Mit dem Namen ALLAHs, des Barmherzigen, des Allerbarmers, bismi ʾllāhi ʾr-raḥmāni ʾr-raḥīm

Author: Silvia Horsch

  • Lese-Ecke: Wem können wir vertrauen?

    Wem können wir vertrauen?

    von Danish Qasim
    übersetzt von Dr. Silvia Horsch

    Menschen, die andere spirituell missbrauchen, sind Hochstapler, die, wenn sie einfach zu entdecken wären, weniger erfolgreich agieren könnten. Aus diesem Grund musst Du vorsichtig sein und Dein eigenes Urteil über das der öffentlichen Meinung stellen. Lasse Dich niemals durch die Position einer Person dazu verleiten, dieser mehr zu vertrauen als Du es ohne diese Position tun würdest.

    Spirituelle Missbraucher arbeiten verdeckt, präsentieren sich selbst gut und nutzen ihren Dienst als Deckmantel, unter dem sie operieren. Der Weg, ihnen zu entgehen, besteht darin, ihre Taktiken zu erkennen, um ihnen nicht in die Falle zu gehen.

    Verwischte Grenzen

    Spiritueller Missbrauch beginnt oft mit Vorläufern, die nicht leicht als solche zu erkennen sind, denn die Manipulatoren nutzen Grauzonen und verwischen Grenzen, um ihr Opfer zu verwirren. Wenn z.B. ein Lehrer eine unerlaubte Beziehung oder eine heimliche Ehe anstrebt, kann es sein, dass er mit unangebrachten Scherzen beginnt, um die Grenzen aufzuweichen.

    Sie können auch andere auf eine Art berühren, die bei der betroffenen Person eine Irritation hinterlässt, ob diese erlaubt ist, etwa wenn Männer das Kopftuch einer Frau berühren und nicht direkt ihre Haut. Es kann sein, dass sie jemanden unpassend berühren auf eine Art, die sie oder ihn im Unklaren darüber lässt, ob die Berührung absichtlich war oder nicht.

    Unter dem Vorwand, dass es nur um die Arbeit geht, kann es zu frivolen Textnachrichten kommen. Grenzen können verwischt werden, indem ein koketter Inhalt angehängt oder Artikel versandt werden, in denen Polygamie gelobt wird oder Heiratsträume erwähnt werden. Die Empfängerin mag sich schwer tun, zu erkennen, was an all dem falsch ist, aber das Entscheidende ist: sie muss es gar nicht.

    Während es schwierig ist, solche Taktiken nachzuweisen, ist es nicht schwierig klarzumachen dass Du eine solche Art und Weise zu kommunizieren nicht willst und dass Du das nicht tolerierst.

    Du kannst Dich auf der Grundlage Deiner eigenen Grenzen aus der Situation zurückziehen.

    Eine der größten Herausforderungen in der Auseinandersetzung mit spirituellem Missbrauch liegt im fehlenden Mut, falsches Verhalten zu benennen und der Notwendigkeit, Unrecht zu belegen. Es kann sein, dass wir Angst davor haben, einen Lehrer in Frage zu stellen, der wissender ist als wir, wenn er eindeutig Verbotenes (haram) tut. Halal und haram werden jedoch von Allah definiert und kein Mensch hat das Recht, hier Korrekturen vorzunehmen. Wenn eine religiöse Führungsfigur eine Ausnahme von der Regel für sich oder ihre Schüler behauptet, ist das eine große, rote, leuchtende Warnflagge.

    Vorsicht vor Mobbing

    Wenn Du Mobbing erfährst oder beobachtest, musst Du verstehen, dass die Würde eines Muslims unverletzlich ist und es für dieses Verhalten keine Rechtfertigung als tarbiya (Reinigung des Charakters, spirituelle Entwicklung) oder als „Brechen des nafs“ (Ego) gibt. Wenn Du Dich nicht für einen Kurs zu spiritueller Erziehung angemeldet hast, akzeptiere keine spirituelle FührerInnen, die sich freiwillig andienen.

    Wenn Du Dich dafür angemeldet hast, achte darauf, ob strenger Tadel einen positiven oder einen negativen Effekt auf Dich hat. Wenn er einen negativen emotionalen, mentalen oder physischen Effekt auf Dich ausübt, ist es eindeutig nicht tarbiya, deren Zweck es ist, Dich aufzubauen.

     

    Wenn Missbrauch im Namen von tarbiya geschieht, sind es der Shaykh oder die Shaykha selbst, die eine Verbesserung ihres Charakters benötigen. Wenn dieses Verhalten nicht kontrolliert wird, werden SchülerInnen zu Ventilen unkontrollierten Ärgers und bleiben mit Traumata und PTSD (Posttraumatischer Belastungsstörung) zurück. Diese Art von Mobbing ist in Frauengruppen sehr verbreitet.

    Aufgebautes und zerstörtes Vertrauen

    Es gibt verschiedene Stufen des Vertrauens und insofern es religiöse Führer betrifft, muss man für eine oberflächliche Beziehung keine Nachforschungen über Personen anstellen oder Vertrauen aufbauen. Du brauchst keinen hohen Grad von Vertrauen, wenn Du allgemeine Vorträge von Jemandem besuchst und keine persönliche Beziehung aufbaust.

    Wenn Du mit einem islamischen Lehrer lernen willst, tue dies so wie Du es mit einem Lehrer in der Schule tun würdest. Gehe davon aus, dass ihre Position diese Person weder besonders sicher noch besonders gefährlich macht. Behandele religiöse Persönlichkeiten als BeraterInnen, deren Aufgabe es ist, Fragen aufgrund ihres Wissens zu beantworten. Nimm von jedem Lehrer an, dass er eine weiße Weste hat und stelle keine grundlosen Verdächtigungen an, aber wenn ihr Verhalten manipulativ, ausbeuterisch, kultisch oder anders missbräuchlich wird, rechtfertige es auch nicht.

    Persönliche Übernahme von Verantwortung ist ein Grundpfeiler des islamischen Glaubens, und wir müssen Verantwortung für unseren Glauben und unsere Taten übernehmen. Man muss nicht ohne Grund misstrauisch sein, aber es gibt auch keine Rechtfertigung für blindes Vertrauen in jemanden, den man nicht kennt, nur weil er Gebete leitet oder eine religiöse Ausbildung abgeschlossen hat.

    Es ist natürlich, sich selbst zu fragen, ob man Menschen noch vertrauen kann, nachdem man spirituellen Missbrauch erlebt oder davon erfahren hat. Die Antwort ist ja – Du kannst Dir selbst vertrauen. Du kannst auch anderen auf eine Art und Weise vertrauen, die der Beziehung angemessen ist. Wenn Du jemanden gut kennst und er oder sie sich über einen langen Zeitraum als vertrauenswürdig erwiesen hat, Geheimnisse bewahrt, Dich nicht ausgenutzt oder übervorteilt hat, dann macht es Sinn, dieser Person mehr zu vertrauen als einem Fremden oder einer Person, die äußerlich zwar rechtschaffen erscheint, die Du aber nicht gut kennst. Das Maß an Vertrauen wird durch die langwährende Demonstration ihrer Eigenschaften erworben.

    Jemanden über Jahre auf der Bühne zu sehen oder sich auf das Zeugnis von Menschen zu verlassen, die von jemandem beeindruckt sind, sollte Dich nicht dazu bringen, Deine Vorsicht zu mindern. Auch wenn Du glaubst, dass jemand fromm ist, verlässt Du Dich besser auf Deinen gesunden Menschenverstand, denn auch Heilige sind fehlbar.

    Lass Dich nicht von Ansehen beeindrucken

    Nimm niemals andere angesehene Führungspersonen, die eine Person loben oder mit ihr zusammenarbeiten, als Beleg für die Vertrauenswürdigkeit dieser Person. Es ist möglich, dass den Lehrern, denen Du vertraust, kein Fehlverhalten dieser Person bekannt ist. Es ist weder eine vernünftige Erwartung noch ihre Aufgabe, eine religiöse Figur zu boykottieren oder sich von ihr loszusagen, auch wenn sie wissen, dass sie Missbraucher sind. Außerdem gewinnen geschickte Manipulatoren oft die Sympathie von anerkannten Lehrern sowohl im Ausland als zu Hause, um ihre Glaubwürdigkeit zu steigern.

