Kultursensible Ansätze
Neben den religiös abgeleiteten Theorie- und Themensträngen, mit denen wir uns vor 2 Wochen beschäftigt haben, lassen sich auch kultursensible Ansätze differenzieren (Maynard, 2008, in diesem Band). Diese beziehen über die islamischen Quelltexte hinaus ganzheitlich die kulturelle Nische muslimischer Patienten ein. Arbeiten aus kultursensibler Perspektive sind sowohl im englischsprachigen (Abudabbeh & Hays, 2006; Al-Issa, 2000; Amer & Awad, 2015; Azadboni & Rabinataj, 2011; Daneshpour, 2017; Dwairy, 2006; Haque & Keshavarzi, 2013; Khalili et al., 2002; Podikunju-Hussain, 2006) als auch deutschsprachigem Raum (Laabdallaoui & Rüschoff 2009, 2017; Rezapour & Zapp 2011; Rüschoff 1988, 1989, 1992, 2003) vielfältig zugänglich. Einleitende Arbeiten geben allgemeine Hinweise zum Umgang mit muslimischen Patienten und wie bestehende Therapieformen kultursensibel modifiziert werden können (z. B. Dwairy, 2009; Laabdallaoui & Rüschoff 2009, 2017; Rezapour & Zapp, 2011). Auch basierend auf den Arbeiten, die in der Perspektive islamischer Therapieformen und Beratungspraxis die mit dem Islam „kompatiblen“ Therapieschulen identifizieren zu versuchen, wird gelegentlich argumentiert, dass einige Elemente der etablierten Beratungsmodelle oftmals nicht für die Therapie und Beratung von Muslimen geeignet sind (Al-Abdul-Jabbar & Al- Issa, 2000; Azhar & Varma, 2000; Banawi & Stockton, 1993; Carter & El-Hindi, 1999; Haque, 2008, 2010).
In der anwendungsorientierten Literatur wird ein starker kultureller Einfluss wirksam und ist – wenn gewollt – nur schwer zu isolieren (Mahmood & Ahmed, 2012), was z. B. in der Beschreibung von drei Ansätzen der islamischen Beratung nach S. Abdullah (2007) deutlich wird. S. Abdullah bezeichnet diese Ansätze zwar als islamisch, seine Kategorisierung beruht jedoch maßgeblich auf den kulturellen Praktiken, die weniger aus religiösen Texten als aus den Riten des jeweiligen Herkunftslandes des Klienten bzw. seiner Eltern abgeleitet sind: traditionelle Heilung (Kulturmodelle), muslimisches Personenrecht (Muslim Personal Law; MPL) und Sufismus.
Die traditionelle Heilung meint spirituelle Behandlungsformen durch Shaykhs oder Imame (Ali, O.M., 2016), die sich vorrangig auf die Besessenheit durch Dschinne o. ä. beziehen (z. B. Al-Krenawi & Graham, 1997; Al-Rawi et al., 2011; Azaizeh et al., 2010; Ypinazar & Margolis, 2006). Ungeachtet der Tatsache, dass der Qur’an zwar die Existenz von Dschinnen beschreibt, wurde in einer Diskussionsrunde zwischen erfahrenen Psychotherapeuten und islamischen Gelehrten im September 2014 am Cambridge Muslim College in Cambridge (England) jedoch deutlich, dass keiner der Praktiker jemals eindeutig mit einer Dschinn-Besessenheit konfrontiert war. Klar wurde vielmehr, dass die Vorstellung von Dschinnen und deren mutmaßlicher Beeinflussung des Menschen überwiegend aus den kulturellen Vorstellungen der Patienten und Klienten gespeist wird.
Der Ansatz des muslimischen Personenrechts (MPL) bezieht sich ebenfalls auf durch Imame bereitgestellte Beratung, in der insbesondere Fragen des islamischen Rechts relevant sind: Dies bezieht z. B. Ehe- und Scheidungsrecht, Erbrecht oder den Umgang mit allgemeinen Familien- und Eheproblemen ein und ist auch mehrheitlich von der Einbettung religiöser Praktiken in den jeweiligen kulturellen und nationalen Hintergrund des Klienten abhängig.
Der sufische Beratungsansatz beruft sich auf therapeutische Aspekte des Sufismus, wie z. B. spezielle Formen des Dhikrs (Badri, 1979; Jafari, 1992). Für die Sichtung der zahlreichen Arbeiten, die sich mit Konzepten von Gesundheit und Therapie im Sufitum auseinandersetzen, sind vielfältige Veröffentlichungen zugänglich (Bakhtiar , 1993, 1994a, 1994b, 2013d; Goels, 1996; Inayat, 1981; Khan, M.S., 1986; Kiymaz, 2002; Nizamie & Katshu, 2013; Nurbakhsh, 1993; Özelsel, 1995; Pryor, 2000; Rytter, 2014; Shafii, 1995; Spiegelman, Inayat & Fernandez, 1991; Vakily, 1999; Wilcox, 1996). Psychologische Sufi-Schriften betonen insbesondere die Stadien der spirituellen Entwicklung des Selbst (z. B. Shafii, 1985). Es besteht verschiedentlich die Ansicht, dass viele dieser spirituellen Interventionen wie z. B. repetitive, kollektive Dhikr-Litaneien nicht mit der islamischen Glaubenslehre vereinbar sind (Rassool, 2016).
M.S. Khan (1986; 1991) präsentiert ein Tibb-Beratungsmodell. Es folgt einem ganzheitlichen Beratungsansatz, der physische, spirituelle, psychologische und emotionale Faktoren kombiniert (Dharamsi & Maynard, 2012; Khan, M.S., 1991). Der Praktiker eines Tibb-Beratungsmodells wird Hakim genannt (Maynard, 2008, in diesem Band). Auch dieses Modell wird zwar von Dharamsi und Maynard (2012) als islamischer Beratungsansatz deklariert. Doch ist bei genauerer Untersuchung des Modells von M.S. Khan (1986) zu erkennen, dass es auf dem Fundament der griechischen Humoralpathologie aufbaut und lediglich mit islamischen Komponenten versehen wurde. Eine solche Komponente, so wird behauptet, ist zum Beispiel das Prinzip der Balance und Harmonie nach Ibn Sina, welches für M.S. Khans Modell (1986; 1991) essentiell ist. Innerhalb des Tibb-Beratungsmodells wird die Psychotherapie als Nafsiyat (von arab. Nafs; islamische Wissenschaft des Selbst) beschrieben.
Über diese Blogreihe
Nachdem wir uns im IASE Blog bereits den Themenfeldern „Die Terra Incognita der islamischen Psychologie“ und den „Instituten und Vereinigungen muslimischer Psychologen“ zugewandt haben, beschäftigen wir uns in dieser Blogreihe detaillierter mit der Literatur zum Thema islamische Psychologie in ihrer geschichtlichen Entwicklung und ihrem Gegenstand. Diese Blogreihe erscheint alle zwei Wochen am Sonntag. Die Inhalte sind aus der theoretischen Einführung in den Sammelband „Islam und Psychologie – Beiträge zu aktuellen Konzepten in Theorie und Praxis“ entnommen, der zum Beispiel hier erhältlich ist. Darin findet Ihr auch ein Literaturverzeichnis für die verwendeten Quellen.