Kritische Würdigung: Wissenschaftstheorie und Methodik

Abgesehen von einzelnen Arbeiten aus den 1960er Jahren wird eine intensive Diskussion um den Themenkomplex Islam und Psychologie weltweit jetzt seit gut 40 Jahren geführt. Beim Überblick über die publizierte Literatur und den Diskussionsstand muss man allerdings konstatieren, dass die Diskussion um Islam und Psychologie und der Versuch, eine indigene Psychologie des Islam bzw. eine Psychologie auf einer islamischen Grundlage zu entwickeln, noch tief in Kinderschuhen steckt und erst am Beginn seiner Entwicklung steht. Berücksichtigt man die Diversität der Kulturen, in denen der Islam als Weltreligion im Laufe seiner Geschichte heimisch geworden ist und die enge Verbindung psychologischer Fragestellungen mit diesen Kulturen (Stellung des Individuums, angemessenes vs. abnormes Verhalten, Sozialisationsbedingungen, Konfliktlösungsmodelle, Erziehungsvorstellungen, Partnerschaftsmodelle u. v. m.), ist es nahezu unvermeidlich, dass hier unterschiedlichste Vorstellungen von Psychologie, ihrem Charakter als Wissenschaft, ihren Grundlagen und Zielen aufeinander treffen. Erschwert wird die Situation zusätzlich noch durch den Anspruch, Psychologie mit der Religion zu verbinden, womit die Frage nach der Wahrheit und Absolutheitsansprüchen in die Diskussion eingeführt wird.

Islamische Quelltexte als Axiome – wissenschaftstheoretische Aspekte

Aus der Perspektive der Religionspsychologie ist für die Mehrheit der bisher erschienenen Arbeiten der Islam und Psychologie-Strömung festzustellen, dass die Autoren überwiegend aus einer theologischen Perspektive heraus agieren. Es wird eine religiöse Grundhaltung eingenommen und diese sowie die islamischen Quelltexte als Axiome in die Diskussion eingeführt. Möglicherweise haben deren Fragestellungen aber keine oder nur eine geringe Relevanz für den eigentlichen psychologischen Gegenstand des Diskurses (Kaplick, 2018). Dies verdeutlicht das dringende Erfordernis der Klärung  der wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen und des Verhältnisses von Religion (Islam) und Wissenschaft (Psychologie), die auch in der religionspsychologischen Forschung lange Zeit nicht ausreichend erfolgte (Utsch, 1998). „Eine Vermischung der für diese beiden Bereiche streng zu trennenden, wissenschaftstheoretisch begründeten Vorgehensweisen führt zu Unstimmigkeiten, Einschränkungen und/oder Überschreitungen des psychologischen Gegenstandes, der dazugehörigen Theorie und Forschungsmethode“ (Utsch, 1998, S. 48). So kritisieren Dasti und Sitwat zwar die Abänderung verschiedener Fragen ihrer Untersuchung unter pakistanischen Studenten durch Religionsgelehrte wegen ihres vermeintlich anstößigen oder glaubensschädigenden Charakters, sehen diese jedoch im Zusammenhang mit den speziellen kulturellen Voraussetzungen in Pakistan und schränken die Aussagefähigkeit der Arbeit entsprechend ein (Dasti & Sitwat, 2014, in diesem Band). Sebastian Murken, ein deutscher, nichtmuslimischer Religionspsychologe, stellte daher in der Diskussion mit Shah die Frage, ob es angesichts derart unterschiedlicher Ausgangspositionen muslimischen Forschern überhaupt möglich sei, mit anderen zusammenzuarbeiten, die den islamischen Rahmen nicht teilen (Murken & Shah, 2002, in diesem Band). Shah vertritt eine klare Rangfolge innerhalb eines islamischen Untersuchungsrahmens, an deren erster Stelle der Qur’an steht, gefolgt von Sunna, Ijma (Konsens der Gelehrten) und Qijas (Analogieschluss im Rahmen des islamischen Rechts), wobei für ihn ausschließlich die letzte Methode mit wissenschaftlicher Untersuchung nach westlichem Verständnis gleichzusetzen ist. Sogar der Konsens der Gelehrten (Ijma) wird als Axiom behandelt und nicht kritisch hinterfragt. Murken dagegen vertritt als Religionspsychologe das bereits 1903 vom Schweizer Psychologen Théodore Flournoy eingeführte Prinzip des Ausschlusses der Transzendenz (Murken & Namini, 2006), was bedeutet, dass sich „Religionspsychologie immer nur auf die psychologischen Aspekte des Religiösen beziehen kann; die Fragen nach der Wahrheit religiöser Vorstellungen und der Existenz religiöser Entitäten müssen ausgeklammert bleiben“ (Moosbrugger & Zwingmann, 2004, S. 11) und können bestenfalls im Rahmen einer religiösen/theologischen Psychologie behandelt werden. Vor diesem Hintergrund ist es wenig verwunderlich, dass in der Strömung keine nichtmuslimischen Stimmen zu vernehmen sind, die jedoch in Seminaren zur islamischen Psychologie erfahrungsgemäß wertvolle Beiträge liefern.

