Die Rolle der westlichen Psychologie
1978 stieß Malik Badri in Saudi-Arabien und Ägypten auf heftigen Widerstand, als er seine Ideen zur Berücksichtigung einer islamischen Perspektive auf die moderne westliche Psychologie unter arabischen Psychologen propagierte. Man habe erst kürzlich die westliche Psychologie an psychologischen Fakultäten in den arabischen Ländern anzusiedeln begonnen und im selben Atemzuge der Religion im psychologischen Diskurs abgeschworen, wieso sollte man sie nun wieder zurückbringen (Badri, 2014)? Diese Ablehnung religiöser Inhalte in der Psychologie findet sich weiterhin in der islamischen Welt, z. B. den Vereinigten Arabischen Emiraten (York Al-Karam & Haque, 2015). Mittlerweile haben muslimische Psychologen jedoch ihre eigenen Diskussionsmedien entwickelt, sodass es inzwischen auf Konferenzen zum Thema islamische Psychologie vor allem in der westlichen Hemisphäre unter ihnen schnell zu Erstaunen oder auch Entsetzen kommt, wenn die moderne akademische Psychologie als Goldstandard für ein Psychologieverständnis angesetzt wird. Diese Reaktion scheint in England regelmäßiger anzutreffen zu sein als in der amerikanischen Gemeinschaft muslimischer Psychologen, da Letztere traditionell empfänglicher für Annahmen der westlichen Psychologie ist. Im Spannungsfeld positiv und negativ gesinnter muslimischer Psychologen in Bezug auf die westliche Psychologie ist es daher für die Einordnung von Forschungsarbeiten von fundamentaler Bedeutung, Indikatoren für die Einstellungen der Autoren gegenüber der westlichen Psychologie sichtbar zu machen, da sich diese oft im Umgang mit dem Gegenstandsbereich niederschlagen.
Wie oben bereits erwähnt, sehen die meisten Vertreter der Strömung die wissenschaftliche Psychologie des Westens gegenwärtig im Konflikt mit einem islamischen Verständnis der menschlichen Natur (z. B. Badri, 1979; Hamid, R., 1977, in diesem Band; Hussain, S., 1984; Skinner, 1989, 2010; Vahab, 1996a). Ein Großteil dieser kritischen Arbeiten kommt aus dem asiatischen Raum, besonders aus Malaysia (Haque & Masuan, 2002) und Indien (Kaplick, 2018; vgl. Khan, S.H., 1996, in diesem Band; Siddiqui & Malek, 1996; Vahab, 1996a), aber auch aus Großbritannien (vgl. Skinner, 1989, 2010). Im Detail werden vor allem Unterschiede in der Epistemologie und der vermeintlich materialistischen Orientierung der wissenschaftlichen Psychologie aufgezeigt (Murken & Shah, 2002, in diesem Band; siehe auch: Sahin, 2013) und kritisiert, dass die westliche Psychologie dem Menschen volitionale und transzendentale Elemente abspricht bzw. diese ignoriert (Safi, 1998; Husain, A., 2006, 2017). Ein weiterer wesentlicher Aspekt scheint zu sein, dass die meisten muslimischen Psychologen, die die westliche Psychologie kritisch beurteilen, die Psychologie als Kultur- bzw. Sozialwissenschaft (auch bezeichnet als traditionelle/„alte“ Psychologie bzw. Studie der menschlichen Seele und des Bewusstseins; Quasem, 1981) verstehen – entgegen dem vorherrschenden Selbstverst.ndnis der gegenw.rtigen wissenschaftlichen Psychologie als Naturwissenschaft.
In der Literatur gibt es zwei nennenswerte wissenschaftstheoretische Debatten zur islamischen Psychologie: Zum einen handelt es sich um die Diskussion zwischen dem deutschen Religionspsychologen Sebastian Murken und dem in Kanada angesiedelten iranischen Psychologen Ashiq Ali Shah (2002, in diesem Band), die die unterschiedlichen Verständnisse von Wissenschaft allgemein und Psychologie im Besonderen beleuchten. Zum anderen findet sich eine epistemologische Debatte in zwei Veröffentlichungen vom an der Necmettin-Erbakan-Universität in Konya (Türkei) beheimateten Professor Adem Sahin (2013) und dem texanischen Professor Wade Rowatt (2013). Aus Platzgründen ist letztere Debatte nicht in diesen Sammelband aufgenommen, ist jedoch zum Verständnis der Möglichkeiten und Grenzen einer islamischen Psychologie bedeutsam.