    Wenn ein Gelehrter einen anderen lobt, Du aber von Letzterem Zeuge missbräuchliches Verhaltens geworden bist, zweifle nicht an Dir aufgrund dieses Lobs. Das Lob kann zu einer Zeit wahr gewesen sein, oder es ist wahr in der Erfahrung desjenigen, der lobt. Aber niemand kennt den gegenwärtigen spirituellen Zustand einer Person, da spirituelle Zustände sich ändern können.

    Auch wenn die missbrauchende Person früher als großer wali (Gottesfreund) bekannt war, musst Du verstehen, dass es Gottesfreunde gibt, die ihren Status verloren haben, da es für sie keine ʿisma (göttlicher Schutz vor Sünden oder dem Verlassen des Islams) wie für die Propheten (Friede sei mit ihnen) gibt. Was gestern wahr war, kann heute vielleicht nicht mehr wahr sein.

    Oft werden die Integrität, der Mut und die inklusive Haltung von Männern gelobt, die einflussreiche Frauen unterstützen. Männer, die als „Verbündete“ gelobt werden, denen man dankt, dass sie „ihre Privilegien nutzen“, um weibliche Gelehrsamkeit und die Teilhabe von Frauen in religiösen Organisationen zu fördern, sind jedoch nicht vertrauenswürdiger als Männer, die das nicht tun.

    Missbrauchstäter sind oft sehr bedacht auf ihr Image und arbeiten daran, ihr Image und ihre Marke zu verbessern. Einflussreiche männliche und weibliche Personen helfen einander auch mit gegenseitigem Lob und sozialer Bestätigung. Aus diesem Grund kann Fehlverhalten von Männern übersehen werden, solange sie die richtige politische Sache wie inklusive Räume und diverse Panels unterstützen.

    Lass Dich nicht durch die Zeugnisse einer Person zum Vertrauen verleiten. Eine ijaza (Lehrerlaubnis) zu haben oder Schaikh einer Tariqa zu sein, ist angeblich das höchste Zeugnis. Es ist ein Zeugnis, das angeblich in einer Kette bis zum Propheten (Friede sei mit ihm) zurückgeht, aber das allein vermittelt nichts vom prophetischen Charakter oder der Vertrauenswürdigkeit dieser Person. Ein Schaikh muss ständig seiner ijaza und seiner Position entsprechen. Die Position rechtfertigt kein Verhalten außerhalb der Scharia oder irgendeine Form von Missbrauch. Gelehrte sind die Erben des Propheten nur in dem Grad, in dem sie seinen Charakter verkörpern.

    Wenn ein Lehrer, der nicht ausreichend Zeit mit aufrechten Gelehrten verbracht hat, missbräuchlich handelt, wird gesagt, dass ihm suhba (Gefährtenschaft der Rechtschaffenen) fehlt, und dass er aus diesem Grund missbräuchlich handelt. Die Wahrheit ist jedoch, dass viele der schlimmsten Missbraucher in traditionellen Kreisen gute Zeugnisse haben, ausreichend Zeit mit Gelehrten verbracht haben, ihre gültigen Repräsentanten sind und fähig sind, Missbrauch zu begehen, weil ihnen aufgrund ihrer Empfehlungen blind vertraut wird.

    Lass Dich nicht von Zertifizikaten über geistigen Missbrauch, ethische Führung oder Ähnlichem beeindrucken. Begabte Narzissen werden die ersten sein, die solche Zertifikate erwerben und Kurse belegen, weil sie wissen, dass dies zu mehr Vertrauen der Menschen führt. Es gibt Kurse über „gesunde Führung“ und „Vorbeugung spirituellen Missbrauchs“, die von ihnen entwickelt und unterrichtet werden. Hinter solchen Zertifizierungen steht die falsche Prämisse, dass ein religiöser Führer, der weiß, wie Missbrauch auftritt und welchen Schaden er anrichtet, dies nicht tun wird. Fakt ist jedoch, dass sie wissen, wie Missbrauch funktioniert und wie schädigend er ist und es ihnen egal ist. In gewisser Hinsicht ist es allerdings gut, Lektionen zu spirituellem Missbrauch von einem Missbraucher zu erhalten, so wie man die Prävention von Diebstählen am besten von einem Dieb lernen kann.

    Urteile nicht nach der Rhetorik

    Achte nicht auf die Rhetorik von Gruppen oder Individuen um zu sehen, wie ernst sie Missbrauch nehmen. Spiritueller Missbrauch tritt in allen Gruppen auf. Es ist üblich, dass die Mitglieder einer Gruppe den Missbrauch, den sie in einer Gruppe sehen, bloßstellen und gleichzeitig Missbrauch in der eigenen Gruppe ignorieren.

    Sufis, die von der Bedeutung der Scharia sprechen und andere als „goofy-Sufis“ („Möchtegern-Sufis“) etikettieren und betonen, dass wirkliche Sufis der Scharia folgen, missbrauchen oft im Privaten und benutzen die gleichen Rechtfertigungen wie die anderen Sufi-Gruppen, die sie öffentlich angreifen.

    Viele Imame und religiöse Führer sprechen öffentlich von der Wichtigkeit von Gerechtigkeit, davon, keine Toleranz gegenüber Missbrauch zu zeigen und der Wichtigkeit, sichere Orte zu schaffen, während sie selbst am Missbrauch beteiligt sind.

    Darüber hinaus verdecken weibliche religiöse Führungspersönlichkeiten oft heimliche Heiraten und anderen Missbrauch solcher Männer und helfen ihnen, die Glaubwürdigkeit der Opfer zu zerstören und sie zu ächten, solange ihre politischen Einstellungen übereinstimmen. Muslimische Anbieter im Bereich Mental Health schließen oft religiöse Figuren in ihre Programm ein, und in manchen Fällen involvieren sie Missbraucher, wenn es ihrer Sache hilft.

    In manchen Fällen weiß die Organisation nichts von dem Missbrauch. Missbräuchliche Individuen benutzen die Zusammenarbeit mit muslimischen Mental Health Organisationen um ihr Image als „sichere Person“ zu verbessern. Dies ist besonders gefährlich aufgrund der Verletzbarkeit derjenigen, die mit Problemen der geistigen Gesundheit und spirituellen Schwierigkeiten kämpfen, die vom Missbraucher ausgenutzt werden können. Es ist eine Verantwortung der Gemeinschaft, die Sicherheit der verletzlichen Individuen und ihren Zugang zu Ressourcen sicherzustellen, die ihnen tatsächlich helfen können.

    Urteile nicht nach Berühmtheit

    Eine falsche Annahme besteht auch in der Auffassung, dass der lokale, aber im weiteren Umkreis unbekannte Lehrer aufrichtig ist, während der berühmte Prediger unaufrichtig ist und nur Follower sammeln will. Dieser Gegensatz ist ohne Basis, auch wenn er rhetorisch verfänglich ist.

     

    Die Wahrheit ist, dass viele unbekannte Lehrer Ruhm begehren und dafür mehr arbeiten als diejenigen, die In anderen Fällen mögen der unbekannte und der berühmte Lehrer die gleiche Liebe zur Führung haben, aber der eine ist geschickter als der andere. Sie können auch beide unglaublich aufrichtig sein.

    Schlussendlich können wir nicht darüber urteilen, was in jemandes Herzen ist, sondern müssen auf die Handlungen sehen. Und wenn ihre Handlungen missbräuchlich sind, sind sie eine Gefahr für die Gemeinschaft. Beide, der berühmte und der unbekannte Lehrer, sind gleichermaßen fähig, spirituellen Missbrauch zu begehen.

    Schau nach einem Verfahren

     

    Bevor Du Dich in einee Organisation engagierst, schau nach einem Verhaltenscodex. Ohne ihn gibt keine Rechenschaftspflicht in strafrechtlich nicht relevanten Angelegenheiten. Mache Dich nicht abhängig von Leuten, schau auf die Verfahren und stelle sicher, dass sie Transparenz fordern, wie der Code, denn wir in InShaykhsCloting veröffentlicht und für die Öffentlichkeit zur Nutzung freigegeben haben.

    Verfahren beziehen sich auch auf die Finanzen einer Organisation. Spende kein Geld an Organisationen, die auf Persönlichkeiten basieren, verlange stattdessen finanzielle Transparenz und Rechenschaftspflicht für das gespendete Geld. Es gibt einen großen Anreiz für spirituelle Missbraucher, das Vertrauen der Massen zu gewinnen, wenn das bedeutet, dass sie dadurch Geld ohne irgendeine Rechenschaftspflicht sammeln können.

    Aber was ist mit husn az-zann, gut von anderen zu denken?

