Der Brückenschlag zwischen islamischem Gedankengut und psychologischem Gegenstand
Eine weit verbreitete Fragestellung unter muslimischen Psychologiestudenten ist die nach der Verbindung ihrer islamischen Identität und ihrem psychologischen Hintergrund. Zur Beantwortung dieser Frage liefern Kaplick und Skinner (2017) drei Ansätze, die beschreiben, wie islamische Lehren aus den Primär- und Sekundärquellen mit psychologischem Gedankengut und insbesondere der westlichen Psychologie verknüpft werden können:
1) den islamischen Filteransatz nach Badri (1979),
2) den islamischen Psychologieansatz nach Skinner (1989, in diesem Band) und
3) den Vergleichsansatz nach S. Hussain (1984).
Badris Ansatz (1979) betrachtet die westliche Psychologie aus einer kritischen islamischen Perspektive und versucht, aus ihr universelle Aussagen zu extrahieren und sie von kulturell-bedingten Ansichten und m.glichen Widersprüchen zu islamischen Auffassungen abzugrenzen. Trotzdem bewegt sich dieser Ansatz innerhalb der westlichen Psychologie und greift auf empirische Methoden zurück (Badri, 2016). Verschiedene Autoren sprechen in diesem Sinne oft von einer islamischen Perspektive, aus der heraus die Psychologie betrachtet wird (z. B. Amjad, 1996; Badri, 2012, in diesem Band; Noor, 2009; Utz, 2011).
Der islamische Psychologieansatz nach Skinner (1989, in diesem Band) ist das Ergebnis einer 10-jährigen Rezeption Badris (1979), die unter dem Einfluss des Naturheilkundlers/Hakim Muhammad Salim Khan, der amerikanischen psychologischen Beraterin Aliah Haeri, dem Übersetzer klassischer theologischer Werke aus dem Arabischen Muhtar Holland, dem islamischen Theologen und Dekan des Cambridge Muslim College Timothy Winter (auch bekannt als Abdal-Hakim Murad) und den schiitisch-islamischen Psychologen Abdullah Maynard und Sabnum Dharamsi erfolgte. Dieser Ansatz beruft sich maßgeblich auf die Werke früher muslimischer Gelehrter und schlägt ein Verständnis einer islamischen Psychologie vor, die sich vollständig aus den islamischen Quelltexten ableitet. Die zentrale Relevanz der frühen muslimischen Gelehrten wird damit gerechtfertigt, dass sie Interpretationen des Qur’ans und der prophetischen Überlieferungen (Ahadith) in Bezug auf die Psychologie begründet haben. Skinner (1989, in diesem Band) argumentiert weiter, dass diese Interpretationen durch das islamische Umfeld dieser Gelehrten begünstigt wurden.
Dieser Ansatz schließt die Verwendung islamischer Primärquellen (d. h. des Qur’ans und der prophetischen Tradition, Sunna) als Ursprung der Theoriearbeit nicht aus, betrachtet dieses Unterfangen aber kritisch. Bisher sind nur wenige Versuche in dieser Richtung unternommen worden (z. B. Abu-Raiya 2012, in diesem Band; Ansari, 1992, 2002; Bagheri, 2006; Raba, 2010). Auch haben aus der Sicht dieses Ansatzes die frühen muslimischen Gelehrten bereits einen Großteil dieser Anstrengung unternommen und es gelte, diesen zunächst aufzuarbeiten (z. B. Awaad & Ali, S., 2015, 2016; Keshavarzi & Haque, 2013). Ein weiterer Faktor sei, dass für die Durchdringung der islamischen Primärquellen eine exzellente interdisziplinäre Ausbildung in Psychologie, der arabischen Sprache und mitunter Philosophie, Geschichtswissenschaften und Theologie erforderlich ist. Aus vermutlich denselben Gründen verbleiben oftmals die Beiträge arabischer muslimischer Psychologen der Gegenwart in der englischsprachigen Literatur unberücksichtigt (z. B. Al-Hashmi, 1984; Mohammed, 1984; Nadir, 1986; Najati, M.U. 1979; Qutub, 1983; Sharif, 1987).
Skinner (1989, in diesem Band) erkennt an, dass die Werke früher muslimischer Gelehrter stark von griechischem Gedankengut beeinflusst wurden und deren psychologische Erkenntnisse oftmals Resultat von Selbst- und Fremdbeobachtung sind, also nicht auf experimenteller Forschung nach heutigen Standards beruhen. Auch sei der Sitz im Leben dieser Gelehrten einzubeziehen (Kaplick & Skinner, 2017).
Die Tatsache, dass viele der frühen Gelehrten wie z. B. Ibn Sina in ihren Kulturen auch starken nichtislamischen Einflüssen unterlagen, erfordert, ihre Werke kritisch zu betrachten und bedeutet, was bei allem Respekt vor den großen Gestalten der islamischen Geistesgeschichte noch wichtiger ist, dass auch heutige muslimische Psychologen und Theologen fundierte Grundlagenforschung leisten können. Als weiterer Kritikpunkt einer ausschließlichen Rezeption der Gelehrten der Frühzeit sei angemerkt, dass wir seit Al-Ghazali (gest. 1111) heute auf mindestens weitere 800 Jahre islamische Geistestradition zurückgreifen können. Die Werke der frühen muslimischen Gelehrten stellen unzweifelhaft einen großen Reichtum an psychologischem Wissen dar und machen den Hauptanteil der gegenwärtigen theoretischen Ausarbeitung aus. Das sollte uns jedoch nicht hindern, die weitere Theoriearbeit auch auf Basis der Arbeit der folgenden Generationen von Gelehrten bis hin zu muslimischen Psychologen der Gegenwart zu betreiben.
