Mit dem Namen ALLAHs, des Barmherzigen, des Allerbarmers, bismi ʾllāhi ʾr-raḥmāni ʾr-raḥīm

Kategorie: Allgemein

  • Blogreihe: Die Terra Incognita der islamischen Psychologie – Woche 5

    Intelligenz, Ethik, Psychosomatik

    Die religiöse Bedeutung mentaler Gesundheit wurde von frühen muslimischen Gelehrten umfassend besprochen. So gilt psychische Gesundheit und mentale Fassungskraft in einem juristischen Kontext als Bedingung für religiöse und soziale Gebote wie dem rituellen Gebet, dem Abschluss von Eheverträgen oder wirtschaftlicher Transaktionen. Darüber hinaus gilt die Bewahrung des Intellekts neben der Bewahrung der Religion/Glaube, des Lebens, der Familie und des Besitzes als Zielsetzung der islamischen Legislation. Muslimische Gelehrte haben sogar starke emotionale Zustände wie die Wut als Hindernis für die Entscheidungsfindung angesehen, so sollte zum Beispiel ein Richter niemals in einem Zustand der Wut Urteile fällen (Mohammad et al., 2018; Keshavarzi & Ali, 2018).

    Nachdem wir uns letzte Woche mit al-Balchī auseinander gesetzt haben, setzen wir unsere psychologische Sichtung der Texte früher muslimischer Gelehrter mit Abū Bakr Muḥammad ibn Zakaryā ar-Rāzī (854 – 925 n. Chr.) fort. Dieser wurde in Rayy, in der Nähe vom heutigen Teheran (Iran) geboren und ist in der Psychologie für sein al-Tibb al-ruhani bekannt, in dem er die moralischen und psychologischen Krankheiten der Seele bespricht (Husain, 2017). Weitere Werke umfassen al-Hāwī fī al-tibb, al-mujarrabāt und Kitāb al-Manṣūrī fī al-ṭibb. Das umfassende Buch der Medizin gilt als größte medizinische Enzyklopädie, die von einem Muslim verfasst wurde und beinhaltet ein Kapitel zu den Krankheiten des Kopfes, in dem auch neurologische und psychiatrische Krankheiten beschrieben werden (Mohammad et al., 2018). Er gilt als einer der ersten Vertreter einer spirituellen bzw. psychologischen Medizin und maß der Ethik in der Behandlungspraxis einen hohen Stellenwert bei (Nasr & Leaman, 2001). Darüber hinaus hat sich ar-Rāzī mit der Therapie psychosomatischer Symptomatik (Syed, 2002), mit dem Konzept der Hoffnung und positiven Gefühle im Genesungsprozess (Mohammad et al., 2018) und der Intelligenz beschäftigt (Haque, 2004). Er soll das Konzept der Psychose im Detail beschrieben haben (Awaad, 2017). Einige Autoren schlagen ar-Rāzī als ersten Chefarzt in der Geschichte vor, der eine psychiatrische Abteilung im Hospital in Bagdad errichtet hat (Husain, 2017; Syed, 2002). Payk (2005) weist jedoch darauf hin, dass diese Abteilung erst im Jahr 981, also knapp 60 Jahre nach ar-Rāzīs Tod, gegründet wurde. Die psychologische Literatur weist damit einige Inkonsistenzen in Bezug auf ar-Rāzīs Wirken auf.

    Referenzen:

    Awaad, R. (2017, September). Historical and Islamic Scholarly Roots of Mental Health. Paper präsentiert auf dem Islamic Models of Nurturing Psychological and Spiritual Health Konferenz des Khalil Centers, Islamic Center at New York University.

    Haque, A. (2004). Psychology from Islamic Perspective: Contributions of Early Muslim Scholars and Challenges to Contemporary Muslim Psychologists. Journal of Religion and Health, 43(4), 357-377. doi:10.1007/s10943-004-4302-z

    Husain, A. (2017). Contributions of Arab Muslim Scholars to Psychology. In A. Husain (Ed.), Contemporary Trends in Islamic Psychology (pp. 13-25). Hdyerabad, Indien: Centre for Study and Research.

    Keshavarzi, H & Ali, B (2018). Islamic Perspectives on Psychological and Spiritual Well-being and Treatment, in H. S. Moffic, J. Peteet, A. Hankir, R. Awaad, Islamophobia & Psychiatry: Recognition, Prevention, and Treatment (in press).

