Kritische Würdigung: Klinischer Fokus und Darstellung des Westens
Klinischer Fokus
Es ist auffallend, dass anwendungsorientierte Arbeiten muslimischer Autoren fast ausschließlich klinischer Natur sind, wobei die klinische Psychologie allerdings nur ein von vielen möglichen Anwendungsbereichen darstellt. Trotz vieler wichtiger Fragestellungen werden grundlagenwissenschaftliche Erkenntnisse nur für den klinischen Bereich genutzt. So sind muslimische Psychologen unter anderem im Bereich der Forensik gefordert, wenn es im islamischen Recht z. B. um die Beurteilung der Schuldfähigkeit oder der Glaubwürdigkeit von Zeugen geht und eine islamischpsychologische Expertise unabdingbar ist (siehe auch: Mohamad, A.B., 2010). Daher wird es zukünftig nicht nur darum gehen, den Islam hinsichtlich seines psychologischen Inhaltes zu untersuchen und Erkenntnisse der Grundlagenforschung auch in nicht-klinische Anwendungsbereiche zu tragen, sondern psychologisches Wissen auch für die islamische Glaubenspraxis nutzbar zu machen.
Für die starke klinische Orientierung der gegenwärtigen Islam und Psychologie- Strömung können mehrere Faktoren verantwortlich gemacht werden. So ist nicht nur die Medizin, sondern auch die Psychologie in ihren klinischen Fächern letztlich eine anwendungsorientierte Wissenschaft, die sich um Menschen in medizinischen und psychologischen Notlagen kümmert und die Linderung ihrer Beschwerden zum Ziel hat. Daher sehen sich besonders Kliniker und Therapeuten in der Pflicht, für ihre muslimischen Patienten angemessene Therapien zu entwickeln, die nicht nur deren spirituelle und religiöse Bedürfnisse ausreichend berücksichtigen, sondern auch gleichzeitig fest im Islam verwurzelt sind. Dies umso mehr, als viele säkulare Modelle Spiritualität und Religion und damit auch die islamische Lebensweise nicht ausreichend berücksichtigen, die im Islam jedoch eine zentrale und ungleich höhere Bedeutung als z. B. im Christentum besitzt. Des Weiteren verfügen die meisten Kliniker nicht über eine umfassende Ausbildung in den islamischen Wissenschaften inklusive der Philosophie, die zur Entwicklung theoretisch fundierter psychologischer Konzepte erforderlich wäre. Außerdem fehlt ihnen dadurch die Expertise, westliche bzw. moderne wissenschaftliche Konzepte aus einer islamischen Perspektive differenziert zu beurteilen. Da es andererseits den Theologen und Rechtsgelehrten an einer wissenschaftlichen medizinischen und psychologischen Ausbildung mangelt, wird angesichts des komplexen Gegenstands auf Dauer nur eine intensive interdisziplinäre Zusammenarbeit zu befriedigenden Ergebnissen führen.
Darstellung des Westens und der westlichen Psychologie
Angesichts des Fehlens einer klar umrissenen Definition einer islamischen Psychologie und ihrer wissenschaftstheoretischen Grundlagen wird die Diskussion um eine islamische Psychologie stark von der Betonung der Grenzen und damit von dem bestimmt, was sie nicht ist: nämlich „westlich“. Eine genauere Beschreibung oder gar Definition dieser „westlichen Psychologie“ bleibt allerdings aus. Bei aller erforderlichen kritischen Würdigung „westlicher“ theoretischer Positionen werden in teilweise grotesker Unkenntnis wesentlicher Fakten Zusammenhänge und Entwicklungslinien konstruiert, die selbst grundlegenden wissenschaftlichen Ansprüchen nicht genügen. So sieht Rashid Hamid (1977, in diesem Band) die Wahrnehmung des Menschen als Statthalter Gottes dadurch gefährdet, dass sich nach Darwin der Mensch aus dem Affen entwickelt habe, auch habe nach Shah die Verwendung eines säkularen Wissenschaftsansatzes zu schwulen und lesbischen Ehen, vorehelichem Sex, Altersheimen und ähnlichen Problemen geführt. Die westliche Psychologie sei verantwortlich für die Anlage-Umwelt-Kontroverse (Abdullah, 2011) und ist vollständig „von der westlichen gottlosen Weltanschauung des säkularen Humanismus beeinflusst“ (Badri, 2012, S. 5, in diesem Band).
Die Einseitigkeit der Wahrnehmung der westlichen Gesellschaft und Wissenschaft als vermeintlich materialistisch und gottlos führt dazu, dass bei aller berechtigten Kritik aus islamischer Perspektive viele muslimische Forscher das Kind mit dem Bade ausschütten und interessante und brauchbare Ansätze für die eigene Arbeit nicht fruchtbar machen können. So greifen viele Autoren ausschließlich auf die Gründer der großen Schulen zurück, insbesondere auf Sigmund Freud und B.F. Skinner, und vernachlässigen die Entwicklungen der Folgezeit, die sich selbst als Paradigmenwechsel verstehen wie die Selbstpsychologie oder die Objektbeziehungstheorie (Santer, 2003), die aus einer islamischen Perspektive viele Anregungen bereithalten (Rüschoff & Kaplick, 2018). Die Kritiker übersehen außerdem, dass in den letzten Jahren die Themen Religion und Spiritualität in den USA und zunehmend auch in Europa und speziell in Deutschland auf zunehmendes Interesse stoßen und diese vermehrt in die Theoriebildung und die Behandlungspraxis einbezogen werden (Utsch, 2005; Utsch et al., 2017).