Sadiq Hussain (1984) liefert die erste Vergleichsarbeit zwischen westlich-psychologischen Konzepten und den angenommenen islamischen Äquivalenten und begründet damit einen dritten Ansatz, den Vergleichsansatz. Der zentrale Unterschied zu Badris Filteransatz (1979) besteht darin, dass Arbeiten im Bereich des Vergleichsansatzes keine kritische Perspektive auf die westliche Psychologie liefern, sondern insbesondere darstellen möchten, dass die islamische Tradition gleichartige Konzepte bereits vor mehreren Jahrhunderten etabliert hat. Dies entspringt nicht zuletzt dem Bedürfnis, mit der westlichen Psychologie auf Augenhöhe zu agieren. Ein Beispiel ist der Versuch einer Formulierung einer islamischen Persönlichkeitstheorie in Tekke und Ismail (2016b), die das Gedankengut von Carl Rogers und Said Nursi zu versöhnen versuchen. Bakar (2012) merkt in seiner Geschichte und Philosophie der islamischen Wissenschaften an, dass diese Reaktion auf die moderne Wissenschaft unter muslimischen Akademikern in den verschiedensten Disziplinen (wie z. B. der Medizin oder Soziologie) beobachtet werden kann.
Auch wenn dem Vergleichsansatz zu Beginn der Theoriefindung durchaus eine fundamentale Bedeutung zukommen kann (z. B. Abu-Raiya, 2014; Noor, 2009; Raba, 2010), kommen viele der Arbeiten zu allzu vereinfachten Ergebnissen. Die Gefahr besteht darin, psychologisch relevante Konzepte in der islamischen Tradition ohne Berücksichtigung der möglichen wissenschaftstheoretischen Unterschiede zur westlichen Tradition (vgl. Murken & Shah, 2002, in diesem Band) mit westlich-psychologischen Konzepten gleichzusetzen und schlicht als solche zu etikettieren. Als Beispiel lassen sich Ijaz, Khalili und Ahmad (2017) anführen, die das Konzept der Achtsamkeit mit dem islamischen Konzept des Khushu’, der tiefen Demut im Gebet, gleichsetzen, ohne die m.glichen Unterschiede in den Konzepten zu beleuchten. Damit kann der von S. Hussain (1984) begründete Ansatz in Konflikt mit dem Filter- und islamischen Psychologieansatz geraten, indem dieser weder eine differenzierte Sicht auf die westliche Psychologie entwickelt, noch das theoretische Fundament einer islamischen Psychologie erarbeitet (Kaplick & Skinner, 2017).
Skinner (2015) vermerkt, dass Badris Ansatz (1979) als eine Indigenisierung from without und der islamische Psychologieansatz (Skinner, 1989, in diesem Band) als eine Indigenisierung from within verstanden werden kann. In der kulturübergreifenden Psychologie wurde diese Terminologie erstmalig von Enriquez (1993) eingeführt: Wo eine Indigenisierung from without versucht, westlich-psychologische Theorien und Methoden an einen lokalen, kulturellen Kontext anzupassen und zu modifizieren (z. B. Lambert D’raven et al., 2015), strebt eine Indigenisierung from within danach, psychologische Theorien und Methoden aus der eigenen, kulturellen, lokalen Geistestradition zu schöpfen.
Eine abschlie.ende Definition ist nach unserer Auffassung nicht in Sicht. Jedoch liefern Kaplick und Skinner (2017, S. 199) eine erste Arbeitsdefinition, die versucht, die Linien des Literaturkorpus der Islam und Psychologie-Strömung zusammenzufassen und verstehen diese als das interdisziplinäre Feld, welches die menschliche Natur in Relation zu islamischen Quelltexten erforscht und dieses Wissen dazu nutzt, den Menschen in seinen bestmöglichen physischen, spirituellen, kognitiven und emotionalen Zustand zu bringen. Dieser bestmögliche Zustand kann unterschiedlich interpretiert werden, wie zum Beispiel dem Konzept des Gleichgewichts nach Abu Hamid Al-Ghazali (I’tidaal) oder Ibn Sina (Khan, M.S., 1986) folgend.
Über diese Blogreihe
Nachdem wir uns im IASE Blog bereits den Themenfeldern „Die Terra Incognita der islamischen Psychologie“ und den „Instituten und Vereinigungen muslimischer Psychologen“ zugewandt haben, beschäftigen wir uns in dieser Blogreihe detaillierter mit der Literatur zum Thema islamische Psychologie in ihrer geschichtlichen Entwicklung und ihrem Gegenstand. Diese Blogreihe erscheint alle zwei Wochen am Sonntag. Die Inhalte sind aus der theoretischen Einführung in den Sammelband „Islam und Psychologie – Beiträge zu aktuellen Konzepten in Theorie und Praxis“ entnommen, der zum Beispiel hier erhältlich ist. Darin findet Ihr auch ein Literaturverzeichnis für die verwendeten Quellen.