    Mohammad, A., Elzamzamy, K., Fereydooni, S., Gamar, M., & Awaad, R. (2018). Mental Health in the Islamic Golden Era: The Historical Roots of Modern Psychiatry. in H. S. Moffic, J. Peteet, A. Hankir, R. Awaad, Islamophobia & Psychiatry: Recognition, Prevention, and Treatment (in press).

    Nasr, S. H. & Leaman, O. (2001). History of Islamic philosophy (3rd ed.). London, New York: Routledge.

    Payk, T. (2005). Psychiatrie im frühen Islam. In H. J. Assion (Ed.), Migration und seelische Gesundheit (pp. 21-28). Heidelberg, Deutschland: Springer, 21-28.

    Syed, I. B. (2002). Islamic Medicine: 1000 years ahead of its time. Journal of Islamic Medical Association2, 2-9.

  • IASE Tagungsbeitrag 1998: Zwischen Caritas und Diakonie – zur Bedeutung einer islamischen psychosozialen Beratungsarbeit

    Aus der Schatzkiste. Die Wenigsten wissen, dass die IASE seit den 1980er Jahren existiert. Wir haben alte Tagungsbeiträge ausgesucht, um sie wöchentlich hier zu posten. Viel Vergnügen beim Lesen.


    Ibrahim Rüschoff

     

    Im Folgenden sollen in einem ersten Schritt einige Bemerkungen zur Situation der psychosozialen Versorgung der Muslime gemach werden, dann folgen einige Grundsätze zum Islam, die für eine Beratung von Belang sind. Daraus möchte ich in einem zweiten Schritt einige Folgerungen für eine islamische psychosoziale Beratungsarbeit ableiten, um zum Schluß wichtige Aspekte der Praxis zu beleuchten und einige Hinweise auf islamische Aktivitäten in dieser Richtung zu geben. Die Begriffe Berater/Therapeut werden hier sowohl synonym als auch für beide Geschlechter benutzt.

     

     

    Wie ist die aktuelle Situation (1998)?

     

    Seit über dreißig Jahren leben Tausende ausländische Mitbürger unter uns, inzwischen sind es mehrere Millionen, davon über 2 Mio. Muslime. Sie sind ein nicht mehr wegzudenkender Teil unserer Gesellschaft geworden und prägen sie als deutsche und ausländische Mitbürger mit.

    Die psychosoziale Versorgung von Muslimen in Deutschland erfolgt nicht zuletzt auch aus historischen Gründen nahezu ausschließlich aus der Perspektive einer Ausländerberatung, allenfalls noch unter kulturellem Aspekt. Inzwischen erfordert die Situation der zweiten und der heranwachsenden dritten Generation, die fließend Deutsch spricht, jedoch andere Schwerpunkte und vor allem eine Trennung von der Ausländerfrage, da die meisten dieser Mitbürger Deutschland als ihre Heimat ansehen und hier auch auf Dauer leben werden.

    Wichtigstes Problem der muslimischen Bevölkerungsgruppe ist auch in Zukunft die Integration in unsere Gesellschaft, die bei Religionen, die vom Christentum so verschieden sind wie das Judentum und der Islam, nicht so leicht erfolgt wie bei den hier lebenden katholischen Italienern oder auch orthodoxen Griechen.

    Sieht man die deutschsprachige Literatur zur Migrationspsychologie /-psychiatrie durch, so erscheint das Thema Islam sehr selten. Auch beim Stichwort „Integration“ wird der Islam nur wenig berücksichtigt. Das erklärt sich einerseits daraus, dass den (oft nichtmuslimischen) Autoren hier zumeist die entsprechende Kompetenz fehlt. Darüber hinaus ist jedoch zu vermuten, dass diese Tatsache auch Einstellungen deutlich macht, die den Islam als fremde, unzeitgemäße Erscheinung und als ein zu überwindendes Integrationshindernis wahrnehmen. Die Hinwendung der Muslime zu ihrer Religion wird fast ausschließlich unter dem Aspekt einer Radikalisierung durch wirtschaftliche und gesellschaftliche Benachteiligung gesehen. Das Kopftuch einer Muslimin wird als bedrohlich empfunden und dem negativen Einfluß uneinsichtiger Väter und Ehemänner zugerechnet, kaum jedoch als Ausdruck einer positiven, islamischen Identität seiner Trägerin verstanden.

     

     

    Warum islamische psychosoziale Beratung und welchen Zielen dient sie?

     

    Jeder, der Muslime kennt, weiß, wie weit der Islam das Leben praktizierender Muslime prägt. Wie ist das zu erklären?