    Allah sagt uns im Koran „O die ihr glaubt, meidet viel von den Mutmaßungen; gewiss, manche Mutmaßung ist Sünde.“ (49:12)

     

    Wir sehen an diesem Vers, dass manche – jedoch nicht alle negativen Meinungen sündhaft sind. Das Verbot ist partitiv, es bedeutet, dass manche schlechten Meinungen erlaubt sind.

    Wenn jemand Dich schlägt, ist es nicht husn az-zann, anzunehmen, dass diese Person gerade ihre Faust ausgestreckt und nicht gesehen hat, dass Dein Gesicht im Weg ist. Diese Art von Täuschung führt dazu, dass Du noch mehr geschlagen wirst. Vor der Faust auf der Hut zu sein ist kein sündhaftes Maß an Argwohn.

     

    Einer der Gründe, warum spiritueller Missbrauch schwer zu erkennen ist liegt darin, dass Missbraucher einen Ruf für äußere Rechtschaffenheit erworben haben. Sie sind in der Gemeinschaft gut angesehen, und in vielen Fällen sind sie deren Stützen und haben Jahrzehnte einen positiven Dienst zu ihrer Verteidigung geleistet. Die Annahme, dass jemand nicht missbräuchlich sein kann, nur weil er lange Zeit ein Lehrer oder Leiter war, ist nicht husne-zann. Wenn die Fakten ans Licht gebracht werden – wie eine Faust im Gesicht – ist es verrückt anzunehmen, dass sie es nicht so gemeint haben.

    Wenn jemand etwas tut, was Argwohn rechtfertigt, dann sei vorsichtig und entschuldige diese Handlungen nicht. Beginne mit generellen Vorsichtsmaßnahmen und achte auf Vorgehensweisen bei Dingen, die eine bestimmte Vorgehensweise verlangen. Wenn Du zum Beispiel jemandem Geld leihen willst, verlasse Dich nicht einfach auf die Zusage, dass die Person das Geld zurückzahlen wird, sondern bestehe auf einer schriftlichen Vereinbarung. Wenn die Person sagt, dass sie dadurch vor den Kopf gestoßen ist, sage einfach „Das ist meine Standardprozedur, um später Verwirrungen zu vermeiden.“ Eine vernünftige Person sollte damit kein Problem haben. Wenn Dir jemand am Telefon sagt, dass er 100 € für Deine Arbeit zahlen wird, schreibe eine mail und lass Dir schriftlich bestätigen, was am Telefon gesagt wurde.

    Zuletzt und am Allerwichtigsten: Lasse Dein Kind niemals alleine mit einem Lehrer, wenn Du oder andere sie nicht sehen können. Viele Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch können vermieden werden, wenn wir Kindern niemals erlauben, alleine mit Erwachsenen zu lernen. Es sollte keine Ausnahme davon geben und Eltern sollten dieses als eine grundsätzliche Regel aufrechterhalten. Vorsichtsmaßnahmen sind keine Anschuldigung, und dies ist ein professioneller Standard, den niemand ablehnen sollte.

    Danish Qasim ist der Gründer von In Shaykh’s Clothing. Er hat 11 Jahre Erfahrung in der Arbeit mit Opfern von spirituellem Missbrauch. Danish begann 2006 ein formales Studium der islamischen Wissenschaften vor Ort. Nach seinem Abschluss 2010 an der U.C. Berkeley widmete er sich in Vollzeit dem traditionellen Islamstudium. Seine Studien in Übersee umfassen Teumerat, Mauretanien im Rahmen der Schule von Murabit al-Hajj (رحمه الله) und das Studium mit Gelehrten in Istanbul. Im Jahr 2019 beendete er seinen Master mit dem Fokus auf spirituellen Missbrauch im muslimischen Kontext.

    Quelle des Originaltexts: https://muslimmatters.org/2019/08/20/who-can-we-trust-spiritual-abuse/

  • Lese-Ecke: Missbrauch religiöser Autorität: Reputation als Tor zur (virtuellen) Beziehungsanbahnung

    Missbrauch religiöser Autorität: Reputation als Tor zur (virtuellen) Beziehungsanbahnung

    von Dr. Silvia Horsch und Dr. Mahmud Kellner


    Im Mai diesen Jahres veröffentlichte Ustadha Zaynab Ansari, eine in Syrien ausgebildete amerikanische Gelehrte, einen Artikel mit dem Titel„Blurred Lines: Women, ‘Celebrity‘ Shaykhs, and Spiritual Abuse“. Der Artikel wurde vielfach kommentiert und in sozialen Netzwerken geteilt. Es geht darin um Beziehungen einiger prominenter Gelehrter bzw. Prediger mit ihren Schülerinnen und Bewunderinnen. Beziehungen, die auf dem Weg der Wissenssuche beginnen und in einer zwar Scharia-konformen, aber heimlichen und meist kurzen Ehe, häufig als Zweit- oder Drittfrau, enden. Dazwischen liegen Facebook-Freundschaftsanfragen und e-mail-Kontakte, Unterhaltungen im Cyberspace, die von Wissensfragen zu persönlichen Themen übergehen und schließlich den Charakter eines Flirts erhalten. Natürlich stellen Gelehrte und Prediger, die solche Beziehungen eingehen, eine kleine Minderheit dar. Ustadha Zaynab Ansari wurde jedoch von so vielen betroffenen Frauen kontaktiert, dass sie sich schließlich veranlasst sah, über dieses Phänomen öffentlich zu sprechen.

    „Ach, Amerika“, ist vielleicht der erste Gedanke von vielen, „die Muslime dort sind uns im Guten wie Schlechten um einiges voraus – gut, dass es das bei uns nicht gibt.“ Leider ist jedoch dieses Phänomen auch bei uns vorzufinden. Auch in Deutschland treten einzelne Männer als Gelehrte und Prediger in Erscheinung und nutzen die Autorität, die sie dadurch gewinnen, um Ehen und Beziehungen anzubahnen, die schnell wieder vorbei sind. Es wäre naiv zu glauben, dass die Voraussetzungen, die diesem Phänomen zugrunde liegen und die hier wie in den USA vorhanden sind, nicht auch zu den gleichen Ergebnissen führen würden. Zu diesen Voraussetzungen gehören: der (mediale) Kult um Prediger und Gelehrte, die Möglichkeiten der unbeobachteten Kommunikation zwischen den Geschlechtern im Internet und die Sorglosigkeit, mit der manche, insbesondere junge Menschen in Beziehungen stolpern – denn „̣ḥalāl“ heißt noch nicht verantwortungsbewusst.

    Bei den Fällen, von denen wir Kenntnis erhalten haben, handelt es sich um Einzelfälle. Dies sei ausdrücklich betont, da es nicht unsere Absicht ist, Gelehrte oder Prediger allgemein in Verruf zu bringen oder ihnen gegenüber Misstrauen zu säen. Es geht auch nicht darum, öffentlich Namen zu nennen. Unsere Entscheidung, auf die Existenz dieses Phänomens aufmerksam zu machen, hat nur einen Grund: Wir wollen verhindern, dass der Islam und muslimische Gelehrte durch ein solches Verhalten weiter in Verruf gebracht werden und die Liste der geschädigten Frauen verlängert wird. Dabei geht es nicht nur um Frauen, die sich auf derartige Beziehungen eingelassen haben, sondern auch um solche, die von solchen Personen über das Internet belästigt werden. Die Methode dieser Personen soll deutlich werden, damit man bestimmte Muster besser erkennen und gegebenenfalls auch das eigene Verhalten überdenken kann. Auch die Verantwortung der Männer ist dabei angesprochen: Wer mitbekommt, dass ein Bruder seine religiöse Autorität zur seriellen oder gar parallelen Beziehungsanbahnung missbraucht, sollte dies nicht stillschweigend tolerieren, sondern ihn darauf ansprechen – vorausgesetzt, er ist in der Position dazu. Bei den schwarzen Schafen muss die Botschaft ankommen, dass die muslimische Gemeinschaft entschieden gegen den Missbrauch von Frauen und dem Missbrauch des Islams vorgehen soll. Nun zu den Voraussetzungen.

