Blogreihe: Islam und Psychologie – Gegenstand und Geschichte – Teil 6

Erstes Stadium der Theoriebildung: Identitätsfindung

In den 1970er bis 1990er Jahren gab es vereinzelte Unternehmungen muslimischer Psychologen, die indigene psychologische Tradition des Islams zu ergründen (z. B. Ansari, 1992; Al-Attas, 1990; Hosseini, 1988; Karim, 1984; Skinner, 1989, in diesem Band). Dabei kam es insbesondere zu Vergleichen der Menschenbilder aus islamischer und westlich-psychologischer Sicht mit dem Ziel, einen Überblick über Ähnlichkeiten und Unterschiede der verschiedenen Konzepte zu bekommen. Dies führte von einer deutlichen Betonung der Unterschiede seitens der überwiegenden Mehrheit muslimischer Psychologen bis hin zur kompletten Ablehnung als atheistisch bezeichneter, „westlicher“ Konzepte (z. B. Hamid, R., 1977, in diesem Band).

Es ist zu beobachten, dass vor allem Autoren aus der islamischen Welt die Entwicklungen der westlichen Psychologie nahezu ohne Ausnahme kritisch-diffamierend verdammen. Sie beziehen sich zumeist ausschließlich auf die Aussagen der Gründer von Therapieschulen, wobei insbesondere Sigmund Freud für die Psychoanalyse und Watson und B.F. Skinner für den Behaviorismus und die Verhaltenstherapie im Zentrum ihrer Kritik stehen und ignorieren nahezu komplett die weitere  Entwicklung dieser Schulen. So finden z. B. die Neopsychoanalyse nach Karen Horney, die Individualpsychologie nach Alfred Adler, die philosophische Anthropologie nach Erich Fromm oder die Daseinsanalyse nach Ludwig Binswanger ebenso wenig Berücksichtigung wie die Objektbeziehungstheorie oder Kohuts Selbstpsychologie. Gleichzeitig verstehen sie Darwin und dessen Evolutionstheorie als Bruder im Geiste der atheistischen Wissenschaften, auf den diese sich in ihren Menschenbildern beziehen. Vermeintliche Widersprüche zwischen den Schulen werden nicht als Ausdruck der Komplexität des Gegenstandes Mensch oder unterschiedlicher Zugangsweisen (z. B. beobachtbares Verhalten vs. Annahme innerer Konflikte) verstanden, sondern ausschließlich als Ausdruck mangelnder „Wissenschaftlichkeit“, fehlender Spiritualität und abgelehnten Gottesbezuges (Abdullah, F., 2011, in diesem Band; Badri, 1979, 2012, in diesem Band).

Zweites Stadium der Theoriebildung: Entwicklung eines Anspruchs auf Veränderung

Nach der anfänglichen Erkenntnis, dass der Islam ein reiches Erbe an psychologischem Gedankengut mit sich bringt, lässt sich in der Literatur ab Mitte der 90er Jahre bis in die jüngste Vergangenheit ein Umdenken beobachten. Dieses Stadium der Theoriebildung verstehen wir als Entwicklung eines Veränderungsanspruches: Es ist gekennzeichnet durch muslimische Psychologen, die weniger die westliche Psychologie und ihr philosophisches Fundament kritisieren, sondern beginnen, einen theoretischen Referenzrahmen für ihre eigene, islamisch-begründete Psychologie zu formulieren. In diesem Zusammenhang kam es sowohl zur Veröffentlichung erster, qualitativ eher zweifelhafter, einführender Texte in die islamische Psychologie (z. B. Ansari, 2002; Husain, A., 2006; Husain, M.G., 1996; Vahab, 1996a) als auch zu ersten Explorationen möglicher Anwendungsbereiche mit islamisch-psychologischer Fundierung wie z. B. der klinischen Psychologie.

In den letzten Jahren ist ein Bestreben zu verzeichnen, die Definition einer islamischen Psychologie systematischer anzugehen. Carrie York Al-Karam schlägt beispielsweise in ihrem Background Paper zum voraussichtlich im April 2018 stattfindenden Islamic Psychology: Defining a Discipline Seminar des Research Centre for Islamic Legislation and Ethics (CILE) vor, dabei auf das Multilevel Interdisciplinary Paradigm als methodologisches Hilfsmittel aus der Psychologie der Religion und Spiritualität zurückzugreifen. Ein zentrales Ergebnis Al-Karams Arbeit ist dabei der Vorschlag, dass es nicht nur eine Definition einer islamischen Psychologie geben muss, sondern diese in Abhängigkeit von Faktoren wie z. B. den betrachteten islamischen Thematiken oder der verwendeten Methode stark variieren kann (York Al-Karam, 2017).

In diesem zweiten Stadium der Theoriebildung ist außerdem ein neues Phänomen in der Strömung zu beobachten (Skinner, persönliche Kommunikation, 31. Dezember 2016): Konvertiten aus westlichen Ländern sind bestrebt, die eigenen wissenschaftlichen Traditionen für ihre islamischen Ansätze fruchtbar zu machen. Hier spielen insbesondere Menschenbilder und psychologische Denk- und Therapieschulen eine Rolle, die sich positiv oder zumindest neutral zum Thema Religion und Spiritualität positionieren, wie z. B. Carl Gustav Jung, Alfred Adler, Viktor Frankl oder Carl Rogers.

Nach 40 Jahren Arbeit muslimischer Fachleute der unterschiedlichen Disziplinen und verschiedener Kulturen in der englischsprachigen Literatur ist die Ideenlandschaft beim Thema islamische Psychologie inzwischen sehr heterogen. Hier werden unterschiedliche Schlüsselkonzepte wie Fitra (arab. menschliche Natur; Mohamed, 1995, in diesem Band), Handlung (Koshravi & Bagheri, 2006, in diesem Band) oder Motivation (Alawneh, 1998, in diesem Band) entwickelt und diskutiert.

In 2 Wochen werden wir ausführlicher mit der Gegenwartsliteratur auseinandersetzen.

Über diese Blogreihe

Nachdem wir uns im IASE Blog bereits den Themenfeldern „Die Terra Incognita der islamischen Psychologie“ und den „Instituten und Vereinigungen muslimischer Psychologen“ zugewandt haben, beschäftigen wir uns in dieser Blogreihe detaillierter mit der Literatur zum Thema islamische Psychologie in ihrer geschichtlichen Entwicklung und ihrem Gegenstand. Diese Blogreihe erscheint alle zwei Wochen am Sonntag. Die Inhalte sind aus der theoretischen Einführung in den Sammelband „Islam und Psychologie – Beiträge zu aktuellen Konzepten in Theorie und Praxis“ entnommen, der zum Beispiel hier erhältlich ist. Darin findet Ihr auch ein Literaturverzeichnis für die verwendeten Quellen.