Aus der Schatzkiste. Die Wenigsten wissen, dass die IASE seit den 1980er Jahren existiert. Wir haben alte Tagungsbeiträge ausgesucht, um sie wöchentlich hier zu posten. Viel Vergnügen beim Lesen.


Ibrahim Rüschoff

 

Im Folgenden sollen in einem ersten Schritt einige Bemerkungen zur Situation der psychosozialen Versorgung der Muslime gemach werden, dann folgen einige Grundsätze zum Islam, die für eine Beratung von Belang sind. Daraus möchte ich in einem zweiten Schritt einige Folgerungen für eine islamische psychosoziale Beratungsarbeit ableiten, um zum Schluß wichtige Aspekte der Praxis zu beleuchten und einige Hinweise auf islamische Aktivitäten in dieser Richtung zu geben. Die Begriffe Berater/Therapeut werden hier sowohl synonym als auch für beide Geschlechter benutzt.

 

 

Wie ist die aktuelle Situation (1998)?

 

Seit über dreißig Jahren leben Tausende ausländische Mitbürger unter uns, inzwischen sind es mehrere Millionen, davon über 2 Mio. Muslime. Sie sind ein nicht mehr wegzudenkender Teil unserer Gesellschaft geworden und prägen sie als deutsche und ausländische Mitbürger mit.

Die psychosoziale Versorgung von Muslimen in Deutschland erfolgt nicht zuletzt auch aus historischen Gründen nahezu ausschließlich aus der Perspektive einer Ausländerberatung, allenfalls noch unter kulturellem Aspekt. Inzwischen erfordert die Situation der zweiten und der heranwachsenden dritten Generation, die fließend Deutsch spricht, jedoch andere Schwerpunkte und vor allem eine Trennung von der Ausländerfrage, da die meisten dieser Mitbürger Deutschland als ihre Heimat ansehen und hier auch auf Dauer leben werden.

Wichtigstes Problem der muslimischen Bevölkerungsgruppe ist auch in Zukunft die Integration in unsere Gesellschaft, die bei Religionen, die vom Christentum so verschieden sind wie das Judentum und der Islam, nicht so leicht erfolgt wie bei den hier lebenden katholischen Italienern oder auch orthodoxen Griechen.

Sieht man die deutschsprachige Literatur zur Migrationspsychologie /-psychiatrie durch, so erscheint das Thema Islam sehr selten. Auch beim Stichwort „Integration“ wird der Islam nur wenig berücksichtigt. Das erklärt sich einerseits daraus, dass den (oft nichtmuslimischen) Autoren hier zumeist die entsprechende Kompetenz fehlt. Darüber hinaus ist jedoch zu vermuten, dass diese Tatsache auch Einstellungen deutlich macht, die den Islam als fremde, unzeitgemäße Erscheinung und als ein zu überwindendes Integrationshindernis wahrnehmen. Die Hinwendung der Muslime zu ihrer Religion wird fast ausschließlich unter dem Aspekt einer Radikalisierung durch wirtschaftliche und gesellschaftliche Benachteiligung gesehen. Das Kopftuch einer Muslimin wird als bedrohlich empfunden und dem negativen Einfluß uneinsichtiger Väter und Ehemänner zugerechnet, kaum jedoch als Ausdruck einer positiven, islamischen Identität seiner Trägerin verstanden.

 

 

Warum islamische psychosoziale Beratung und welchen Zielen dient sie?

 

Jeder, der Muslime kennt, weiß, wie weit der Islam das Leben praktizierender Muslime prägt. Wie ist das zu erklären?

Das Selbstverständnis des Islam als Religion unterscheidet sich (wie das Judentum) grundlegend von dem des Christentums: Kein Aspekt des täglichen Lebens wird als zu gering geachtet, um nicht als Gottesdienst verstanden zu werden. Eine Unterscheidung in „profan“ und „sakral“ existiert als Folge der konsequent monotheistischen Gottesauffassung nicht. Aus der Einheit Gottes folgt die Einheit der Welt. Jede Handlung des Menschen (auch psychosoziale Beratung!), sogar Schlafen, Wachen, Essen und Trinken, ist Gottesdienst, soweit der Mensch sie vollzieht, um vor Gott wohlgefällig zu handeln (vgl. Falaturi 1982). Das verleiht dem Islam einen ausgeprägten Handlungscharakter, er wird zu einer „geheiligten“ Lebensweise, die dem Menschen auf dem Weg zu seiner Vervollkommnung Hilfe und Unterstützung leisten soll. Das bedingt religiöse Regeln und Gebote, die den Tageslauf merklich prägen.