    (Medialer) Gelehrtenkult
    Islam – so gewinnt man bisweilen den Eindruck – ist für eine Reihe von Muslimen weniger das, was im Alltag realisiert wird, als eine Freizeitbeschäftigung. Islam muss Unterhaltungswert haben und Redner werden zu muslimischen Veranstaltungen wie Stars angekündigt – so wächst die Zuhörerschaft und die Facebook-Fangemeinde. Unter Muslimen besteht eine große Verehrung für religiöse Gelehrte, was an sich nichts Schlechtes ist – im Gegenteil, die Liebe zu den Gelehrten ist etwas sehr Positives. Es scheint jedoch, dass diese Verehrung oft aus den falschen Gründen besteht: Nicht aus Liebe zum Wissen, das sich dieser Mensch angeeignet hat und nicht aufgrund der Fähigkeit, mit diesem Wissen die Menschen Allah näherzubringen, sondern um ein identitäres Vakuum zu füllen und sich durch die Zugehörigkeit zu einem „Scheich“ selbst aufzuwerten. Und wenn es nicht genug Gelehrte gibt, werden eben welche gemacht: Der Titel „Scheich“ wird heutzutage geradezu inflationär verliehen.
    Dies ist kein Vorwurf an die Gelehrten selbst, bzw. diejenigen, die sich ernsthaft auf den Weg zum religiösen Wissen machen. Es ist eine Kritik an der blinden Verehrung, mit der viele Muslime denen entgegentreten, die sie als ihre religiösen Autoritäten ansehen. Die Prediger und Gelehrten – die auch nur fehlbare Menschen sind – werden auf ein Podest gestellt, das sie nahezu unangreifbar macht. Auch wenn sie selbst es immer wieder betonen, dass sie Menschen mit Fehlern sind: Es ist für viele ihrer Bewunderer nicht vorstellbar, dass jemand der viel Wissen in der Religion hat, zugleich Charakterschwächen haben könnte.
    Die Möglichkeit der nach dem islamischen Recht formal einfachen Heirat (und Scheidung) wird natürlich auch von anderen Männern missbraucht. Hier geht es aber um solche Männer, denen aufgrund ihres religiösen Wissens eine Autorität zugeschrieben wird, die sie zu Repräsentanten des Islams und seiner Werte macht. Sie werden von vielen Muslimen nicht nur als wissend, sondern automatisch auch als aufrichtig, moralisch, charakterfest und vertrauenswürdig und von vielen Frauen als ideale Ehemänner wahrgenommen – was allerdings nicht zwangsläufig der Fall ist. Und wenn solche Autoritäten Frauen emotional ausnutzen, ist der Schaden besonders groß.

    Kommunikation im Internet
    Die öffentlich wahrnehmbare muslimische Gelehrten- und Predigerszene ist fast ausschließlich männlich. Das bedeutet, dass sich Frauen mit ihren religiösen Fragen häufig an Männer wenden und das sind naheliegenderweise solche, die erreichbar sind. Für zahlreiche Frauen ist der Internet-„Scheich“ leichter erreichbar als der Imam in der örtlichen Moschee (falls vorhanden), insbesondere wenn das Gespräch auf Deutsch stattfinden soll. Die relative Anonymität der Kommunikation über das Internet und die informelle Atmosphäre eines Facebook-Chats bergen jedoch Gefahren. Gerät eine unbedarfte Frau tatsächlich an das schwarze Schaf unter den Predigern, fällt ihr der fließende Übergang zwischen dem Austausch von religiösen Informationen und persönlichen Nachrichten möglicherweise nicht auf, bis es zu spät und sie bereits emotional involviert ist. Meist geht der erste Kontakt aber auch gar nicht von der Frau aus, sondern der „Gelehrte“ beginnt die Kommunikation z.B. über Facebook, etwa mit der harmlosen Anfrage doch einmal einen Text gegenzulesen. Die Frau fühlt sich geschmeichelt, weil sie von einem „Gelehrten“ als intellektuelles Wesen wertgeschätzt wird. Der vermeintlich fachliche Austausch wird dann in eine romantische Richtung gelenkt und der „Scheich“ vermittelt der Frau den Eindruck, er interessiere sich für ihre Person. Im weiteren Verlauf fragt er, so berichten betroffene Frauen, nach den Einstellungen zur Ehe. Die Antwort der Frauen fällt meist vorhersehbar aus, sie äußern Vorstellungen von Partnerschaft, gegenseitiger Liebe und der Absicht eine dauerhafte Beziehung zu führen. Dann testet der „Gelehrte“ aus, wie weit er gehen kann: Er äußert seine eigenen Vorstellungen von Ehe (sie sei ein reiner Vertrag, der nach Belieben mit Inhalten gefüllt werden könne; die ṣaḥābahhätten das auch nicht so eng gesehen), natürlich mit Versatzstücken aus dem islamischen Recht gespickt. In diesem Terrain erscheint er als Fachmann und beeindruckt mit seinen (vermeintlichen) Kenntnissen. Dazu kommt, dass die Frauen nicht mit einem Menschen mit Stärken und Schwächen kommunizieren, sondern mit einem „Gelehrten“, dem sie aufgrund dieser Position einen Vertrauensvorschuss gewähren. Ohne diesen Hintergrund wären sie auf das Gespräch zumeist gar nicht erst eingestiegen. Manche glauben, ihn durch seine Vorträge, seine inspirierenden Gedanken oder seine beeindruckende Rhetorik bereits ausreichend zu kennen, um ihm vertrauen zu können. Das persönliche Interesse schmeichelt ihnen und sie sind eher bereit, Dinge zu akzeptieren, die sie bei jedem „gewöhnlichen“ Mann ablehnen würden, z.B. dass die geplante („ḥalāl“)-Beziehung nicht an die große Glocke gehängt oder gar nicht erst bekannt gemacht werden soll, dass kein gemeinsamer Wohnort existieren soll oder dass die erste Zeit der Ehe als eine Art „Ausprobieren“ genutzt werden soll. An diesem Punkt sind die allermeisten Frauen trotz aller Rumi-Zitate und professionellen Süßholzsraspelei („Die Liebe meines Lebens!“) bereits wieder ausgestiegen. Einige lassen sich jedoch manipulieren, obwohl spätestens jetzt die Alarmglocken in den höchsten Tönen läuten müssten.

    In-die-Ehe-stolpern
    Womit wir bei der nächsten Voraussetzung wären: Zwar ist Muslimen, die das Verbot vorehelicher Beziehungen ernst nehmen, die Möglichkeit einer leicht zu lösenden Freundschaft verschlossen, das heißt aber leider nicht automatisch, dass sich alle den Schritt in die Ehe gut überlegen. Auch wenn die Scheidung erlaubt ist und vergleichsweise einfach vollzogen werden kann, bedeutet das nicht, dass eine islamische Ehe nicht mit Verantwortung verbunden ist. Der Ehevertrag wird im Koran nicht umsonst als ein „fester Bund“ (4:21) bezeichnet. Verantwortung muss für den Ehepartner/die Ehepartnerin und für aus der Ehe hervorgehende Kinder übernommen werden. Zur Verantwortung gehört für beide, in diesem Fall aber besonders für die Frau, die Absichten des zukünftigen Ehepartners zu prüfen: Wenn dieser die Verbindung nicht bekannt geben will, nicht standesamtlich heiraten will, keine angemessene mahr (Brautgabe) zahlen will, keine Kinder haben möchte oder ohne triftige Gründe eine Fernbeziehung führen möchte, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass etwas mit der Absicht nicht stimmt. Es liegt in der Verantwortung der Frauen selbst (und ihrer Familien) Nachforschungen anzustellen und sich nach dem Heiratskandidaten zu erkundigen. Allein aufgrund der Tatsache, dass es sich um jemanden handelt, der als Prediger oder Gelehrter bekannt ist, sind noch keine Fragen beantwortet.
    Es gibt sogar Fälle, bei denen Frauen zu einer sogenannten Genuss- oder Zeitehe (mutʿah) überredet wurden, indem ihnen erklärt wurde, dass es auch unter sunnitischen Gelehrten gültige Meinungen gäbe, die diese erlaubten. Eine Zeitehe wird von vorneherein mit der Absicht geschlossen, die Verbindung nach einer bestimmten Frist wieder aufzulösen. Diese, aus dem vorislamischen Arabien stammende Praxis, wurde in der ersten Zeit unter Muslimen in bestimmten Ausnahmefällen noch weitergeführt, sie wurde jedoch noch zu Lebzeiten des Propheten, Friede sei mit ihm, verboten. In anderen Fällen scheint der „Scheich“ zwar eine verbindliche Ehe eingehen zu wollen, aber auch hier kann es Hinweise auf andere Absichten geben, z.B. wenn er gezielt nach Konvertitinnen sucht (um die mahr niedrig zu halten und sich nicht mit den Forderungen der Familie auseinandersetzen zu müssen) oder keine Kinder möchte (um die Beziehung leichter wieder lösen zu können).