Eine pauschale Verurteilung westlich-psychologischer Theorien als Ausgeburt eines vermeintlich materialistischen Weltverständnisses ist in einem akademischen Diskurs nicht annehmbar. Es stellt sich daher die Frage nach Kriterien, anhand derer westliche, nichtmuslimische Psychologen einschätzen können, wann eine Theorie aus einer islamischen Perspektive akzeptabel ist. Neben den offensichtlichen Punkten, dass eine wissenschaftliche Theorie mit den Prinzipien einer mit dem Islam zu vereinbarenden Epistemologie übereinstimmen und volitionale und transzendentale Elemente dem Menschen nicht abgesprochen werden sollten (siehe obige Kritikpunkte), liefert die Literatur zu den spezifischen Anforderungen an psychologische Theorien soweit nur wenig Material. Die einzige Spur, die wir dahingehend ausmachen konnten, wird von dem britischen Analytiker und Professor der klinischen Psychologie an der Universität Karachi (Pakistan) Rasjid Skinner (1989, in diesem Band) geliefert: Danach ist eine klinisch-psychologische Theorie dann akzeptabel, wenn sie den Psychotherapeuten dazu befähigen, die Symptomatik des Patienten ausreichend zu erklären und ihr Sinn verleihen zu können. Es wird ersichtlich, dass dieser Beitrag Skinners erst den Anfang einer umfangreichen Debatte darstellen kann.
Bei muslimischen Psychologen zeigt sich eine positive Haltung gegenüber der westlichen Psychologie vor allem in Definitionen, die viel Spielraum für empirische Methoden lassen. Hierbei ist jedoch Vorsicht geboten, da z. B. Vahab (1996b, in diesem Band) die empirische Methodik islamisch rechtfertigt und eine Anwendung empirischer Methoden mit einer sehr kritischen Einstellung gegenüber der modernen Psychologie kombiniert.
Es wird ersichtlich, dass es zwei Positionen innerhalb der Gemeinschaft muslimischer Psychologen gibt, „Psychologie“ in Definitionen einer islamischen Psychologie zu verstehen: Zum einen wird das vom Mainstream abweichende, jedoch umfassendere Verständnis einer Psychologie als Kultur- bzw. Sozialwissenschaft vom Großteil der Autoren propagiert. Zum anderen versteht eine kleinere Gruppe von muslimischen Psychologen „Psychologie“ in der Tradition der naturwissenschaftlichen Psychologie.
Zusammenfassend reichen Definitionen einer islamischen Psychologie aus islamischer Sicht von reiner Quelltextarbeit (theoretisch-orientierte islamische Psychologie) bis hin zur empirischen Untersuchung von Muslimen ohne notwendige Einbeziehung islamischer Elemente (empirisch-orientierte islamische Psychologie) und psychologisch von einer unkritischen Übernahme westlicher Theorien bis zur kompletten Ablehnung der wissenschaftlichen Psychologie und der Etablierung einer Theorie der menschlichen Natur ausschließlich auf Basis islamisch-religiöser Vorstellungen.
Über diese Blogreihe
Nachdem wir uns im IASE Blog bereits den Themenfeldern „Die Terra Incognita der islamischen Psychologie“ und den „Instituten und Vereinigungen muslimischer Psychologen“ zugewandt haben, beschäftigen wir uns in dieser Blogreihe detaillierter mit der Literatur zum Thema islamische Psychologie in ihrer geschichtlichen Entwicklung und ihrem Gegenstand. Diese Blogreihe erscheint alle zwei Wochen am Sonntag. Die Inhalte sind aus der theoretischen Einführung in den Sammelband „Islam und Psychologie – Beiträge zu aktuellen Konzepten in Theorie und Praxis“ entnommen, der zum Beispiel hier erhältlich ist. Darin findet Ihr auch ein Literaturverzeichnis für die verwendeten Quellen.