    Das Selbstverständnis des Islam als Religion unterscheidet sich (wie das Judentum) grundlegend von dem des Christentums: Kein Aspekt des täglichen Lebens wird als zu gering geachtet, um nicht als Gottesdienst verstanden zu werden. Eine Unterscheidung in „profan“ und „sakral“ existiert als Folge der konsequent monotheistischen Gottesauffassung nicht. Aus der Einheit Gottes folgt die Einheit der Welt. Jede Handlung des Menschen (auch psychosoziale Beratung!), sogar Schlafen, Wachen, Essen und Trinken, ist Gottesdienst, soweit der Mensch sie vollzieht, um vor Gott wohlgefällig zu handeln (vgl. Falaturi 1982). Das verleiht dem Islam einen ausgeprägten Handlungscharakter, er wird zu einer „geheiligten“ Lebensweise, die dem Menschen auf dem Weg zu seiner Vervollkommnung Hilfe und Unterstützung leisten soll. Das bedingt religiöse Regeln und Gebote, die den Tageslauf merklich prägen.

    Die wichtigste Konsequenz aus dieser Tatsache im Beratungs- und Therapiegeschehen mit Muslimen ist, dass sich Therapeut und Klient immer auf religiösem Gebiet bewegen. Dieser Aspekt ist dem säkularisierten Menschen der westlichen Welt erfahrungsgemäß am schwierigsten zugänglich und führt immer wieder zu schwerwiegenden Mißverständnissen. Ob Therapeuten und Berater wollen oder nicht, sie behandeln mit ihren Klienten Themen, die sie bei Christen eher dem Seelsorger überlassen würden. Fragen der Geldanlage, Erbangelegenheiten, der Kindererziehung und des Ehelebens haben für praktizierende Muslime dieselbe religiöse Bedeutung wie das Gebet und das Fasten und sind keineswegs beliebig lösbar. Ein praktizierender Muslim wird großen Wert darauflegen, dass die möglichen Problemlösungen mit dem Islam in Übereinstimmung stehen bzw. diesem nicht widersprechen. Es ist offensichtlich, dass ein nichtmuslimischer Berater/Therapeut hier schnell überfordert ist. Er müßte nicht nur einzelne islamische Regeln und Gebote kennen, nicht nur die Verfahrensweisen z.B. bei einer Ehekrise bzw. Scheidung beherrschen, sondern diese auch in die Gesamtheit islamischer Lebenspraxis in einer nichtmuslimischen Gesellschaft einordnen. Er müßte ein umfangreiches Wissen der religiösen Grundlagen (Koran und Sunna) haben. Doch selbst dann wäre es für ihn als Nichtmuslim sehr problematisch und eigentlich unmöglich, die Zulässigkeit bestimmter Lösungen aus islamischer Perspektive zu beurteilen und sie dem Klienten möglicherweise zu empfehlen. Aber auch ein islamischer Berater/Therapeut wird hier schnell an seine Grenzen stoßen und ohne eine spezielle Weiterbildung und Kontakte zu Fachgelehrten nicht auskommen.

    Im Folgenden soll eine islamisch orientierte, psychosoziale Beratung auf drei Ebenen betrachtet werden: Auf einer ersten, allgemeinen Ebene ist das Ziel jeder Beratung eine Konfliktlösung, verbunden mit einer verbesserten Fähigkeit zur Selbsthilfe und Eigenverantwortlichkeit. Dieses entspricht ohne Einschränkung einer islamischen Sichtweise, nach der Mensch sich eigenverantwortlich handelnd Gott anheimstellt und sich dafür am Tage des Gerichts verantworten muß. Eine dergestalt orientierte Beratungsarbeit ist nicht nur für Muslime, sondern für alle Menschen möglich.

    Auf einer zweiten, speziellen Ebene erlangt eine islamisch orientierte Beratung eine zusätzliche Dimension vor dem Hintergrund des islamischen Menschenbildes: Der Muslim ist aus islamischer Perspektive stets ein zweifach Bezogener: Seine Beziehung zu Gott ist geprägt durch das göttliche Element, das der Mensch seit seiner Erschaffung in sich trägt (Koran 32:9) und seine Natur (fitra) auf die Gottergebenheit, d.h. Islam, ausrichtet. Andererseits ist er stets Mitglied seiner Gemeinschaft, der Umma. In ihr wirkt Gott auf eine besondere Weise, in dem er ihre Rechte zu seinen eigenen macht und so in ihr gewissermaßen präsent wird. Hierdurch ist die Umma mehr als nur die Summe ihrer Mitglieder und erhält – psychologisch gesehen – eine eigene Gestaltqualität.