    Die Betroffenen
    Offenbar sind bestimmte Gruppen von Frauen als Zielgruppe besonders beliebt: unerfahrene Frauen, alleinstehende Frauen, die keine Familie im Hintergrund haben, die sich den Heiratskandidaten genauer anschaut; Frauen mit einem schwachen Selbstbewusstsein, psychisch labile und verletzliche Frauen sowie Frauen die innerhalb der muslimischen Community sozial stigmatisiert werden und sich z.B. aufgrund des Alters, als (mehrfach) Geschiedene oder als Alleinerziehende mit Kindern auf dem Heiratsmarkt geringe Chancen ausrechnen. Wenn dann ein „Scheich“ sie umwirbt, kann das für sie eine Aufwertung ihrer Person bedeuten (jedenfalls solange sie keine Ahnung davon haben, dass der „Scheich“ zahlreichen anderen Frauen ähnliche Nachrichten schreibt). Die emotionalen Folgen, wenn diese Beziehung von Seiten des „Scheichs“ alsbald wieder gelöst wird, kann man sich vorstellen.
    Die betroffenen Frauen behalten ihre Erfahrung für sich, aus Scham und wohl auch aus Angst, dass ihnen selbst die Schuld zugeschrieben wird. Währenddessen hält der „Scheich“ weiterhin seine Vorträge und Lehrzirkel und belästigt weitere Frauen über das Internet – von Scham keine Spur. Während eine solche „Ehe“ für die Frauen erhebliche Konsequenzen hat, insbesondere im Hinblick auf eine erneute Heirat, geht der „Scheich“ immer neue Beziehungen ein. Nur der Umstand, dass er diese geheim halten will, zeigt, dass er trotz seiner spitzfindigen Argumentationen sich seines Fehlverhaltens bewusst ist.

    Die Verantwortung der Gemeinschaft
    Es ist davon auszugehen, dass auch Personen aus dem Umfeld solcher „Scheichs“ Bescheid wissen und dennoch seine Vorträge oder Bücher bewerben und seine FB-Einträge liken. Vielleicht ohne sich dessen voll bewusst zu sein, ermöglichen sie ihm damit, weiterhin auf der Suche nach manipulierbaren Frauen von seinem Gelehrtenhabitus zu profitieren. Ein religiöser Gelehrter ist jedoch kein Politiker, der seine öffentliche und seine private Rolle einfach trennen kann. Wer ein geheimes Ehe/Flirt/Dating-Doppelleben führt, hat sich als Gelehrter disqualifiziert und die Gemeinschaft darf ihm nicht länger eine Bühne bieten, auf der er sich als solcher gerieren kann – denn diese Bühne nutzt er, um weitere Frauen auf sich aufmerksam zu machen. Die Gemeinschaft hat nicht die Aufgabe, das Fehlverhalten eines „Gelehrten“ zu ignorieren, der seine Autorität und den Islam missbraucht, sondern sie hat die Aufgabe eine solche Person in ihre Grenzen zu weisen, denn ihr Verhalten bringt nicht nur Schaden für die betroffenen Frauen, sondern auch für den Islam und das Ansehen der Gelehrten. Dass ein solches Doppelleben zum Teil über mehrere Jahre möglich ist, wirft die beunruhigende Frage auf, wie es möglich sein kann, dass die muslimische Gemeinschaft so etwas durchgehen lässt. Hier verbinden sich offenbar die Auswirkungen des Gelehrtenkults mit den unterschiedlichen moralischen Standards die oftmals an Männer und Frauen angelegt werden.

    Lösungsansätze
    Es gibt für dieses Problem keine einfache Lösung. Jeder Mann und jede Frau muss sich seiner und ihrer Verantwortung bewusst sein, wozu auch gehört, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen und nicht einfach blind jemandem zu vertrauen, der viele Gelehrtenmeinungen zitieren kann.
    Ganz offensichtlich braucht es mehr Aufklärung über das islamische Eherecht und seine Umsetzung in unserer Zeit und unserer Gesellschaft. Es ist erschreckend, dass wir überhaupt darüber sprechen müssen, dass die Zeitehe verboten ist. Wer darüber nachdenkt, eine Ehe einzugehen, sollte sich zumindest über die Grundlagen des islamischen Eherechts informieren. Auf Deutsch sind diese z.B. nachzulesen im Band 5 der Islamologischen Enzyklopädie von Amir Zaidan, auch online einsehbar unter www.islam-wissen.com.

    Solche Fälle offenbaren den Sinn, der in der Institution des walī liegt, des Vormunds (zumeist der Vater), dessen Aufgabe es ist, die Interessen der Frau zu vertreten und der deswegen den Heiratskandidaten genau prüft. Auch die mahr, die Brautgabe, kann zum Schutz beitragen: Vor allem Konvertitinnen, denen dieses Konzept zunächst vielleicht fremd ist, neigen dazu, sich mit einer symbolischen mahr zufrieden zu geben. Die mahr sollte zwar nicht übertrieben sein, aber angemessen, so dass der Mann damit auch der Ernsthaftigkeit seiner Absicht Ausdruck verleiht. Außerdem sollte zum Schutz der Frauen die islamische mit der standesamtlichen Eheschließung unbedingt verbunden werden. Wichtig ist es weiterhin, die Familien zu involvieren: Wenn der Mann der Meinung ist, dass die Familien erst später davon erfahren müssten, die Familie der Frau gar nicht erst kennenlernen will oder immer neue Ausflüchte findet, warum die Frau seine Familie nicht kennenlernen kann, ist von einer Eheschließung dringend abzuraten (gleiches gilt natürlich umgekehrt).

    In seinem Buch Aḥkam al-usrah wa l-bait al-muslim („Regelungen der Familie und des muslimischen Hauses“, Beirut 2005) bezeichnet Scheich aš-Šaʿrāwī (gest. 1989) die Position, dass die Zeitehe erlaubt sei, als „eine Rechtfertigung für zinā (Unzucht)“. Er gibt die einhellige Position der früheren wie der späteren Gelehrten wieder, die alle die Zeitehe für verboten erklärten. Das Verbot geht u.a. eindeutig aus einem gesunden Hadith hervor, der von ʿAli, Allah möge mit ihm zufrieden sein, überliefert wurde: „Der Prophet verbot am Tag der Schlacht von Ḫaibar die Zeitehe und das Fleisch des domestizierten Esels.“ (Buḫārī, Muslim, u.a.). Der Kalif ʿUmar, Allah möge mit ihm zufrieden sein, ließ für die Zeitehe das gleiche Strafmaß gelten wie für zinā. Seine entschiedene Position ist Ausdruck davon, dass ihm dieses Wissen vom Propheten vermittelt wurde und es nicht das Ergebnis seiner eigenständigen Urteilsfindung (iǧtihād) war, wie u.a. der schafiʿitische Gelehrte Ibn Haǧar al-Asqalānī (gest. 852/1449) und der malikitische Gelehrte ʿAbd al-Bāqī b. Yūsuf az-Zarqānī (gest. 1122/1710) betonen. Al-Qāḍī Abū l-Walīd al-Bāǧī (gest. 474/1081), ebenfalls ein Malikit, bezeichnet ʿUmars Position als den Konsens der ṣaḥābah, weil ihm niemand widersprochen hat. Unter den Gelehrten gibt es nur Meinungsunterschiede (iḫtilāf) bezüglich des Strafmaßes, nicht bezüglich des Verbots der Zeitehe (vgl. aš-Šaʿrāwī, Aḥkām, 183-194).