Methodologie der Definitionen der islamischen Psychologie

Auch über die wissenschaftliche Standortbestimmung hinaus wird in der Literatur deutlich, dass die vorliegenden Definitionen einer islamischen Psychologie keiner bestimmten Methodologie folgen, sondern in erster Linie von der Ausbildung der Autoren und der daraus folgenden Interessenlage bestimmt wird. Gerade weil sich z. B. in der Versorgung der Bevölkerung tätige Psychologen, Psychiater, Psychotherapeuten oder Berater, forensisch tätige Gutachter, theoretisch forschende Psychologen an Universitäten aus den unterschiedlichsten Disziplinen, aber auch Soziologen  Anthropologen, Religionswissenschaftler, islamische Rechtsgelehrte, Juristen usw. mit diesem Themenfeld auseinandersetzen, sind unterschiedliche Definitionen denkbar und wahrscheinlich. Aus diesem Grund muss auch die Methodologie deutlich gemacht werden, mit der eine Definition erarbeitet wird: welches Teilgebiet der Psychologie und des Islams wird vorwiegend berücksichtigt, welche Themen stehen dabei im Zentrum, auf welche Methoden wird zurückgegriffen und auf welcher Ebene (z. B. sozial- oder neuropsychologisch) wird dabei gearbeitet (York Al- Karam, 2017)? Um diese vielschichtige Situation zu strukturieren und einer Klärung der Frage näherzukommen, was eine islamische Psychologie ist, schlägt z. B. Carrie York Al-Karam für das voraussichtlich im April 2018 stattfindende Seminar Islamic Psychology: Defining a Discipline-Seminar des Research Centre for Islamic Legislation and Ethics (CILE) in Qatar vor, in einem ersten Schritt auf das Multilevel Interdisciplinary Paradigm als methodologisches Hilfsmittel aus der Psychologie der Religion und Spiritualität zurückzugreifen (Paloutzian & Park, 2005, 2013).

Psychologische Fachterminologie

Die Literatur zeigt weiter, dass sich die Autoren tendenziell wenig an wissenschaftlicher Fachterminologie und psychologischer Nomenklatur orientieren (z. B. Mohamed, 1995, in diesem Band; Abdul Razak, M.A., 2011). Dies ist bei der häufig geäußerten Kritik an westlicher Psychologie, aus der diese Nomenklatur stammt, zwar zu erwarten, führt aber zu einer Beliebigkeit, die eine Kommunikation über die Ergebnisse mangels Vergleichbarkeit erheblich erschwert. Der häufige Bezug auf die islamischen Quellen und die Werke früherer Gelehrter, die mangels Fehlens eines abgegrenzten Wissenschaftsbereiches Psychologie und der daraus folgenden speziellen Fragestellungen natürlich philosophisch-theologische Termini benutzten, führt weiterhin zu einer unscharfen Definition zentraler Begriffe wie Fitra usw., wie Hisham Abu-Raiya (2012, in diesem Band) an Abu Hamid Al-Ghazali kritisiert.

In 2 Wochen setzen wir die kritische Auseinandersetzung fort und beschäftigen uns mit konkreten Inhalten.

Über diese Blogreihe

Nachdem wir uns im IASE Blog bereits den Themenfeldern „Die Terra Incognita der islamischen Psychologie“ und den „Instituten und Vereinigungen muslimischer Psychologen“ zugewandt haben, beschäftigen wir uns in dieser Blogreihe detaillierter mit der Literatur zum Thema islamische Psychologie in ihrer geschichtlichen Entwicklung und ihrem Gegenstand. Diese Blogreihe erscheint alle zwei Wochen am Sonntag. Die Inhalte sind aus der theoretischen Einführung in den Sammelband „Islam und Psychologie – Beiträge zu aktuellen Konzepten in Theorie und Praxis“ entnommen, der zum Beispiel hier erhältlich ist. Darin findet Ihr auch ein Literaturverzeichnis für die verwendeten Quellen.