    Das islamische Menschenbild ist von Optimismus, aber auch von Realitätssinn geprägt. Der Mensch beherbergt den Geist Gottes in sich und verfügt über die Anlage zu Entwicklung und Vervollkommnung, die in Erziehung und Bildung gefördert und in der Beratung genutzt werden kann. Er ist zwar auch sündhaft und schwach, jedoch nicht grundsätzlich verworfen. Schuld und Reue werden streng persönlich verstanden, es existiert kein Raum für eine grundsätzliche Erlösungsbedürftigkeit, da Gott dem wirklich Reumütigen verzeiht. Die Freiheit des Menschen bedingt einerseits seine Größe unter den Geschöpfen, andererseits jedoch auch seine Eigenverantwortlichkeit und damit die Möglichkeit des Scheiterns.

    Für das Verhältnis der Muslime untereinander ist der Gedanke der Brüderlichkeit bestimmend, die ein Symbol für die Gemeinschaft darstellt (Koran 3:103). Die Brüderlichkeit hat im Islam eine ganz besondere Färbung und unterscheidet sich von bloßer Philanthropie nicht zuletzt dadurch, dass der Muslim seinen Glaubensbruder sozusagen „per oculos dei“ als unverzichtbaren Teil der Umma erlebt. Diese Gemeinschaft charakterisiert der Prophet als einen Körper, der insgesamt leidet, wenn ein Glied erkrankt ist. Darüber hinaus ist es Aufgabe der Gemeinschaft, „Frieden zu stiften“ (Koran 49:10). Das bedeutet auch, (psychische) kranken Mitgliedern zu helfen, den eigenen Mittelpunkt wieder zu erlangen, wodurch erst ein friedvoller Umgang miteinander möglich wird.

    Ziel einer islamischen Beratung ist es auf dieser Ebene, dem Klienten zu helfen, wieder zu einem ausgewogenen, ihm gemäßen, selbst gestalteten und verantworteten Verhältnis zu Gott und der Gemeinschaft zu gelangen.

    Kam bisher die Bedeutung einer islamischen Beratung für die Muslime und ihre Gemeinschaft zur Sprache, so will der Islam als Weltreligion und in seinem Selbstverständnis als friedensstiftende Daseinsordnung seiner Verantwortung Gott und der Welt gegenüber gerecht werden und als Teil unserer gesellschaftlichen Realität zu einem gedeihliches Miteinander beitragen. Daher hat eine islamische psychosoziale Beratung eine wichtige Bedeutung auch auf einer aktuellen gesellschaftlichen Ebene: Aus dem oben beschriebenen Handlungscharakter des Islam und seinen praktischen Konsequenzen im Alltag ergibt sich für Muslime in einer nichtmuslimischen Gesellschaft die Notwendigkeit, Anforderungen der Umwelt (Schule, Beruf etc.) mit den eigenen Vorstellungen einer islamischen Lebensweise in Einklang zu bringen. Dabei ist von außerordentlicher Bedeutung, dass eine zufriedenstellende Integration sowohl des Islam als auch der Muslime in die bundesrepublikanische Gesellschaft gelingt, nicht zuletzt um den sozialen Frieden zu sichern. Integration kann jedoch nicht einfach Assimilation oder unkritische Übernahme der Sitten und Gebräuche der Umgebung bedeuten, sondern aktive Teilnahme am gesellschaftlichen und politischen Leben der Gesellschaft unter Wahrung der religiösen Identität. Damit diese gelingen bzw. erhalten werden kann, muß die Gesellschaft den Muslimen zur eigenen Lebensgestaltung Freiräume einräumen, über die z.B. die Kirchen auch verfügen (Moscheebau, Schulen in privater Trägerschaft, Religionsunterricht, Anspruch auf Urlaub an Festtagen etc.).