Die wichtigste Konsequenz aus dieser Tatsache im Beratungs- und Therapiegeschehen mit Muslimen ist, dass sich Therapeut und Klient immer auf religiösem Gebiet bewegen. Dieser Aspekt ist dem säkularisierten Menschen der westlichen Welt erfahrungsgemäß am schwierigsten zugänglich und führt immer wieder zu schwerwiegenden Mißverständnissen. Ob Therapeuten und Berater wollen oder nicht, sie behandeln mit ihren Klienten Themen, die sie bei Christen eher dem Seelsorger überlassen würden. Fragen der Geldanlage, Erbangelegenheiten, der Kindererziehung und des Ehelebens haben für praktizierende Muslime dieselbe religiöse Bedeutung wie das Gebet und das Fasten und sind keineswegs beliebig lösbar. Ein praktizierender Muslim wird großen Wert darauflegen, dass die möglichen Problemlösungen mit dem Islam in Übereinstimmung stehen bzw. diesem nicht widersprechen. Es ist offensichtlich, dass ein nichtmuslimischer Berater/Therapeut hier schnell überfordert ist. Er müßte nicht nur einzelne islamische Regeln und Gebote kennen, nicht nur die Verfahrensweisen z.B. bei einer Ehekrise bzw. Scheidung beherrschen, sondern diese auch in die Gesamtheit islamischer Lebenspraxis in einer nichtmuslimischen Gesellschaft einordnen. Er müßte ein umfangreiches Wissen der religiösen Grundlagen (Koran und Sunna) haben. Doch selbst dann wäre es für ihn als Nichtmuslim sehr problematisch und eigentlich unmöglich, die Zulässigkeit bestimmter Lösungen aus islamischer Perspektive zu beurteilen und sie dem Klienten möglicherweise zu empfehlen. Aber auch ein islamischer Berater/Therapeut wird hier schnell an seine Grenzen stoßen und ohne eine spezielle Weiterbildung und Kontakte zu Fachgelehrten nicht auskommen.

Im Folgenden soll eine islamisch orientierte, psychosoziale Beratung auf drei Ebenen betrachtet werden: Auf einer ersten, allgemeinen Ebene ist das Ziel jeder Beratung eine Konfliktlösung, verbunden mit einer verbesserten Fähigkeit zur Selbsthilfe und Eigenverantwortlichkeit. Dieses entspricht ohne Einschränkung einer islamischen Sichtweise, nach der Mensch sich eigenverantwortlich handelnd Gott anheimstellt und sich dafür am Tage des Gerichts verantworten muß. Eine dergestalt orientierte Beratungsarbeit ist nicht nur für Muslime, sondern für alle Menschen möglich.

Auf einer zweiten, speziellen Ebene erlangt eine islamisch orientierte Beratung eine zusätzliche Dimension vor dem Hintergrund des islamischen Menschenbildes: Der Muslim ist aus islamischer Perspektive stets ein zweifach Bezogener: Seine Beziehung zu Gott ist geprägt durch das göttliche Element, das der Mensch seit seiner Erschaffung in sich trägt (Koran 32:9) und seine Natur (fitra) auf die Gottergebenheit, d.h. Islam, ausrichtet. Andererseits ist er stets Mitglied seiner Gemeinschaft, der Umma. In ihr wirkt Gott auf eine besondere Weise, in dem er ihre Rechte zu seinen eigenen macht und so in ihr gewissermaßen präsent wird. Hierdurch ist die Umma mehr als nur die Summe ihrer Mitglieder und erhält – psychologisch gesehen – eine eigene Gestaltqualität.

