Projekt Spiritueller Missbrauch – Einleitung

Ibrahim Rüschoff

I.

In den letzten Jahren ist das Thema Missbrauch nicht nur national, sondern auch international stark in das Bewusstsein der allgemeinen Öffentlichkeit gedrungen. Beispiele dafür sind die MeeToo-Bewegung und der Missbrauchsskandal der Kirchen, bei dem die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit besonders deutlich zutage tritt. Daher ist es sehr zu begrüßen, wenn sich auch die Muslime dieser Welt mit diesem Thema auseinandersetzen.

Mit der Initiative Nafisa und der Islamischen Arbeitsgemeinschaft für Sozial- und Erziehungsberufe e.V. (IASE) haben sich zwei Akteure dieses Themas im deutschsprachigen Raum angenommen, die beide eine spezifische Kompetenz mitbringen. Die Initiative Nafisa („Muslimische Wissenschaftlerinnen diskutieren mit: über Frauen im Islam, antimuslimischen Rassismus, Geschlechterverhältnisse und Geschichte“)[1], die sich in ihrem Namen auf Nafisa bint al-Hasan bezieht, eine Urenkelin des Propheten, große Gelehrte der islamischen Frühzeit und wegweisendes Modell der Teilhabe von Frauen am öffentlichen Leben und intellektuellen Diskurs, liefert insbesondere aus der weiblichen Perspektive wichtige Beiträge zu religiösen, aber auch beraterischen Aspekten dieses Themas. IASE[2] hat ihrerseits insbesondere durch die Aktivitäten wie Veröffentlichungen und Fortbildungen ihrer wissenschaftlichen Arbeitsgruppe „Islam und Psychologie“ Zugang zu mehreren hundert gut vernetzten muslimischen TherapeutInnen und BeraterInnen im deutschsprachigen Raum, die die Perspektive der Betroffenen kennen und in vielen Fällen konkrete Hilfen anbieten können.

Mit dem vorliegenden Projekt verfolgt die Arbeitsgruppe von Initiative Nafisa und IASE das Ziel, die bisher überwiegend im angloamerikanischen Raum stattfindende Debatte auch im deutschsprachigen Raum publik und der hiesigen muslimischen Community die Aktualität und Dringlichkeit dieses Themas vor Augen zu führen. Dazu haben wir einige Beiträge ausgewählt und übersetzt, die dieses Thema aus verschiedenen Perspektiven betrachten:

In ihren Interview Spirituellen Missbrauch verstehen erklärt die zertifizierte Beraterin Salma Abugideiri, die seit über 20 Jahren mit Missbrauchsopfern arbeitet, was spiritueller Missbrauch ist, welche Folgen er für Betroffene hat und warum sich die muslimische Gemeinschaft des Themas annehmen muss.

Die Gelehrte Zaynab Ansari aus den USA, die als eine der ersten die Problematik heimlicher und kurzfristiger Zweitehen von muslimischen Predigern öffentlich thematisierte, beleuchtet in ihrem Beitrag Verschwommene Grenzen: Frauen, „berühmte“ šuyūḫ (Gelehrte) und spiritueller Missbrauch die Hintergründe dieses Phänomens: das Verschwinden von Grenzen im Internet, die übermäßige Verehrung muslimischer Autoritäten in der gegenwärtigen „celebrity culture“ sowie die Folgen für die Betroffenen.

Auch in Deutschland gibt es Männer, die Unterrichts- und Vortragstätigkeiten sowie den Islamdiskurs im Internet nutzen, um muslimische Frauen mit unlauteren Absichten zu umwerben oder zu belästigen. In ihrem Artikel Missbrauch religiöser Autorität: Reputation als Tor zur (virtuellen) Beziehungsanbahnung schreiben Silvia Horsch und Mahmut Kellner über problematische Kommunikation im Internet, die Notwendigkeit, die Bestimmungen und Vorsichtsmaßnahmen im islamischen Eherecht erst zu nehmen, um Missbrauch vorzubeugen, und die Verantwortung der muslimischen Gemeinschaft, diesem Phänomen Einhalt zu gebieten.

In seinem von Silvia Horsch zusammengefassten und übersetzten Webinar Spiritueller Missbrauch – eine Verantwortung der Gemeinschaft thematisiert Shaykh Rami Nsour aus den USA die Verantwortung der Gemeinschaft, gegen spirituellen Missbrauch vorzugehen. Er diskutiert typische Reaktionsmuster in der Community, die eigene subjektive Aussagen („Du versteht seine Absicht nicht!“) über gültige Scharia-Regeln stellen.