    Viele der ursprünglich als Arbeitsmigranten eingereisten Muslime stammen aus wirtschaftlich schwach entwickelten Gebieten und verfügen oft nur über eine unzureichende allgemeine und religiöse Bildung. Sie halten ihre Lebensweise für islamisch und bemerken die Verquickung mit regionalen, orientalischen Traditionen nicht. Nicht die Religion, der Islam, sondern gerade diese Vermischung erweist sich als größtes Integrationshindernis, was besonders bei der Behandlung der Frau deutlich wird. Islamische psychosoziale Beratung soll nun den Menschen helfen, ihre islamische(?) Lebensweise auf ihre religiösen Grundlagen (Koran und Sunna) hin zu befragen und davon kulturelle Bestandteile zu unterscheiden (z.B. Verheiratung der Kinder durch die Eltern, Verbannung der Frau aus der Öffentlichkeit, „Başlik“ etc.). Ein Islam in Europa darf kein orientalisches, sondern muß ein europäisch-islamisches Gesicht haben, es widerspräche sonst seinem Charakter als Weltreligion. So verstanden leistet eine islamische Beratung eine äußerst wichtige Hilfestellung bei der gesellschaftlichen Integration von Muslimen. Das wird besonders deutlich, wenn man bedenkt, dass für das angesprochene Klientel derzeit vor allem die Hocas in den Moscheen als Ansprechpartner bei Problemen dienen. Diese Hocas werden, zumindest in den Moscheen der türkischen Religionsbehörde, regelmäßig ausgewechselt, sprechen (vielleicht deshalb?) zumeist nahezu kein deutsch, bewegen sich fast nur im Umfeld der Moschee und haben so kaum Zugang zur Lebenswirklichkeit ihres Klientels und der Gesellschaft. Integrationshilfe ist auf diese Weise nicht möglich.

    Ein Großteil der muslimischen Jugend (insbesondere auch der Mädchen) fühlt sich von dem in Elternhaus vermittelten Islambild kaum noch angesprochen und gerät dadurch in ein religiös-lebenspraktisches Normenvakuum, das bei gleichzeitiger gesellschaftlicher Benachteiligung durchaus soziale Brisanz besitzt. Hier kann eine islamische psychosoziale Beratung zeitgemäße und gleichzeitig islamische Alternativen aufzeigen und somit auch versuchen, Normen- und Ethikverlust zu begegnen. Dabei ist eine auf Gott und die Religion gegründete Ethik der wirksamste Schutz gegen Radikalisierung, Kriminalität und die unkritische Übernahme aller möglichen negativen gesellschaftlichen Leitbilder.

    Islamische psychosoziale Beratung versteht sich somit als Ergänzung des bestehenden Spektrums von Beratungsangeboten vorzugsweise für eine bisher unterversorgte Bevölkerungsgruppe, die als praktizierende Muslime durch ihre Religion und Lebensweise spezielle Anforderungen an Beratung und Berater stellt.

     

     

    Wie ist eine islamische Beratung grundgelegt – was macht das Islamische aus?

     

    Islamische Beratung erfolgt auf der Grundlage und aus dem Geist der koranischen Offenbarung sowie der islamischen Überlieferung und orientiert sich an zentralen Begriffen wie Barmherzigkeit (rahma), Gottesfurcht (taqwa), Gerechtigkeit (cadl) und Toleranz (tasamuh).

    Wir haben vor einigen Jahren in einem Vortrag von A. Falaturi etwas über die gesunde und die gestörte Seele gehört. Zum Menschenbild habe ich eben einige Ausführungen gemacht, die das Thema jedoch nur knapp streifen können und in der Konzeptgruppe vertieft werden müssen.

    Neben Krankheitsverständnis und Menschenbild ist die Frage angemessener Therapie- und Beratungs-methoden für die Praxis von unmittelbarer Bedeutung.

    Die Diskussion um eine islamische Psychotherapie und damit auch um islamische Therapieverfahren wird teilweise sehr kontrovers geführt. Die Positio­nen reichen von einer totalen Ablehnung westlicher Methoden und Schulen bis hin zu deren unkritischer Übernahme. Die Psychoanalyse ist zumeist das Paradebeispiel einer „gottlosen“ Psychotherapie, die den Menschen als Triebbündel sieht, und dass Freud Jude war, ist auch nicht gerade von Vorteil. Ähnliches gilt für die Verhaltenstherapie und das Menschenbild Skinners. Hier wird auch heute immer noch auf die Aussagen der Schulengründer recurriert und die weitere Ent­wicklung der Therapierichtung kaum berücksichtigt.