Das islamische Menschenbild ist von Optimismus, aber auch von Realitätssinn geprägt. Der Mensch beherbergt den Geist Gottes in sich und verfügt über die Anlage zu Entwicklung und Vervollkommnung, die in Erziehung und Bildung gefördert und in der Beratung genutzt werden kann. Er ist zwar auch sündhaft und schwach, jedoch nicht grundsätzlich verworfen. Schuld und Reue werden streng persönlich verstanden, es existiert kein Raum für eine grundsätzliche Erlösungsbedürftigkeit, da Gott dem wirklich Reumütigen verzeiht. Die Freiheit des Menschen bedingt einerseits seine Größe unter den Geschöpfen, andererseits jedoch auch seine Eigenverantwortlichkeit und damit die Möglichkeit des Scheiterns.

Für das Verhältnis der Muslime untereinander ist der Gedanke der Brüderlichkeit bestimmend, die ein Symbol für die Gemeinschaft darstellt (Koran 3:103). Die Brüderlichkeit hat im Islam eine ganz besondere Färbung und unterscheidet sich von bloßer Philanthropie nicht zuletzt dadurch, dass der Muslim seinen Glaubensbruder sozusagen „per oculos dei“ als unverzichtbaren Teil der Umma erlebt. Diese Gemeinschaft charakterisiert der Prophet als einen Körper, der insgesamt leidet, wenn ein Glied erkrankt ist. Darüber hinaus ist es Aufgabe der Gemeinschaft, „Frieden zu stiften“ (Koran 49:10). Das bedeutet auch, (psychische) kranken Mitgliedern zu helfen, den eigenen Mittelpunkt wieder zu erlangen, wodurch erst ein friedvoller Umgang miteinander möglich wird.

Ziel einer islamischen Beratung ist es auf dieser Ebene, dem Klienten zu helfen, wieder zu einem ausgewogenen, ihm gemäßen, selbst gestalteten und verantworteten Verhältnis zu Gott und der Gemeinschaft zu gelangen.

Kam bisher die Bedeutung einer islamischen Beratung für die Muslime und ihre Gemeinschaft zur Sprache, so will der Islam als Weltreligion und in seinem Selbstverständnis als friedensstiftende Daseinsordnung seiner Verantwortung Gott und der Welt gegenüber gerecht werden und als Teil unserer gesellschaftlichen Realität zu einem gedeihliches Miteinander beitragen. Daher hat eine islamische psychosoziale Beratung eine wichtige Bedeutung auch auf einer aktuellen gesellschaftlichen Ebene: Aus dem oben beschriebenen Handlungscharakter des Islam und seinen praktischen Konsequenzen im Alltag ergibt sich für Muslime in einer nichtmuslimischen Gesellschaft die Notwendigkeit, Anforderungen der Umwelt (Schule, Beruf etc.) mit den eigenen Vorstellungen einer islamischen Lebensweise in Einklang zu bringen. Dabei ist von außerordentlicher Bedeutung, dass eine zufriedenstellende Integration sowohl des Islam als auch der Muslime in die bundesrepublikanische Gesellschaft gelingt, nicht zuletzt um den sozialen Frieden zu sichern. Integration kann jedoch nicht einfach Assimilation oder unkritische Übernahme der Sitten und Gebräuche der Umgebung bedeuten, sondern aktive Teilnahme am gesellschaftlichen und politischen Leben der Gesellschaft unter Wahrung der religiösen Identität. Damit diese gelingen bzw. erhalten werden kann, muß die Gesellschaft den Muslimen zur eigenen Lebensgestaltung Freiräume einräumen, über die z.B. die Kirchen auch verfügen (Moscheebau, Schulen in privater Trägerschaft, Religionsunterricht, Anspruch auf Urlaub an Festtagen etc.).