    Dies lässt für Scheich ʿAbd al-Fattāḥ al-Bizm, den hanafitischen Mufti von Damaskus, der zu diesen Fällen befragt wurde, nur folgenden Schluss zu: Jemand der Überlieferungen zum Verbot der mutʿah ignoriert und sich außerhalb des Konsens der sunnitischen Gelehrten stellt, um Frauen, die zu ihm als religiöse Autorität aufsehen, von der Zeitehe als islamisch legitimer Beziehungsform zu überzeugen, folgt im Gewand des Gelehrten seinen Trieben (ittibāʿ al-hawā). Darüber hinaus macht Scheich al-Bizm deutlich, dass es sich auch dann um zinā (Unzucht) handelt, wenn keine bestimmte Dauer der Ehe vereinbart wurde (also keine Zeitehe im technischen Sinne vorliegt): „Wenn jemand nur heiratet, um mit einer Frau seine Lust zu befriedigen, er diese Ehe nur wenige Wochen oder Monate dauern lässt und sie dann scheidet, um eine neue zu heiraten – das ist keine Ehe, kein gültiger Ehevertrag und damit zinā.“ Denn die Absicht zur Dauerhaftigkeit (daimūmah) und damit Ernsthaftigkeit der Ehe ist Bestandteil (rukn) einer gültigen Eheschließung. Diese Absicht muss im Vorfeld der Eheschließung so gründlich wie möglich überprüft werden. Wenn eine Frau keine Familie hat, die sich für sie einsetzt, sollte sie sich an vertrauenswürdige Personen werden, die sie beraten und die Schritte der Eheanbahnung begleiten. Es liegt auch in der Verantwortung der muslimischen Gemeinschaft, sich hier stärker zu engagieren und die Frauen – aber auch die Männer – nicht alleine zu lassen.

    Dann müssen wir stärker darüber nachdenken, wie wir im Internet kommunizieren – insbesondere zwischen den Geschlechtern. Adab, das gute, angemessene, der Situation entsprechende und von Weisheit erfüllte Verhalten, ist gegenwärtig wohl nirgendwo notwendiger als im Internet. Es ist dringend Vorsicht geboten bei Kontakten, die im Internet entstehen, denn im virtuellen Raum kann jeder und jede alles erzählen und nichts ist überprüfbar. In jedem Fall ist Facebook der falsche Ort, um den zukünftigen Ehepartner zu suchen. Denn natürlich präsentiert eine Facebook-Chronik nur die Sonnenseite einer Person – in diesem Fall das religiöse Wissen. Manche Männer, auch in den Fällen um die es hier geht, nutzen Facebook und das Internet sogar gezielt, um Frauen auf sich aufmerksam zu machen, indem sie sich z.B. als besonders aufgeschlossen gegenüber Frauenthemen zeigen oder sich gar als Familienberater ausgeben.

    Wenn eine Frau einem männlichen Gelehrten Fragen zur Religion stellen will, sollte sie darauf achten, dass keine Grenzen überschritten werden. Das Flirten mit Ratsuchenden oder Schülerinnen ist der Position eines Gelehrten absolut unwürdig und zugleich unprofessionell – genauso, wie wenn ein Arzt, Psychologe oder Seelsorger die Grenzen im Verhältnis zu seinen Patientinnen überschreitet. Wer Informationen zur Religion mit persönlichen Nachrichten vermischt, weist sich nicht als verantwortungsvoller Gelehrter aus. Besser ist es in jedem Fall, bei Fragen zur Religion nach einer vertrauenswürdigen Person im real existierenden Umfeld zu suchen.

    Ustadha Zaynab Ansari weist in ihrem Artikel schließlich noch auf ein Defizit hin, das an solchen Fällen sichtbar wird: In Damaskus wurde sie auf starke Netzwerke von weiblichen Gelehrten und ihren Schülerinnen aufmerksam. Nach jahrelanger Beobachtung stellte sie fest, dass sie keine Frauen kannte, die selbstsicherer und souveräner waren. Umgekehrt beobachtet sie, dass Frauen, die nach männlichen Mentoren suchen und diese schließlich heiraten, ernste Probleme mit ihrem Selbstwertgefühl haben. Das Problem, so ihre Schlussfolgerung, ruft auch nach weiblichen Gelehrten um diese Wissens- und Betreuungslücke zu füllen.

  • Lese-Ecke: Ramsi Nsour zu spirituellem Missbrauch

    Spiritual Abuse – A Community’s Responsibility – Shaykh Rami Nsour

    Mitschrift und Übersetzung von Dr. Silvia Horsch

    Die islamische Bildungsplattform Rabata veranstaltete im März 2018 ein Webinar zum Thema „Spiritual  Abuse“ in dessen Rahmen Shaykh Rami Nsour dieses Referat hielt. Im Folgenden werden die Inhalte des Vortrags ohne Anspruch auf Vollständigkeit zusammengefasst. Für den genauen Wortlaut sei auf den Mitschnitt des Seminars verwiesen. (https://rabata.org/OLD/cause/spiritual-abuse-webinar/)

    Der Referent:

    Shaykh Rami Nsour ist in Jordanien geboren und im Alter von neun Jahren in die USA gekommen. Er war bereits während seiner College-Zeit ein Schüler von Shaykh Hamza Yusuf und wurde von ihm ermutigt, nach Mauretanien zu reisen, um dort unter Shaykh Murabit al-Hajj und anderen den Islam zu studieren. Er studierte Fiqh (Islamisches Recht), Aqidah (Glaubenslehren), Arabisch, Iḥsān (spirituelle Läuterung) und Adab (Etikette).

    Er hat verschiedene traditionelle Texte übersetzt und unterrichtet bei Seekers Guidance. Er ist Mitbegründer der Taiba-Foundation, die sich um die religiöse Bildung von muslimischen Gefängnisinsassen kümmert. Es ist ihm ein Anliegen, den Unterprivilegierten der muslimischen Community zur Seite zu stehen. Aus dieser Haltung heraus spricht er auch schwierige Themen an, wo er die Notwendigkeit dafür sieht. Zum Thema Spiritual Abuse gibt es von ihm mehrere Beiträge auf der Internetseite InShaykhsClothing.com.

     

    Spiritual Abuse – A Community’s Responsibility

    Zu Beginn betont Shaykh Rami Nsour die Notwendigkeit, eine offene Diskussion über die Thematik des spirituellen Missbrauchs zu führen. Der Begriff „Spiritual Abuse“ (dt. „spiritueller Missbrauch“) ist in der muslimischen Community umstritten, und einige bezweifeln, dass es das Phänomen überhaupt gibt. Innerhalb des religiösen Personals des Islams (Shaykhs, Gelehrte, LehrerInnen, etc.) besteht dieser Zweifel aber nur bei einer Minderheit. Die Ablehnung des Begriffs kommt oft von Personen, die die jahrelange Diskussion und Arbeit in diesem Bereich nicht verfolgt haben und erst spät in die Diskussion eingetreten sind, weil diese in der jüngeren Zeit populär geworden ist.

    Shaykh Rami Nsour bezieht sich für seinen Vortrag auf die Arbeitsdefinition von Spiritual Abuse, die auf der website InShaykhsClothing.com zu finden ist und von Danish Qasim entwickelt wurde, der seit vielen Jahren in diesem Bereich Beratungsarbeit leistet:

    „Spiritual abuse is the misuse of religious position. Spiritual abuse is its own general category of offenses that encompasses other specific offenses such as financial misappropriation, secret marriages, bullying, sexual assault, molestation, exploitation, manipulation, and psychological harm.“

    „Spiritueller Missbrauch ist der Missbrauch einer religiösen Position. Spiritueller Missbrauch ist eine eigene allgemeine Kategorie die andere spezifische Vergehen beinhaltet, wie z.B. Unterschlagung von Finanzmitteln, geheime Ehen, Mobbing, sexuelle Übergriffe, Belästigung, Manipulation und psychologische Schädigung.“

    In seinem Vortrag beschäftigt sich Shaykh Rami Nsour nicht mit Verbrechen gegen Personen, die justiziabel sind, sondern mit unterliegenden Mustern im Verhalten der Täter und Täterinnen sowie den Reaktionen der Community.

    Spiritueller Missbrauch kann auf vielen verschiedenen Ebenen stattfinden: in der Beziehung zwischen Ehepartnern, zwischen Eltern und Kindern, zwischen Lehrern und Schülern, zwischen einem Shaykh und seinem Murīd (Anhänger) sowie am Arbeitsplatz, wenn dieser eine religiöse Dimension aufweist.

    Aus seiner eigenen Erfahrung im Unterricht über die Rechte der Eltern berichtet er, dass oft die Frage auftaucht, wie mit diesen Rechten im Fall von Missbrauch umzugehen ist. Mit anderen Worten: Was tun, wenn die Eltern die Religion benutzen, um ihre Kinder zu manipulieren (auch wenn diese bereits erwachsen sind). Es kommt z.B. vor, dass ein Elternteil einfach etwas, was das Kind tut, nicht mag und dann religiöse Argumente ins Feld führt, um das Kind unter Druck zu setzen. Diese Beispiele zeigen, dass die Idee des Respekts gegenüber den Eltern auf eine gesunde Art und Weise verstanden werden muss.