Aus der Perspektive des islamischen Rechts behandelt Mohammad H. Fadel, Professor an der Juristischen Fakultät der University of Toronto in seinem Beitrag Nicht alle Ehen sind gleich: Islamische Ehe, Ehe auf Zeit, heimliche Ehe und polygame Ehe Phänomene der heimlichen Mehr- und Zeitehe, die sich in den letzten Jahren unter amerikanischen Muslimen und auch in Deutschland verbreitet haben. Er zeigt, wie das islamische Eherecht versucht, Ehen von Scheinehen zu unterscheiden, um muslimische Individuen, Familien und Gesellschaften vor den Auswirkungen dieser Eheformen zu schützen.

Danish Qasim, der seit über 10 Jahren Opfer von spirituellem Missbrauch berät, schreibt zu der sich angesichts zahlreicher Skandale der letzten Jahre aufdrängenden Frage „Wem können wir vertrauen?“. Er rät dazu, sich weder von Rhetorik noch von Ansehen beeindrucken zu lassen, Vertrauen angemessen zu dosieren und prozessorientiert anstatt personenorientiert zu handeln. Entscheidend für den persönlichen Schutz sind klare Grenzen und das Vertrauen in das eigene Bauchgefühl.

 

II.

Die zusammengestellten Beiträge machen deutlich, wie kompliziert sich der Schutz von Missbrauchsopfern gestaltet. Der Islam als Weltreligion ist mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass er besonders aufgrund seiner Betonung des rechten Handelns und damit auch des Schutzes von Schwachen in den Kulturen der Welt auf die unterschiedlichsten Bedingungen stößt und daher unterschiedliche Lösungen entwickeln muss. Diesen Hintergrund gilt es bei der Lektüre der Beiträge unbedingt zu beachten. So benötigen z.B. Frauen (unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit) unterschiedliche Formen von Schutz: In Europa und in großen Teilen der westlichen Welt muss er vor allem juristisch durch Stärkung ihrer Rechte erfolgen, da die Gerichtsbarkeit grundsätzlich funktioniert, Frauen gebildet sind und ihre Ansprüche prinzipiell selbst durchsetzen können. In dieser Situation hat ein Wali, der die Interessen der Frau bei einer Heirat wahrnimmt, vor allem eine beratende, aufklärende Funktion, die z.B. bei Konvertitinnen zum Tragen kommt, die ihre Rechte als Ehefrau oft unzureichend kennen. In streng patriarchalischen Gesellschaften jedoch, in denen Frauen wenig oder gar nicht öffentlich in Erscheinung treten und in denen das Rechtssystem wenig entwickelt oder korrupt ist, benötigen sie zur Durchsetzung ihrer Rechte und zu ihrem Schutz zumeist die ganz konkrete Hilfe eines Wali bei Kontakten zur Schwiegerfamilie, dem Abschluss eines Ehevertrages und bei den Behörden. Auf den Wali kann sie bei Problemen auch nach der Eheschließung zurückgreifen. Dass dieser „Schutz“ in der Praxis der sozialen Realität häufig zur Stabilisierung ungerechter sozialer Verhältnisse und zum Nachteil der betroffenen Frauen führt, ändert nichts an der grundsätzlichen Absicht des islamischen Rechts, die Übervorteilung von Schwachen und Unerfahrenen möglichst auszuschließen, was auch dadurch unterstrichen wird, dass geschiedene oder verwitwete Frauen zum Abschluss eines Ehevertrages keinen Wali benötigen, da sie damit bereits Erfahrung haben.

Deutlich wird das Problem einer überwiegend juristischen Sicht insbesondere bei der Ehe. Polygamie ist ein Thema im Koran und wird daher auch vom islamischen Recht behandelt, ungeachtet seiner praktischen Relevanz. Die koranischen Regelungen waren zum Zeitpunkt ihrer Offenbarung zwar eine enorme Verbesserung der fast rechtlosen Situation der arabischen Frau und haben z.B. in polygamen Stammesstrukturen der sog. 3. Welt vermutlich auch heute noch eine wichtige Funktion. Diese in einer historischen Situation getroffene Regelung ist jedoch für das Partnerschaftsverständnis in einer modernen Industriegesellschaft absolut unzeitgemäß, gesetzlich verboten und auch aus islamischer Sicht abzulehnen, wie Muhammad Fadel im o.g. Artikel deutlich macht.. Die Behandlung des Themas Ehe vornehmlich durch Rechtsgelehrte und seine überwiegende Wahrnehmung in der islamischen Öffentlichkeit unter den Begriffen erlaubt/verboten (halal/haram) stellt die juristische Sicht jedoch unzulässig in den Vordergrund und beachtet die aktuellen sozialen und psychologischen Rahmenbedingungen zu wenig, die katastrophale Folgen zeitigen können, wie die Aufsätze deutlich machen. Nicht verboten bedeutet keinesfalls immer geboten, was allzu oft nicht beachtet wird.

 

III.