Viele der ursprünglich als Arbeitsmigranten eingereisten Muslime stammen aus wirtschaftlich schwach entwickelten Gebieten und verfügen oft nur über eine unzureichende allgemeine und religiöse Bildung. Sie halten ihre Lebensweise für islamisch und bemerken die Verquickung mit regionalen, orientalischen Traditionen nicht. Nicht die Religion, der Islam, sondern gerade diese Vermischung erweist sich als größtes Integrationshindernis, was besonders bei der Behandlung der Frau deutlich wird. Islamische psychosoziale Beratung soll nun den Menschen helfen, ihre islamische(?) Lebensweise auf ihre religiösen Grundlagen (Koran und Sunna) hin zu befragen und davon kulturelle Bestandteile zu unterscheiden (z.B. Verheiratung der Kinder durch die Eltern, Verbannung der Frau aus der Öffentlichkeit, „Başlik“ etc.). Ein Islam in Europa darf kein orientalisches, sondern muß ein europäisch-islamisches Gesicht haben, es widerspräche sonst seinem Charakter als Weltreligion. So verstanden leistet eine islamische Beratung eine äußerst wichtige Hilfestellung bei der gesellschaftlichen Integration von Muslimen. Das wird besonders deutlich, wenn man bedenkt, dass für das angesprochene Klientel derzeit vor allem die Hocas in den Moscheen als Ansprechpartner bei Problemen dienen. Diese Hocas werden, zumindest in den Moscheen der türkischen Religionsbehörde, regelmäßig ausgewechselt, sprechen (vielleicht deshalb?) zumeist nahezu kein deutsch, bewegen sich fast nur im Umfeld der Moschee und haben so kaum Zugang zur Lebenswirklichkeit ihres Klientels und der Gesellschaft. Integrationshilfe ist auf diese Weise nicht möglich.

Ein Großteil der muslimischen Jugend (insbesondere auch der Mädchen) fühlt sich von dem in Elternhaus vermittelten Islambild kaum noch angesprochen und gerät dadurch in ein religiös-lebenspraktisches Normenvakuum, das bei gleichzeitiger gesellschaftlicher Benachteiligung durchaus soziale Brisanz besitzt. Hier kann eine islamische psychosoziale Beratung zeitgemäße und gleichzeitig islamische Alternativen aufzeigen und somit auch versuchen, Normen- und Ethikverlust zu begegnen. Dabei ist eine auf Gott und die Religion gegründete Ethik der wirksamste Schutz gegen Radikalisierung, Kriminalität und die unkritische Übernahme aller möglichen negativen gesellschaftlichen Leitbilder.

Islamische psychosoziale Beratung versteht sich somit als Ergänzung des bestehenden Spektrums von Beratungsangeboten vorzugsweise für eine bisher unterversorgte Bevölkerungsgruppe, die als praktizierende Muslime durch ihre Religion und Lebensweise spezielle Anforderungen an Beratung und Berater stellt.

 

 

Wie ist eine islamische Beratung grundgelegt – was macht das Islamische aus?

 

Islamische Beratung erfolgt auf der Grundlage und aus dem Geist der koranischen Offenbarung sowie der islamischen Überlieferung und orientiert sich an zentralen Begriffen wie Barmherzigkeit (rahma), Gottesfurcht (taqwa), Gerechtigkeit (cadl) und Toleranz (tasamuh).

Wir haben vor einigen Jahren in einem Vortrag von A. Falaturi etwas über die gesunde und die gestörte Seele gehört. Zum Menschenbild habe ich eben einige Ausführungen gemacht, die das Thema jedoch nur knapp streifen können und in der Konzeptgruppe vertieft werden müssen.

Neben Krankheitsverständnis und Menschenbild ist die Frage angemessener Therapie- und Beratungs-methoden für die Praxis von unmittelbarer Bedeutung.

Die Diskussion um eine islamische Psychotherapie und damit auch um islamische Therapieverfahren wird teilweise sehr kontrovers geführt. Die Positio­nen reichen von einer totalen Ablehnung westlicher Methoden und Schulen bis hin zu deren unkritischer Übernahme. Die Psychoanalyse ist zumeist das Paradebeispiel einer „gottlosen“ Psychotherapie, die den Menschen als Triebbündel sieht, und dass Freud Jude war, ist auch nicht gerade von Vorteil. Ähnliches gilt für die Verhaltenstherapie und das Menschenbild Skinners. Hier wird auch heute immer noch auf die Aussagen der Schulengründer recurriert und die weitere Ent­wicklung der Therapierichtung kaum berücksichtigt.