    Wie können dieses Thema in der Diskussion noch aufgreifen, hier jedoch soviel zu meiner eigenen Position:

    Wie ist das Weltbild der Naturwissenschaften, zu denen sich ja auch die Medizin zählt? Vereinfacht gesagt, beschränken sie sich methodisch darauf, die Welt einmal unter dem Aspekt zu betrachten, was sich an ihr zählen, wiegen und nach den Gesetzen der Logik erfassen läßt. Gott läßt sich auf diese Weise nicht handhaben und erfahren und bleibt daher außerhalb der Diskussion, obwohl wir als Muslime wissen, dass er sehr wohl ständig präsent ist und wirkt. Durch diese methodische Beschränkung können Wissenschaftler aller Religionen und Kulturen zu denselben Ergebnissen gelangen. Auch muslimische Wissenschaftler rechnen und forschen nach denselben mathematischen und chemischen Formeln und operieren mit denselben Methoden. Das können sie auch getrost, denn sie wissen, dass es sich hier um Abbildungen, um methodisch abstrahierte Vorstellungen des Menschen handelt. Die wissenschaftlichen Metho­den sind gewissermaßen mehr oder weniger genaue „Landkarten“ des Menschen und der Welt, und nur in der Psychologie scheint die Gefahr zu bestehen, diese mit den Landschaf­ten selbst zu verwechseln. Wenn ich z.B. einen Patienten mit einer isolierten Pho­bie behandeln muß, dann werde ich Verhaltenstherapie anwenden, weil das die Methode der Wahl ist und schnell hilft, auch wenn der Begründer der VT ein Menschenbild hatte, dass aus islamischer Sicht viel zu kurz greift.

    Die Benutzung „etablierter“ Verfahren erfordert allerdings, dass wir sie kritisch im Licht des Islam be-trachten und bei eindeutigen Widersprüchen (z.B. viele sog. Körperverfahren in der „Psychoszene“) aussortieren. Die Benutzung „etablierter“ Verfahren erfordert aber auch, dass wir ständig darum bemüht sein sollten, auch in den Wissenschaften Methoden bzw. „Landkarten“ zu entwickeln, die der Landschaft möglichst nahekommen, d.h. unser islamisches Menschen- und Weltbild umfassend enthalten. Dieses Bemühen kann man dann „Islamisierung der Wissenschaften“ nennen, und aus dieser Sicht braucht sich auch kein Nichtmuslim zu ängstigen.

    Das Islamische in der Beratung/Therapie wird so von drei Seiten bestimmt:

    Von den Grundlagen: Das Welt- und Menschenbild und Krankheitsverständnis, wie es in Koran und Sunna zutage tritt.

    Von den Methoden: Diese werden aus der Sicht des Islam kritisch beurteilt und ggf. auch verworfen.

    Von der Klientel: Hilfe bei der Verwirklichung eines islamischen Lebensstiles, besonders in einer nichtislamischen Umgebung mit der Notwendigkeit der Integration und Teilnahme.

     

     

    Wie kann eine islamisch grundgelegte psychosoziale Beratung/Therapie in der Praxis aussehen?

     

    Gibt es überhaupt einen Bedarf seitens der Klienten?

    Die psychosoziale Versorgung der ausländischen Mitbürger und damit auch der Muslime läßt sehr zu wünschen übrig. Der Bedarf an gut ausgebildeten, zweisprachigen Beratern und Therapeuten, die auch Erfahrungen mit dem kulturellen Hintergrund ihrer Klienten haben, ist groß und nicht annähernd gedeckt. So wird auch in Zukunft im Spektrum der psychosozialen Versorgung für Muslime ein bikultureller und auch muttersprachlich orientierter Beratungsansatz unverzichtbar sein und einen hohen Stel-lenwert behalten, wurzeln doch viele Probleme der Ratsuchenden in interkulturellen Konflikten.

    Andererseits leben nicht nur allein 600.000 türkische Jugendliche in Deutschland, die zumeist hier aufgewachsen sind, sondern auch 500.000 Muslime mit deutschem Paß, davon ca. 150.000 deutscher Abstammung. Therapeuten, von denen bekannt ist, dass sie praktizierende Muslime sind, erhalten gerade wegen dieser Eigenschaft immer wieder Nachfragen nach Beratungen oder Therapieplätzen. Die Ratsuchenden hoffen und vermuten, dass wir aus einem anderen Geist heraus tätig sind und sie hier eine Dimension einbeziehen können, die Gott quasi im Geschehen präsent sein läßt.

    Aus diesen Gründen sollte eine islamische psychosoziale Versorgung dort, wo es notwendig ist, einen bikulturellen und auch bilingualen Ansatz verfolgen, darüber hinaus aber auch die Gewähr dafür bieten, dass islamische Aspekte und Ansätze soweit zum Tragen kommen können, wie sie der Klient als für sich verbindlich erlebt und akzeptiert.