Spiritueller Missbrauch durch Gelehrte hat einen Beigeschmack von Skandal und Sensation, insbesondere, wenn er mit Zweitehen oder geheimen Ehen einhergeht. Zumeist werden allgemein anerkannte Normen verletzt, sodass es schwierig und nur mit einer Portion Realitätsverleugnung möglich ist, den Missbrauch nicht zur Kenntnis zu nehmen und zu verurteilen, vor allem, wenn er negative Folgen für die Betroffenen hat.

Spiritueller Missbrauch kommt jedoch nicht nur bei Gelehrten, Imamen oder Religionslehrern vor, sondern ungleich häufiger und von den meisten gar nicht bemerkt in den Ehen und Familien der Muslime. Die Erfahrungen unzähliger muslimischer Therapeuten und Berater zeigt, dass die Täter zumeist die Ehemänner und die Eltern sind, die z.B. religiöse Argumente wie den Anspruch auf Gehorsam oder die Drohung mit der Hölle anführen, um eigene Interessen durchzusetzen. Hier fehlt in vielen, wenn nicht den meisten Fällen schlicht ein Unrechtsbewusstsein, da die Täter zumeist glauben, nicht nur im Sinne ihrer Frau und Kinder zu handeln, sondern auch im Sinne Gottes, der ihnen die Verantwortung auferlegt habe. Da dürfte wenig Raum für ein Bewusstsein für spirituellen Missbrauch sein, dennoch wäre die Benennung und Präzisierung an Beispielen von Bedeutung, da die Sprache Wahrnehmung und Bewusstsein stark prägt. Hier sind die Imame in den Moscheen in Zusammenarbeit mit muslimischen Fachleuten aus dem psychosozialen Bereich gefragt, den Opfern von spirituellem Missbrauch jegliche Art Schutz und Hilfe zu bieten.

 

IV.

Um bei diesem komplexen Thema Lösungen zu entwickeln, müssen Aktivitäten auf mehreren Ebenen stattfinden:

Wo Missbrauch gleich welcher Art justiziabel wird und strafrechtliche Aspekte aufweist, muss er auch  juristisch verfolgt werden. Unabhängig von der moralischen Notwendigkeit ist das auch aus islamischer religionsrechtlicher Perspektive erforderlich, da sich Muslime an das Rechtssystem ihrer Gesellschaft halten müssen, in der sie leben. Diese juristische Verfolgung betrifft sowohl den Missbrauch in Institutionen und Einrichtungen z.B. durch Lehrer (sexueller Missbrauch, aber auch z.B. Schlagen und Diskriminierung) als auch den privaten Bereich mit ehelicher Gewalt (z.B. Vergewaltigung in der Ehe, Freiheitseinschränkungen der Ehefrau) oder Gewalt Kindern gegenüber.

Unterhalb der strafrechtlichen Schwelle sind die Vorstände und Entscheidungsträger der muslimischen Organisationen und Gemeinden in der Verantwortung. Zur Schaffung eines Problembewusstseins ist die Formulierung eines Verhaltenskodexes hilfreich, der Missbrauch definiert und erkennbar macht und ein Einschreiten nicht einer persönlichen Lagebeurteilung überlässt, sondern nahelegt oder gar erzwingt.

Auf der Ebene der Gemeindemitglieder und der nicht organisierten Muslime in der Gesellschaft muss Aufklärungsarbeit durch muslimische Multiplikatoren erfolgen, um ein Problembewusstsein für missbräuchliches erzieherisches Handeln unter Rückgriff auf die Religion zu schaffen und gleichzeitig Alternativen anzubieten, wie eine gewaltfreie Erziehung stattfinden kann, da die meisten Eltern eher aus Hilflosigkeit und der Angst, ihrer Verantwortung nicht gerecht zu werden, psychischen Druck einsetzen und diesen mit der Religion begründen.

Therapeuten und Berater müssen darüber hinaus ihre Wahrnehmung für das Thema des spirituellen Missbrauchs schärfen und ihre Patienten und Klienten befähigen und ermutigen, ihre Autonomie zu stärken und diesen Bereich ohne Tabus zu erkunden.

Die anfangs genannten Beispiele der MeeToo-Bewegung und der Missbrauchsskandal der Kirchen, wo die inkriminierten Vorfälle teilweise Jahre und Jahrzehnte zurückliegen, zeigen, dass es zur gesellschaftlichen Aufarbeitung eines entsprechenden Bewusstseins bedarf, das nicht automatisch vorhanden ist. Daher wird die wichtigste Maßnahme darin bestehen, dieses Bewusstsein in der muslimischen Community zu schaffen, wozu das Projekt „Spiritueller Missbrauch“ von Nafisa und IASE einen Beitrag leisten soll.

[1] https://nafisa.de/ (Aufruf am 10.08.2021)

[2] www.iase-ev.de (Aufruf am 10.08.2021)