Wie können dieses Thema in der Diskussion noch aufgreifen, hier jedoch soviel zu meiner eigenen Position:

Wie ist das Weltbild der Naturwissenschaften, zu denen sich ja auch die Medizin zählt? Vereinfacht gesagt, beschränken sie sich methodisch darauf, die Welt einmal unter dem Aspekt zu betrachten, was sich an ihr zählen, wiegen und nach den Gesetzen der Logik erfassen läßt. Gott läßt sich auf diese Weise nicht handhaben und erfahren und bleibt daher außerhalb der Diskussion, obwohl wir als Muslime wissen, dass er sehr wohl ständig präsent ist und wirkt. Durch diese methodische Beschränkung können Wissenschaftler aller Religionen und Kulturen zu denselben Ergebnissen gelangen. Auch muslimische Wissenschaftler rechnen und forschen nach denselben mathematischen und chemischen Formeln und operieren mit denselben Methoden. Das können sie auch getrost, denn sie wissen, dass es sich hier um Abbildungen, um methodisch abstrahierte Vorstellungen des Menschen handelt. Die wissenschaftlichen Metho­den sind gewissermaßen mehr oder weniger genaue „Landkarten“ des Menschen und der Welt, und nur in der Psychologie scheint die Gefahr zu bestehen, diese mit den Landschaf­ten selbst zu verwechseln. Wenn ich z.B. einen Patienten mit einer isolierten Pho­bie behandeln muß, dann werde ich Verhaltenstherapie anwenden, weil das die Methode der Wahl ist und schnell hilft, auch wenn der Begründer der VT ein Menschenbild hatte, dass aus islamischer Sicht viel zu kurz greift.

Die Benutzung „etablierter“ Verfahren erfordert allerdings, dass wir sie kritisch im Licht des Islam be-trachten und bei eindeutigen Widersprüchen (z.B. viele sog. Körperverfahren in der „Psychoszene“) aussortieren. Die Benutzung „etablierter“ Verfahren erfordert aber auch, dass wir ständig darum bemüht sein sollten, auch in den Wissenschaften Methoden bzw. „Landkarten“ zu entwickeln, die der Landschaft möglichst nahekommen, d.h. unser islamisches Menschen- und Weltbild umfassend enthalten. Dieses Bemühen kann man dann „Islamisierung der Wissenschaften“ nennen, und aus dieser Sicht braucht sich auch kein Nichtmuslim zu ängstigen.

Das Islamische in der Beratung/Therapie wird so von drei Seiten bestimmt:

Von den Grundlagen: Das Welt- und Menschenbild und Krankheitsverständnis, wie es in Koran und Sunna zutage tritt.

Von den Methoden: Diese werden aus der Sicht des Islam kritisch beurteilt und ggf. auch verworfen.

Von der Klientel: Hilfe bei der Verwirklichung eines islamischen Lebensstiles, besonders in einer nichtislamischen Umgebung mit der Notwendigkeit der Integration und Teilnahme.

 

 

Wie kann eine islamisch grundgelegte psychosoziale Beratung/Therapie in der Praxis aussehen?

 

Gibt es überhaupt einen Bedarf seitens der Klienten?

Die psychosoziale Versorgung der ausländischen Mitbürger und damit auch der Muslime läßt sehr zu wünschen übrig. Der Bedarf an gut ausgebildeten, zweisprachigen Beratern und Therapeuten, die auch Erfahrungen mit dem kulturellen Hintergrund ihrer Klienten haben, ist groß und nicht annähernd gedeckt. So wird auch in Zukunft im Spektrum der psychosozialen Versorgung für Muslime ein bikultureller und auch muttersprachlich orientierter Beratungsansatz unverzichtbar sein und einen hohen Stel-lenwert behalten, wurzeln doch viele Probleme der Ratsuchenden in interkulturellen Konflikten.

Andererseits leben nicht nur allein 600.000 türkische Jugendliche in Deutschland, die zumeist hier aufgewachsen sind, sondern auch 500.000 Muslime mit deutschem Paß, davon ca. 150.000 deutscher Abstammung. Therapeuten, von denen bekannt ist, dass sie praktizierende Muslime sind, erhalten gerade wegen dieser Eigenschaft immer wieder Nachfragen nach Beratungen oder Therapieplätzen. Die Ratsuchenden hoffen und vermuten, dass wir aus einem anderen Geist heraus tätig sind und sie hier eine Dimension einbeziehen können, die Gott quasi im Geschehen präsent sein läßt.

Aus diesen Gründen sollte eine islamische psychosoziale Versorgung dort, wo es notwendig ist, einen bikulturellen und auch bilingualen Ansatz verfolgen, darüber hinaus aber auch die Gewähr dafür bieten, dass islamische Aspekte und Ansätze soweit zum Tragen kommen können, wie sie der Klient als für sich verbindlich erlebt und akzeptiert.