    Ein solchermaßen umfassender Ansatz fordert bestimmte Therapeuteneigenschaften. Neben den „klassischen“ Therapeutenvariablen Echtheit, Wertschätzung und einfühlendes Verstehen ist besonders die Identifikation des Beraters mit dem Islam von Bedeutung, denn gerade die setzt ein praktizierender Klient ja voraus. Der Klient muß seinem Gegenüber als Berater und Muslim sozusagen „doppelt vertrauen“ und absolut sicher sein können, dass ihm die in der Beratung vorgestellten Lösungen nicht nur weiterhelfen, sondern auch der islamischen Lehre nicht widersprechen. Berater sollten deshalb praktizierende Muslime sein, nicht zuletzt um auch eine unaufdringliche, aber ermutigende Vorbildfunktion geben zu können, dass man als Muslim auch in einer nichtislamischen Umgebung nach den Weisungen seiner Religion leben kann (vgl. Rüschoff 1989).

    Die Echtheit des Beraters und seine Wertschätzung des Klienten verdienen besonders bzgl. der therapeutischen Neutralität besondere Beachtung. Ein praktizierender muslimischer Berater wird bei seinen Klienten sehr häufig mit einem Verhalten konfrontiert, das der islamischen Lehre widerspricht, dennoch in der Gesellschaft allgemein als akzeptiert gilt (z.B. Zusammenleben unverheiratete Paare), da natürlich auch muslimische Klienten das gesamte Spektrum von streng religiös bis säkularisiert bieten. Um hier eine gute Beratungsqualität sicherzustellen und eine unreflektierte Einflußnahme zu verhindern, sind eine umfassende Ausbildung in einem bewährten Therapieverfahren als auch ausreichende Selbsterfahrung und begleitende Supervision erforderlich.

    Eine islamische psychosoziale Versorgung umfaßt neben der üblichen Einzel- und Familienberatung auch einen beträchtlichen Teil praktische Sozialarbeit. Der Klient wird nicht nur mit Sitten und Gebräuchen der Gesellschaft konfrontiert, sondern auch mit deren Rechtsnormen. Er benötigt evtl. Informationen zum Erb- und Familienrecht, zu Versicherungen u.a.m., da diese Dinge für ihn unter islamischen Gesichtspunkten eine wichtige Rolle spielen. Der Berater muß evtl. Kontakte zu Behörden und Schulen herstellen, Gespräche mit Lehrern, Erziehern und seinen Klienten führen u.a.m. Die genannten Aspekte unterstreichen die Notwendigkeit einer zusätzlichen umfassenden islamischen Ausbildung des Beraters, der verläßlich und glaubhaft sämtliche Möglichkeiten aber auch die Grenzen einer Adaptation gesellschaftlicher Strukturen und Elemente mit seinen Klienten ausloten muß.

    An welche Klientel wendet sich eine islamische psychosoziale Beratung? Grundsätzlich ist sie, wie die katholische und evangelische Beratung auch, neutral und für alle Bürger offen und wendet sich daher auch an alle Ratsuchenden, gleich welcher Religion. Sie soll darüber hinaus jedoch einem praktizierenden muslimischen Klientel Zugang zu psychosozialen Versorgungssystemen verschaffen, das bisher mit seinen Schwierigkeiten allein geblieben ist, aus welchen subjektiven und objektiven Gründen auch immer. Der Klient muß dort abgeholt werden, wo er steht. Auch strenggläubigen Muslimen muß ein Zugang möglich und z.B. eine Beratung von Frauen durch Frauen und Männer durch Männer gewährleistet sein etc. Wie weit das alles gelingt, bleibt abzuwarten, der Versuch muß jedoch unbedingt unternommen werden.

     

     

    Literatur

    Falaturi, A.(1982): Tod-Gericht-Auferstehung in koranischer Sicht. In: Falaturi, A., W. Strolz, Sh. Talmon (Hg.): Zukunftsvorstellungen und Heilserwartung in den monotheistischen Religionen. Freiburg, Basel, Wien (Herder), S. 121-138.

    Die Bedeutung des Koran (1996), 5 Bde., München (SKD Bavaria).

    Rüschoff, S. Ibrahim (1989): Zur psychosozialen Versorgung der Muslime in der Bundesrepublik. In: Wege zum Menschen 41, S. 323-330.

