Aus der Schatzkiste. Die Wenigsten wissen, dass die IASE seit den 1980er Jahren existiert. Wir haben alte Tagungsbeiträge ausgesucht, um sie wöchentlich hier zu posten. Viel Vergnügen beim Lesen.


Malika Laabdallaoui

Vor etwa einem Jahr habe ich angefangen, im Islamischen Bildungs- und Informationszentrum (Ibiz) in Mainz psychologische Beratung für Muslime und ihre Angehörige anzubieten. Ich mußte die verantwortlichen Geschwister erst davon überzeugen, dass ich für dieses Angebot keine Gegenleistung verlange und dass sie keinen Schaden davon haben. Ich selbst habe dadurch Gelegenheit, praktische Erfahrungen in der Beratung und Therapie von Muslimen zu sammeln.

Die Nachfrage ist groß. Den Muslimen fällt es leichter, in eine islamische Einrichtung zu kommen, wenn sie wissen, dass es jemand gibt, der sie in ihrer religiösen und traditionellen Erlebniswelt verstehen kann. Einige sagen, sie seien froh, nicht viel von ihrem Glauben erzählen zu müssen, um verstanden zu werden.

Es ist mir wichtig, dass das Zentrum relativ unabhängig ist, also keiner Moschee und auch keiner deutschen Institution angeschlossen ist.

Als ich diese Arbeit begann, dachte ich eher an alltägliche Probleme wie Erziehungsprobleme, Schwierigkeiten in der Ehe, Schulprobleme usw. Ich mußte jedoch feststellen, dass sich Muslime wegen solcher Schwierigkeiten, mit denen deutsche Familien oft in die Beratungsstelle kommen, kaum Hilfe holen. Es scheint, dass bei Muslimen die Probleme schon sehr groß sein müssen, bevor sie mit Dritten darüber sprechen können. Diese Arbeit hat mir erst bewußt gemacht, wie belastet unsere muslimischen Familien oft sind und wie groß die Ausweglosigkeit dort sein kann. Es kommen Menschen, vor allem Frauen und junge Mädchen, mit Schwierigkeiten und Schicksalen, mit denen ich erst lernen mußte umzugehen. Sie reichen von Selbstmordversuchen, sexuellem Mißbrauch durch Familienangehörige und nichtehelichen Intimbeziehungen bis hin zu Mordversuchen durch den Ehemann. Zur Verdeutlichung möchte ich drei Beispiele aus unterschiedlichen Problembereichen bringen:

 

Fallbeispiel 1:

So erzählte eine junge Frau, Tunesierin:

„Als wir geheiratet haben, hat mein Mann gesagt, wenn du nicht gleich schwanger wirst, bringe ich dich um und heirate eine andere. Er sagte, er würde mich zerstückeln, in blaue Säcke verpacken und in den Müll werfen. Er schlug mich jeden Tag. Als ich schwanger wurde, wollte er, dass ich das Kind ab-treiben lasse, da er sich nicht durch ein Kind an mich binden lassen wolle. Da meine Furcht vor Allah größer ist, weigerte ich mich. Er schlug jeden Tag auf mich ein. Manchmal kam er in der Pause von der Arbeit, verprügelte mich und ging wieder. Außer seiner Familie kenne ich niemanden hier in Deutschland. Ich lebe seit einem Jahr hier, durfte aber nie aus der Wohnung gehen. Er schließt immer die Tür ab, wenn er geht. Ein Telefon haben wir nicht. Als ich schwanger wurde, brachten sie mich zum Arzt. Zu Hause zerriß er den Mutterpaß und sagte, ich brauche ihn sowieso nicht, denn ich würde vorher sterben. Ein mal kam er wieder in der Pause von der Arbeit und sagte: „Du wirst heute sterben! Ich bringe dich um.“ Er schlug mich zu Boden, trat mit den Füßen in meinen Bauch und schlug auf mich so lang ein, bis ich glaubte, keine Luft mehr zu bekommen. Nach einiger Zeit hörte er auf mit der Begründung, dass er wieder zur Arbeit gehen müsse, sonst wurde er mich gleich erledigen. Aber er werde zurück kommen. Als er weg war sprang ich aus dem Fenster und ging zu einer Nachbarin, die ich vorher aus dem Fenster als Tunesierin erkannt habe und bat sie, mich telefonieren zu lassen. Ich rief meine Schwiegermutter an und erzählte ihr, was passiert war und dass ich nicht bei ihrem Sohn bleiben kann. Ich hatte unheimliche Angst. Als sie kam, schlug sie mich vor der Nachbarin ins Gesicht. Sie regte sich darüber auf, dass ich zu einer fremden Frau gegangen war, aber ich hatte keine andere Wahl. Anschließend brachte mich die Familie in eine Wohnung, die meine Schwägerin wohl angemietet, aber nicht renoviert und eingerichtet hatte. Ich bekam dort eine Matratze, Decke und Kissen. Zum Essen brachten sie mir alle zwei Tage einen Fladen Brot. Ich wurde immer schwächer und wurde dann so krank, dass mich die Schwiegermutter doch zum Arzt brachte. Als sich der Arzt darüber aufregte, dass ich nicht zu den Untersuchungen kam, sagte sie, ich wäre die ganze Zeit in Tunesien gewesen. Da das Kind sich nicht altersgemäß entwickelt hatte, sollte ich viel liegen und mich schonen. Sie (die Schwiegermutter) nahm mich dann mit in ihre Wohnung und ließ mich dort ununterbrochen arbeiten. Obwohl sie bis dahin mit der Waschmaschine gewaschen hatte, mußte ich mit der Hand für die ganze Familie waschen. Oft nahm sie saubere Wäsche aus dem Schrank und zwang mich, sie noch mal waschen und zu bügeln.

