Persönlichkeitstheorien
Für eine erste Orientierung lässt der Blick auf ein westlich-psychologisches Curriculum Rückschlüsse zu, welche Themenkomplexe gegenwärtig in der theoretischen Literatur bedeutsam sind. Wie bereits erwähnt, wird einiges Engagement in die Aufarbeitung der Geschichte der Psychologie investiert, insbesondere die Werke früher muslimischer Gelehrter (z. B. Bakhtiar, 2013a, b, c; Elleisy, 2013; Haque, 2004, in diesem Band; Khalili, 2008).
Persönlichkeitstheorien nehmen eine weitere elementare Rolle in der Literatur ein (z. B. Al-Attas, 2009; Amin, 1996; Ghufran, 1996; Hamid, R., 1974/2009; Othman, 2016; Tekke & Ismail, 2016a, 2016b). Dabei ist zwischen theoretisch-abgeleiteten Persönlichkeitsmodellen (z. B. Abdul Razak, M.A., 2011; Abu-Raiya, 2012, in diesem Band; Bonab & Kooshar, 2011; Bonab, Miner und Proctor, 2013; Diessner, Yazdani & Richel, 2007; Haeri, 1989; Hamid, R., 1974/2009; Inayat, 2005; Keshavarzi & Haque, 2013; Khalili, 2014; Skinner, 1989, 2010; Smither & Khorsandi, 2009; Raba, 2010), auf welche wir uns in den folgenden Erläuterungen beschränken, und empirischen Theorien der Persönlichkeit von Muslimen zu unterscheiden (z. B. Abu-Raiya & Pargament, 2010; Othman, 2011; Othman, Hamzah & Hashim, 2014). Theoretisch abgeleitete Persönlichkeitstheorien gehören zu den wenigen Theorien, die auch hinsichtlich ihres anwendungsorientierten Potentials z. B. für die klinische Praxis untersucht werden. Dabei ist aber festzustellen, dass über den Entwurf einiger spirituell- therapeutischer Interventionen hinaus (z. B. die Rezitation des Qur’ans oder Dhikr, das Gottgedenken; Haque & Keshavarzi, 2013) Versuchen, eine eigenständige psychotherapeutische Denkschule basierend auf islamischen Quelltexten zu konzeptualisieren, bisher wenig Erfolg beschieden war. Auf diese Versuche wird im anwendungsorientierten Abschnitt starker Bezug genommen. Am Einflussreichsten sind theoretisch abgeleitete, persönlichkeitstheoretische Arbeiten basierend auf den Werken früher muslimischer Gelehrter mit Abu Hamid Al-Ghazali als dem prominentesten Beispiel (Abu-Raiya, 2012, in diesem Band; Keshavarzi & Haque, 2013; Skinner, 1989, 2010), und solche, die sich auf klassische Schlüsselkonzepte wie z. B. Fitra beziehen, welche unten separat erläutert werden.
Die iranische Psychologin Zohr. Koshravi und der iranische Philosoph Khosrow Bagheri (2006, in diesem Band) berichteten eine von den klassischen Schlüsselkonzepten abweichende Theorie. Die von ihnen präsentierte islamisch-psychologische Theorie ist ein Novum in der Literaturlandschaft, da sie die Vorstellung des Menschen als Handelndem aus dem Qur’an abstrahiert und somit einen handlungspsychologischen Theoriestrang initiiert. In Erg.nzung dazu existieren erste Bemühungen, den Menschen als Bezogenen auf Gott zu verstehen (Ghobary-Bonab & Kooshar, 2011;Ghobary-Bonab, Miner & Proctor, 2013; Miner, Ghobary-Bonab, Dowson & Proctor, 2012; Miner, Ghobary-Bonab & Dowson, 2017; Khalil, 2014) und könnten zukünftig aus der Perspektive der Objektbeziehungstheorie weiter untersucht werden.
Ebenfalls abweichend von der Vorgehensweise, Persönlichkeitstheorien aus den Werken früher muslimischer Gelehrter und den darin besprochenen Schlüsselkonzepten abzuleiten, charakterisiert Raba (2010) Persönlichkeitstypen im Qur’an. Er berichtet drei Haupttypen der Persönlichkeit: glaubens- und gottesdienstbezogene Typen, sozial- und ethikbezogene Typen und intellektuell-, emotional-, physisch und professionell-bezogene Typen.
Das Ziel der Formulierung islamisch-psychologischer Persönlichkeitstheorien ist in den meisten Arbeiten nicht klar definiert. Bei Skinner (1989, in diesem Band) und Keshavarzi und Haque (2013) l.sst sich vermuten, dass sie darauf ausgerichtet ist, die menschliche Psychologie, ihre Pathologie und klinische Symptomatologie so wie den therapeutischen Prozess besser zu verstehen.
Neben Persönlichkeitstheorien versuchen verschiedene Autoren, Entwicklungstheorien (Abdullah, F., 2011, in diesem Band; Ahmed, 1998; Najati, M.A. 2009; Shehu, 1998, 2015) und allgemein-psychologische Theorien (Alawneh, 1998, 2009; Alias & Abdul Majid, 2005; Nazri et al., 2011; Noor, 1998, 2009; Saat et al., 2011; Zainuddin, 1996) zu formulieren. Im Rahmen allgemeinpsychologischer Theorien sind vor allem Motivationstheorien hervorzuheben (Khair, Ahmad & Hamid, M.A., 2016), wie z. B. das Taqwa Modell nach Alawneh (2011, in diesem Band), das Islamische Modell der Motivation nach Alias und Samsudin (2005), das Total Motivation Model nach Ather und Kollegen (2011), das Khauf wa Raja Modell nach Gustiawan (2013) und das Divine Motivation Modell nach Khair (2014). Diese Theorien werden mit überwiegender Beteiligung malaysischer Autoren in anwendungsorientierten Modellen der Arbeitsmotivation entwickelt (z. B. Bhatti, Hassan & Sulaiman, 2016). Ein Bereich, der mit wenigen anwendungsorientierten Ausnahmen bisher kaum bedient wurde, ist die Sozialpsychologie (Al-Karasneh & Saleh, 2010; Taib, Alias & Taib, 2011).
Über diese Blogreihe
Nachdem wir uns im IASE Blog bereits den Themenfeldern „Die Terra Incognita der islamischen Psychologie“ und den „Instituten und Vereinigungen muslimischer Psychologen“ zugewandt haben, beschäftigen wir uns in dieser Blogreihe detaillierter mit der Literatur zum Thema islamische Psychologie in ihrer geschichtlichen Entwicklung und ihrem Gegenstand. Diese Blogreihe erscheint alle zwei Wochen am Sonntag. Die Inhalte sind aus der theoretischen Einführung in den Sammelband „Islam und Psychologie – Beiträge zu aktuellen Konzepten in Theorie und Praxis“ entnommen, der zum Beispiel hier erhältlich ist. Darin findet Ihr auch ein Literaturverzeichnis für die verwendeten Quellen.