Die teilweise pauschale Ablehnung und vorurteilsbehaftete Wahrnehmung aller westlichen Psychologie lässt sich zwar vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen und dem Gefühl einer Vereinnahmung durch den Westen mit seinen Universalisierungsansprüchen nachvollziehen, beruht jedoch auch auf einem zu engen Verständnis von Islam, welches häufig nur das gelten lässt, was direkt aus Qur’an und Sunna, den islamischen Primärquellen, zu belegen bzw. ableitbar ist. So beschreibt Moughrabi (2000, S. 367, in diesem Band) die Arbeit muslimischer Psychologen größtenteils als Versuch aufzuzeigen, „dass der Qur’an und die Hadithe wichtige und vollständige Repositorien psychologischer Theorie sind, die muslimischen Gesellschaften nutzbringender als die westliche Psychologie sind“. Tariq Ramadan vertritt dagegen eine andere, weitere Perspektive, wenn er feststellt, dass es zwar nur einen Islam gibt, die Muslime aber die aktuellen Bedingungen ihrer Gesellschaften berücksichtigen müssen und deren Errungenschaften nicht einfach ablehnen dürfen (Ramadan, 2001). „Im Bereich der sozialen Angelegenheiten (mu’âmalât) sind alle Mittel oder Instrumente, Traditionen, Künste oder Bekleidungen, die nicht an sich oder durch den Gebrauch, der von ihnen gemacht wird, in Widerspruch zu islamischen Geboten stehen, nicht nur annehmbar, sondern per definitionem islamisch“ (Ramadan, 2001, S. 245 f.). Diese Position war die meiste Zeit der islamischen Geschichte Orientierung für die Muslime (Bauer, 2011), nur so konnte der Islam zu einer Weltreligion werden und die unterschiedlichsten Kulturen von der iberischen Halbinsel bis Indonesien integrieren. Diese Auffassung lässt auch für einen europäisch geprägten Islam genügend Spielraum und für eine Integration seiner Wissenschaftskultur, die islamischem Geist entspricht.
Interner Diskurs
Überblickt man die vorhandene Literatur zum Thema, so fällt auf, dass viele Beiträge sowohl die Arbeit früher muslimischer Gelehrter als auch die existierende aktuelle Literatur zum Thema nicht berücksichtigen. Das führt zu ständigen Wiederholungen grundsätzlicher Positionen wie z. B. der Haltung gegenüber den unterschiedlichen Menschenbildern von westlicher Wissenschaft und im Islam oder bzgl. Aussagen zur menschlichen Natur aus islamischer Perspektive, ohne dass auf bestehende Literatur Bezug genommen wird.
In der Gesamtsicht müssen die wissenschaftlichen Standards in Arbeiten zu Islam und Psychologie deutlich verbessert werden. So sind z. B. Vahab (1996b, in diesem Band) und S.H. Khan (1996, in diesem Band) aus historischen Gründen und nicht aus Gründen wissenschaftlicher Qualität in diesem Sammelband vertreten. Im Vergleich zu diesen Arbeiten sind neuere Beiträge bereits qualitativ hochwertiger, jedoch muss diese Entwicklung weiter bestärkt werden. Eng damit verbunden ist die Tatsache, dass in der Literatur keinerlei Beiträge zu finden sind, die sich kritisch mit der Qualität und thematischen Ausrichtung der Literatur auseinandersetzen.
Festzustellen ist ferner, dass die bestehende Literatur die Diversität der islamischen Community weltweit widerspiegelt. Viele Arbeiten sind auf der Grundlage von islamischer Mystik oder aus der Perspektive der Shi’a entstanden (z. B. Dasti & Sitwat, 2014, in diesem Band; Keshavarzi & Haque, 2013; Maynard, 2008, in diesem Band; Skinner, 1989, 2010). Damit diese unterschiedlichen Herangehensweisen fruchtbar werden können und nicht als feindliche Landnahme abgelehnt werden, ist die geforderte Klarheit nicht nur in wissenschaftlicher, sondern auch aus islamischtheologischer Sicht von Bedeutung.
In 2 Wochen widmen wir uns dem Ausblick.
Über diese Blogreihe
Nachdem wir uns im IASE Blog bereits den Themenfeldern „Die Terra Incognita der islamischen Psychologie“ und den „Instituten und Vereinigungen muslimischer Psychologen“ zugewandt haben, beschäftigen wir uns in dieser Blogreihe detaillierter mit der Literatur zum Thema islamische Psychologie in ihrer geschichtlichen Entwicklung und ihrem Gegenstand. Diese Blogreihe erscheint alle zwei Wochen am Sonntag. Die Inhalte sind aus der theoretischen Einführung in den Sammelband „Islam und Psychologie – Beiträge zu aktuellen Konzepten in Theorie und Praxis“ entnommen, der zum Beispiel hier erhältlich ist. Darin findet Ihr auch ein Literaturverzeichnis für die verwendeten Quellen.