    Wenn Autorität religiös sanktioniert ist, kann sie besonders leicht missbraucht werden. Beispiele aus seiner eigenen Beratungspraxis sind z.B. Eheprobleme, die entstehen, wenn ein Mann seiner Mutter auf Kosten seiner Ehefrau mehr Rechte gibt, als ihr zustehen, damit der Ehefrau Rechte nimmt und dies mit religiösen Argumenten rechtfertigt. Durch die Verwendung religiöser Argumente kommt die Ebene des spirituellen Missbrauchs hinzu.

    Zwei Hauptpunkte hält Shaykh Rami Nsour fest, die spirituellen Missbrauch begleiten, ihn ermöglichen und aufrechterhalten: I Die Verwendung subjektiver Empfindungen und Aussagen anstatt von gültigen Scharia-Regeln, und II Gemeinhaltung.

    Wichtig ist, dass es sich bei spirituellem Missbrauch nicht um gelegentliche Fehler einer religiösen Autoritätsperson handelt, sondern um ein Verhaltensmuster. Wenn Personen nicht nur sporadisch Fehler machen, sondern regelmäßig andere verletzen, handelt es sich um ein Verhaltensmuster.

    Mit Personen, die ein solches Verhaltensmuster aufweisen, ist anders umzugehen als mit Personen, die sporadisch Fehler machen. Das betrifft verschiedene Bereiche. Es ist im Islam z.B. erstrebenswert und empfohlen, anderen Menschen zu vergeben. Diesen Grundsatz kann man aber nicht in allen Fällen anwenden. Tut man das dennoch, kann das spirituellen Missbrauch ermöglichen. Al-Qurtubi [ein anerkannter klassischer Korankommentator des 13. Jahrhunderts] führt zu einem Vers zur Vergebung an, dass dieses Prinzip nur gilt, wenn es sich nicht um ein Verhaltensmuster handelt. Wenn also jemand ständig die Rechte anderer verletzt, insbesondere aus einer Position der religiösen Autorität heraus, und dann von den Geschädigten verlangt wird, dass sie dieser Person vergeben, weil Vergebung besser sei, kommt eine weitere Ebene des spirituellen Missbrauchs zu der ursprünglichen Verletzung hinzu.

    Ein wichtiges Prinzip unserer Gemeinschaft und unserer Religion ist, dass wir basierend auf dem Äußeren urteilen. Das Herz zu beurteilen, ist Allah überlassen. In einem bekannten Hadith sagte der Prophet, Friede und Segen seien auf ihm, dass ihm befohlen wurde, nach dem Äußeren zu urteilen. Hätte er in den Fällen, die ihm vorgetragen wurden, aufgrund von Offenbarung geurteilt, gäbe es nichts, wonach wir uns nach seinem Tod und dem Ende der Offenbarung richten könnten. Er etablierte für uns diese Methode, damit wir damit arbeiten können.

    Wir schauen also auf die Handlungen und auf die Bewertung der Handlung durch die Scharia. Wichtig ist außerdem, Experten hinzuziehen – in diesem Fall Mental-Health-Experten, denn sie sind diejenigen, die Traumata einschätzen und analysieren können. Ein Rechtsgelehrter kann nicht unbedingt Traumata einschätzen. Weiterhin sollte man das schūra-Prinzip [Beratung] befolgen und Leute aus der Community hinzuziehen, die nicht unbedingt Gelehrte sein müssen. Die Thematik sollte nicht den Gelehrten alleine überlassen werden, und die Gelehrten sollten dies auch nicht beanspruchen, denn das würde einen Tunnelblick zur Folge haben.

    Zu den zwei Hauptpunkten:

    I Subjektive Empfindungen/Aussagen (Subjective Sentiments/Statements)

    Als Mitglieder der Gemeinschaft müssen wir solche Aussagen erkennen und nicht gelten lassen. Im Folgenden werden einige typische Aussagen aufgeführt, die in Fällen von spirituellem Missbrauch verwendet werden. Gemeinsam ist allen Aussagen, dass sie eine Analyse der konkreten Situation verhindern:

    „Du verstehst seine/ihre Absicht nicht!“

    Zu dieser Aussage wird oft der Hadith angeführt, demzufolge die Handlungen nach den Absichten bewertet werden. Diese Bewertung betrifft aber die Bewertung Allahs, die Menschen urteilen, wie erläutert, nicht nach den Absichten (die sie letztlich nicht ergründen können), sondern nach dem äußeren Anschein. Gute Absichten machen zudem Handlungen nicht automatisch gut.

    „Habe adab [gutes Benehmen] gegenüber dieser Person!“

    Wenn jemand z.B. mit dem Vorschlag zu einer heimlichen Heirat konfrontiert wird oder um Geld gebeten wird, dies berichtet und daraufhin diese Aussage zur Antwort bekommt, muss man feststellen, dass auch hier wieder ein subjektiver Begriff verwendet wird. Solche Aussage sind in diesen Fällen ein Warnzeichen, dass hier etwas nicht in Ordnung ist. Richtig wäre, zunächst die Situation zu analysieren. Die Aufforderung, adab zu haben, verhindert, dass die Situation analysiert wird. In solchen Fällen müssen die Alarmglocken läuten.

     „Er/sie ist ein wali Allahs [eine/e Heilige/r]“

    Wer diese Formulierungen benutzt, versucht wiederum, eine Analyse der Situation zu verhindern. Der Prophet, Friede und Segen seien auf ihm, schaute jedoch auf die Situation: Als eine Frau von hohem Ansehen gestohlen hatte, sagte er, er würde die Strafe auch anwenden, wenn es sich bei der Diebin um Fatimah handele. Regeln müssen also ohne Ansehen der Person angewendet werden.

    „Sie haben viel ʿibādah (Gottesdienste)!“

    Auch diese Aussage soll die Gemeinschaft dazu anhalten, spirituellen Missbrauch nicht zu thematisieren, und ermöglicht dadurch, dass er weitergeht. Walī, adab etc. sind Konzepte, die für die Muslime von großer Bedeutung sind und sie dadurch unter Druck setzen.

    „Sie haben so vielen Menschen genützt.“ oder „Sie sind Gelehrte!“

    Dahinter steht die Annahme, dass Gelehrte keine Fehler machen. Shaykh Rami Nsour berichtet von dem Fall eines Mannes, der über Jahre öffentlich von einem Hafidh [= jemand, der den Koran auswendig kann] gemobbt wurde und einfach nicht verstehen konnte, dass dieser so etwas macht, wo er doch Hafidh ist. Er musste ihm erklären, dass Gelehrsamkeit Fehler und Sünden nicht ausschließen.

    Diese Thematik wird bereits in älteren Werken behandelt: Shaykh Rami Nsour erwähnt das Buch von Sidi Ahmad Zarruq The Abuse of a Shaykhs Position. Sidi Ahmad Zarruq führt u.a. an, dass auch Qarūn und Iblīs Wissen hatten, dies machte sie jedoch nicht zu guten Menschen, bzw. Wesen. Es gibt eine Überlieferung der zufolge am Jüngsten Tag Menschen im Paradies sein werden, die ihre Lehrer in der Hölle vorfinden. Sie fragen sie, wie das sein kann, wo sie doch selbst aufgrund dessen, was sie von ihnen gelernt haben, im Paradies sind. Sie werden antworten, dass sie nicht angewandt haben, was sie gelernt und gelehrt haben. Ein Shaykh kann also mit seinem Wissen anderen helfen, aber sich selbst schaden, weil er es nicht anwendet.

    In dem bekannten Missbrauchs-Fall in Chicago machte die Betroffene die Erfahrung, dass die Muslime aus der Community zu ihr sagten – nachdem sie wussten, um wen es sich beim Täter handelt -: „Aber er ist ein Shaykh.“ Wer glaubt, dass ein walī nichts Schlechtes tun kann (auch walī ist ein subjektiver Begriff, denn wer wirklich ein walī ist, weiß Allah allein), wird in solchen Fällen 1000 Gründe finden, warum dieser nichts tun kann, was harām (verboten) ist.