Ein solchermaßen umfassender Ansatz fordert bestimmte Therapeuteneigenschaften. Neben den „klassischen“ Therapeutenvariablen Echtheit, Wertschätzung und einfühlendes Verstehen ist besonders die Identifikation des Beraters mit dem Islam von Bedeutung, denn gerade die setzt ein praktizierender Klient ja voraus. Der Klient muß seinem Gegenüber als Berater und Muslim sozusagen „doppelt vertrauen“ und absolut sicher sein können, dass ihm die in der Beratung vorgestellten Lösungen nicht nur weiterhelfen, sondern auch der islamischen Lehre nicht widersprechen. Berater sollten deshalb praktizierende Muslime sein, nicht zuletzt um auch eine unaufdringliche, aber ermutigende Vorbildfunktion geben zu können, dass man als Muslim auch in einer nichtislamischen Umgebung nach den Weisungen seiner Religion leben kann (vgl. Rüschoff 1989).

Die Echtheit des Beraters und seine Wertschätzung des Klienten verdienen besonders bzgl. der therapeutischen Neutralität besondere Beachtung. Ein praktizierender muslimischer Berater wird bei seinen Klienten sehr häufig mit einem Verhalten konfrontiert, das der islamischen Lehre widerspricht, dennoch in der Gesellschaft allgemein als akzeptiert gilt (z.B. Zusammenleben unverheiratete Paare), da natürlich auch muslimische Klienten das gesamte Spektrum von streng religiös bis säkularisiert bieten. Um hier eine gute Beratungsqualität sicherzustellen und eine unreflektierte Einflußnahme zu verhindern, sind eine umfassende Ausbildung in einem bewährten Therapieverfahren als auch ausreichende Selbsterfahrung und begleitende Supervision erforderlich.

Eine islamische psychosoziale Versorgung umfaßt neben der üblichen Einzel- und Familienberatung auch einen beträchtlichen Teil praktische Sozialarbeit. Der Klient wird nicht nur mit Sitten und Gebräuchen der Gesellschaft konfrontiert, sondern auch mit deren Rechtsnormen. Er benötigt evtl. Informationen zum Erb- und Familienrecht, zu Versicherungen u.a.m., da diese Dinge für ihn unter islamischen Gesichtspunkten eine wichtige Rolle spielen. Der Berater muß evtl. Kontakte zu Behörden und Schulen herstellen, Gespräche mit Lehrern, Erziehern und seinen Klienten führen u.a.m. Die genannten Aspekte unterstreichen die Notwendigkeit einer zusätzlichen umfassenden islamischen Ausbildung des Beraters, der verläßlich und glaubhaft sämtliche Möglichkeiten aber auch die Grenzen einer Adaptation gesellschaftlicher Strukturen und Elemente mit seinen Klienten ausloten muß.

An welche Klientel wendet sich eine islamische psychosoziale Beratung? Grundsätzlich ist sie, wie die katholische und evangelische Beratung auch, neutral und für alle Bürger offen und wendet sich daher auch an alle Ratsuchenden, gleich welcher Religion. Sie soll darüber hinaus jedoch einem praktizierenden muslimischen Klientel Zugang zu psychosozialen Versorgungssystemen verschaffen, das bisher mit seinen Schwierigkeiten allein geblieben ist, aus welchen subjektiven und objektiven Gründen auch immer. Der Klient muß dort abgeholt werden, wo er steht. Auch strenggläubigen Muslimen muß ein Zugang möglich und z.B. eine Beratung von Frauen durch Frauen und Männer durch Männer gewährleistet sein etc. Wie weit das alles gelingt, bleibt abzuwarten, der Versuch muß jedoch unbedingt unternommen werden.

 

 

Literatur

Falaturi, A.(1982): Tod-Gericht-Auferstehung in koranischer Sicht. In: Falaturi, A., W. Strolz, Sh. Talmon (Hg.): Zukunftsvorstellungen und Heilserwartung in den monotheistischen Religionen. Freiburg, Basel, Wien (Herder), S. 121-138.

Die Bedeutung des Koran (1996), 5 Bde., München (SKD Bavaria).

Rüschoff, S. Ibrahim (1989): Zur psychosozialen Versorgung der Muslime in der Bundesrepublik. In: Wege zum Menschen 41, S. 323-330.