Als ich zur Entbindung ins Krankenhaus kam, besuchte mich mein Mann ein einziges mal. Er sprach kein Wort mit mir, sah sich das Kind an, redete mit der Krankenschwester und ging. Ich schämte mich sehr vor meinen Zimmernachbarinnen. Nach der Entbindung kam ich wieder zur Schwiegermutter, wo ich wieder die ganze Hausarbeit übernehmen mußte. Ich hätte so gerne mein Kind gestillt, aber ich durfte nicht, denn es sollte sich nicht an meine Milch gewöhnen. Essen durfte ich außer Brot und Kaffee nichts, damit sich die Milch nicht entwickelt. Einmal mußte ich einen schlecht gewordenen Eintopf essen. Sie haben mich dazu gezwungen. Ich habe heute noch Magenschmerzen davon. Einmal hatte ich gekocht. Wie so oft nahmen sie auch diesmal das Essen und gingen in meine Wohnung. Mir ließen sie wie immer nichts zurück und schlossen die Tür ab. Später kam dann mein Schwiegervater von der Arbeit und vergaß die Tür hinter sich abzuschließen. Als er ins Bad ging, nahm ich das Kind und rannte raus.“

Draußen klingelte die junge Frau bei Nachbarn, die die Polizei holten, die sie anschließend in ein Frauenhaus brachte. Weil sie kaum Deutsch spricht, war ich die erste Person, der sie sich anvertrauen konnte. Ich bewundere an diese Frau ihren starken Glauben, den sie in dieser ganzen Misere nie verloren hat und der ihr geholfen hat, nicht den Verstand zu verlieren.

Dieser Fall ist sicherlich nicht die Regel, doch kommt Gewalt sehr oft in muslimischen Familien vor. Häufig nutzen die Männer die hilflose Situation der Frauen schamlos aus.

 

Fallbeispiel 2:

Ein junges türkisches Mädchen erzählt, dass sie und ihre Schwester als Kinder jahrelang von ihrem Onkel sexuell mißbraucht wurden. Sie durften nichts davon sagen. Als sie mit 15 Jahren doch den Mut aufbrachte, es der Mutter zu erzählen, glaubte diese ihr nicht und bestrafte sie für ihre Lüge. Seitdem hat sie das Vertrauen in die Mutter ganz verloren, und die Sache mit dem Onkel wurde vergessen.

Das Mädchen hat jetzt ein gestörtes Verhältnis zu sich selber und würde am liebsten sterben. Einen Selbstmordversuch mit Tabletten hat sie bereits unternommen. Obwohl sie, wie sie erzählt, betet und fastet, ist ihr Glaube zutiefst erschüttert.

Zu Beginn meiner Arbeit war es für mich unvorstellbar, dass regelmäßig betende und fastende Muslime Ehebruch begehen, aber auch das kommt vor.

 

Fallbeispiel 3:

Eine Frau, die ganz normal mit ihrem Mann und ihren 2 Kindern lebt, hatte über 5 Jahre eine Beziehung zu dem  Freund ihres Mannes. Die beiden Männer wiederum gehen regelmäßig zusammen in die Moschee um zu beten. Weil sie dieses Doppelleben nicht mehr ertragen konnte und sich dies auf ihre psychische Gesundheit auswirkte, kam sie in die Beratung.

Die Beispiele können beliebig fortgeführt werden. Ich habe absichtlich die schwierigeren Beispiele gewählt, um zu zeigen, was sich in muslimischen Familien abspielen kann und wie groß der Bedarf an fachlicher Unterstützung ist. Da ich die psychischen Belastungen der Sitzungen noch in deutlicher Erinnerung habe, möchte ich hier die Notwendigkeit von begleitender Supervision oder Balintgruppen für die Berater betonen.

Zum Teil auf dieser Arbeit basierend hat sich ein Projekt in der städtischen Erziehungsberatungsstelle entwickelt. Dort besteht zwar die Möglichkeit eines fachlichen Austausches mit Kollegen, jedoch ersetzt diese nicht die Zusammenarbeit mit muslimischen Fachleuten. Ich muß klären, wie ich als Muslimin und meinen Wertvorstellungen mit dem Erlebten aus den Sitzungen umgehe.

Wichtig ist, dass wir als Muslime irgendwo anfangen, in der Moschee, in einem Verein oder an anderen, vielleicht auch nichtmuslimischen Stellen. Mit unserer Arbeit können wir deutlich machen, dass Muslime muslimische Berater brauchen und dass sie mit ihren Problemen eher zu Glaubensgeschwistern gehen. Ist die Arbeit erfolgreich, gelingt es vielleicht, das Interesse eines Vereins oder der Stadtverwaltung zu wecken und eine Beratung für Muslime vielleicht in einen bestehenden sozialen Dienst zu integrieren.

Das Ziel muß sein, dass wir als Muslime sichtbare, qualifizierte psychosoziale Arbeit leisten, die öffentliche und evtl. finanzielle Anerkennung bekommt.