    „Diese Person ist als Gelehrter ein Erbe des Propheten.“

    Dass die Gelehrten Erben der Propheten sind, geht aus einem bekannten Hadith hervor. Hier handelt es sich um ein Missverständnis, das viele Probleme verursacht: Ein Gelehrter kann zu der Überzeugung kommen, dass ihm als Erbe des Propheten Dinge zustehen, die dem Prophet zustanden. Da dem Propheten Menschen dienten, kann er oder sie glauben, dass ihm auch gedient werden sollte. Oder weil der Prophet mehrere Frauen hatte, kann er glauben, dass ihm auch mehrere Frauen zustehen. Auch dieses Problem wird von Sidi Ahmad Zarruq in seinem Buch angesprochen, der deutlich macht, dass Gelehrte zwar Erben im Wissen und auch in Stationen der Exzellenz sind, damit aber keine Ansprüche auf Dienst oder auf Ruhm verbunden sind. Tatsächlich benutzen jedoch manche Schaykhs dieses Argument, um Dienste anderer für sich in Anspruch zu nehmen.

    Viele der genannten Argumente, so auch dieses, können einfach mit dem gesunden Menschenverstand adressiert werden. Die Frage des Dienstes für einen Shaykh wird durch den sozialen Vertrag (social contract) zwischen dem Shaykh und demjenigen der ihm oder ihr dient, geregelt. Wichtig ist, dass die Bedingungen dieses Vertrages verbalisiert werden. Es gibt drei Modelle dieses Vertrags:

    1. Dienst gegen Mentorentätigkeit – In diesem Fall wird der Dienst durch Unterricht entlohnt.
    2. Dienst gegen Bezahlung
    3. Dienst fī sabīlil Llāh („auf dem Wege Allahs“, d.h. ohne Gegenleistung, nur um das Wohlgefallen Gottes willen): In diesem Fall kann der Dienst nicht eingefordert werden, und die Dienste können jederzeit beendet werden.

    In allen drei Fällen sind die Bedingungen klar. Wenn aber nicht klar ist, um welchen Fall es sich handelt, gibt es Raum für Probleme und es kommt z.B. zu Forderungen von Seiten des Shaykhs („Du dienst mir nicht genug!“). Um spirituellen Missbrauch zu vermeiden, muss der soziale Vertrag zwischen den religiösen Autoritätspersonen und denen, die ihnen dienen, klar formuliert werden, und die Bedingungen sollten verbalisiert werden.

    „Du darfst nicht schlecht von ihm/ihr denken (sūʾ adh-dhann)!“ oder

    „Du solltest die Fehler von anderen nicht offenlegen, damit Allah deine Fehler nicht offenlegt.“

    Beides sind islamische Prinzipien, die aber nicht in allen Fällen zutreffen. Sie treffen nicht auf Menschen zu, die das Verhaltensmuster aufweisen, andere Menschen zu unterdrücken.

    Zu sūʾ adh-dhann („Annahme von etwas Schlechtem“) ist es wichtig, zu wissen, dass dies in bestimmten Fällen nicht nur erlaubt, sondern sogar gefordert ist. Wenn man diese Fälle nicht kennt und grundsätzlich immer ḥusn adh-dhan („Annahme des Guten“) anwendet, öffnet man ein Tor für spirituellen Missbrauch. Sidi Ahmad Zarruq nennt drei Fälle, in denen man sūʾ adh-dhann anwenden muss:

    • In der Religion (dīn), d.h. wenn man beginnt, mit jemandem zu studieren, prüft man dessen Kenntnisse und Empfehlungen. Ein Problem hierbei ist, dass der Begriff Shaykh mehrdeutig ist. Man muss verstehen, in welchen Bereichen jemand Experte ist und in welchen nicht. So ist ein Fiqh-Gelehrter nicht automatisch auch eine Autorität für Koran, usw.
    • Familie, d.h. wenn man z.B. seine Kinder in der Aufsicht von jemandem lässt, prüft man diese Person.
    • Besitz, d.h. bevor man mit jemandem Geschäfte macht, prüft man dessen Vertrauenswürdigkeit und Geschäftstüchtigkeit.

     

    II Geheimhaltung

    Geheimhaltung ist ein wichtiger Hinweis auf problematisches Verhalten. So können z.B. Lehrer ihre Studenten in einen elitären Zirkel hineinziehen, von dem nicht viel nach außen dringt, und hier Grenzen überschreiten.

    Leider werden im Bereich der Religion oft Vorsichtsmaßnahmen vernachlässigt, die man in jedem anderen Bereichen befolgen würde. Es ist wichtig zu wissen, dass es auch und besonders im religiösen Bereich Narzissten gibt. Narzissmus ist innerhalb des religiösen Personals sogar stärker verbreitet als in der Durchschnittsbevölkerung, was daran liegt, dass viele Menschen im religiösen Bereich weniger Vorsichtsmaßnahmen treffen und schneller vertrauen. Der religiöse Bereich ist daher ein gutes Versteck für Narzissten. Es ist daher von großer Bedeutung für die Prävention von spirituellem Missbrauch, über Narzissmus und die damit verbundenen Verhaltensweisen aufzuklären.

    Geheimhaltung muss verhindert werden. Das fängt bei den Kindern an. Man darf Kindern nicht erlauben, dass sie mit dem Koranlehrer Geheimnisse vor ihren Eltern haben. Wenn jemand zu den Kindern sagt: „Behalte das als Geheimnis!“, müssen die Kinder gelernt haben, dass das falsch ist. Alle oben genannten Aussagen werden auch verwendet, um Geheimhaltung herzustellen und aufrecht zu erhalten.

     

    Fallbeispiele

    Shaykh Rami Nsour berichtet von einem Fall aus seiner Beratungspraxis: Ein bereits verheirateter Schaykh will eine zweite Frau heiraten und schlägt einer seiner langjährigen Studentinnen die Ehe unter der Bedingung vor, dass niemand aus ihrer oder seiner Familie oder der Community davon erfährt. Aufgrund von „adab mit dem Shaykh“ lässt sie sich darauf zunächst ein, obwohl sie, wie sie auf Nachfrage bestätigt, bei einem „normalen Muslim“ niemals so verfahren wäre. Aber sie stellt Fragen, z.B. wer ihr walī [Vormund] sein soll, wenn ihr Vater davon nichts wissen soll. Daraufhin bezeichnet sich der Shaykh als „ihren spirituellen Vater“ und reagiert auf ihre Fragen mit dem Vorwurf, dass sie ihn anzweifeln würde. Shaykh Rami Nsour, von dem sich die betreffende Frau beraten ließ, konfrontierte Personen aus dem Umfeld des Shaykhs mit diesem Verhalten, und die Antwort war u.a. „Er macht viel daʿwa [Einladung zum Islam] in Amerika!“.

    In einem anderen Fall belästigte ein junger Shaykh im Tariqa-System, der vom Shaykh als Vertreter eingesetzt worden war, aber kaum kontrolliert wurde, junge Frauen. Er nutzte seine Position als Shaykh, um Kontakt zu den Frauen herzustellen und missbrauchte sie für Nachrichten mit sexuellem Inhalt.

     

    Frage

    Antworten auf Fragen der Teilnehmer und Teilnehmerinnen des Webinars:

    Sollte man die Namen der Täter nennen?

    In der Nennung von Namen liegt u.s. das Problem, dass diejenigen, die Fehlverhalten von religiösen Autoritätspersonen öffentlich machen, schnell zu Außenseitern gemacht werden. Shaykh Rami Nsour verfolgt einen Ansatz der Aufklärung und Prävention, der ohne die Nennung von Namen auskommt. Hilfreiche Ressourcen finden sich bei Organisationen, die sich zum Teil schon sehr lange mit der Thematik beschäftigen, wie Faith Trust Institute; neu ist das Hurma-Project von Prof. Ingrid Mattson und die website inshaykhsclothing, zu der Shaykh Rami Nsour selbst beiträgt. Spiritueller Missbrauch sollte auch Thema in den höheren Levels der religiösen Erziehung sein. Handelt es sich jedoch um Rechtsverletzungen, gegen die rechtlich vorgegangen werden kann, insbesondere im Fall von Kindesmissbrauch, sollten die rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft werden und auch die Namen öffentlich gemacht werden.

    In vielen Fällen geht es aber nicht um rechtliches, sondern um ethisches Fehlverhalten, das nicht justiziabel ist. Ein häufiger Einwand im Fall von heimlichen Zweitehen ist z.B., es handele sich hierbei doch um einvernehmliche Beziehungen zwischen zwei Erwachsenen. Diese Argumentation berücksichtigt aber nicht die dahinterstehende Machtdynamik.

    Wichtig ist, dass nicht nur die Missbraucher (und Missbraucherinnen, da es sich nicht nur um ein Problem männlicher Shaykhs handelt) zur Verantwortung zu ziehen sind, sondern auch die Community und diejenigen, die in Strukturen Verantwortung tragen.