommenden Lebens, ohne dabei deinen eigenen (rechtmäßigen) Anteil in dieser Welt zu vergessen“.

[47] Gün: Interkulturelle therapeutische Kompetenz, 179: Eigene Erfahrungen und Untersuchungen zeigen, dass Migranten, die aus dem türkisch-islamischen Kulturkreis stammen – trotz langjährigen Aufenthalts in Deutschland – weiterhin unter dem Einfluss herkunftsspezifisch geprägter traditionell-islamischer Wertvorstellungen leben. Die religiösen und magischen Krankheits- und Heilvorstellungen sind bei vielen türkeistämmigen Patienten von großer Bedeutung. Die Inanspruchnahme traditioneller Heiler (z.B. Hodschas) ist nur ein Beispiel dafür. Traditionelle Erklärungsmuster für die Krankheiten und deren Behandlungen existieren neben den modernen Behandlungsmethoden und beeinflussen Krankheits- und Heilungsverhalten der Patienten aus diesem Kulturkreis.“

[48] Im griechischen Alphabet stehen die Buchstaben Ά am Anfang und Ω am Ende der Buchstabenreihe.