  • Blogreihe: Die Terra Incognita der islamischen Psychologie – Woche 4

    Kategorisierung psychischer Störungen, Psychosomatik

    Unseren vierten Blogbeitrag zur Terra Incognita der islamischen Psychologie widmen wir Abū Zaid al-Balchī (850-934). Wie bereits zu Beginn dieser Reihe erwähnt, stammt das prominenteste Beispiel der Beiträge früher muslimischer Gelehrter zur modernen Wissenschaft von al-Balchī, einem im Norden des heutigen Afghanistans geborenen Universalgelehrten des 9. Jahrhunderts. Seine Texte haben unter muslimischen Psychologen die wohl weitläufigste Rezeption gefunden.

    al-Balchīs bedeutendstes Werk mit Relevanz zur Psychologie ist Maṣāliḥ al-abdān walanfus (Die Erhaltung des Körpers und der Seele, in Übersetzung bei: Badri, 2013; Özkan, 1990). Dieser Text ist in nicht-fachlichem Arabisch geschrieben, um es auch dem Laien leicht verfügbar zu machen und in zwei Teile gegliedert: Maṣāliḥ al-abdān, in dem die physische Gesundheit und Krankheitsprävention behandelt werden und Maṣāliḥ alanfus, der Teil zur psychischen Gesundheit. Der Titel nimmt bereits die Idee der Psychosomatik vorweg (Awaad, 2017). Die enthaltenen Klassifikationen und Definitionen der Angst- (Awaad & Ali, S., 2016) und Zwangsstörungen (Awaad & Ali, S., 2015) weisen bemerkenswerte Ähnlichkeiten mit heutigen Konzeptualisierungen z.B. im DSM-5 auf und haben dadurch wichtige transkulturell-diagnostische Implikationen (Haque et al., 2016). Somit sind historische Zuschreibungen wie die, dass Robert Burton 1621 erstmalig die Zwangsstörung beschrieb oder dass die Zwangsstörung ein modernes Phänomen ist, nachdrücklich zu überdenken.

    al-Balchī klassifizierte psychische Störungen seinerzeit in vier Kategorieren: Wut (al-ghadab), Traurigkeit und Depression (al-Jaza‘), Furcht und Phobien (al-Faza‘) und Obsessionen (Khalili et al., 2002). Die Depression untergliederte er in alltägliche, normale Traurigkeit, endogene Depression mit körperlichem Ursprung und die reaktive Depression mit Ursprung außerhalb des Körpers (Haque, 2004). Parallelen mit zeitgenössischen Systemen wie dem DSM oder ICD fielen Babai (1999) auch bei Ibn Sina (siehe Blogbeitrag 9) auf und er konstatierte, dass der Einfluss des Gedankengutes früher muslimischer Gelehrte auf die gegenwärtigen diagnostischen Manuale nur schwer auszuschließen sei. Verschiedentlich wird al-Balchī der Ursprung der Verhaltenstherapie zugesprochen und er wird als erster kognitiver Psychologe gehandelt (Badri, 1998, 2013).

    al-Balchī ist neben seiner Kategorisierung psychischer Störungen auch für sein psychosomatisches Verständnis von Erkrankungen bekannt (Badri, 1998, 2013; Deuraseh & Al-Talib, 2005; Husain, 2017; Özkan, 1990). Im Einklang mit Herbert Bensons Einwand von 1997, dass sich die moderne Wissenschaft zu wenig mit den physischen Effekten von Vorstellungen und Emotionen auseinandersetzt und dass ein ausgeglichener Ansatz zum Wohlbefinden emotionale, spirituelle und intellektuelle Überlegungen anstellen sollte, argumentiert auch al-Balchī gegen die Mediziner seiner Zeit, die Gesundheit und Behandlung lediglich in Zusammenhang mit physischen Merkmalen brachten und die Wechselwirkung zwischen Körper und Geist negierten. al-Balchī nahm keine qualitative Unterscheidung zwischen physischen und psychischen Erkrankungen vor und beschrieb, dass beide Arten sich gegenseitig bedingen. Dadurch hat er einen psychophysiologischen Ansatz zur mentalen Gesundheit etabliert, der als Basis für darauffolgende Gelehrten- und Philosophengenerationen diente (Mohammad et al., 2018). Manche Autoren schreiben ihm darüber hinaus auch die Prägung der Begriffe der mentalen Hygiene und der mentalen Gesundheit zu, die nach ihm maßgeblich von einer Körper-Seele-Balance abhängt (Husain, 2017).

    Referenzen:

    Awaad, R. & Ali, S. (2015). Obsessional Disorders in al-Balkhi′s 9th century treatise: Sustenance of the Body and Soul. Journal of Affective Disorders, 180, 185-189. doi:10.1016/j.jad.2015.03.003

    Awaad, R. & Ali, S. (2016). A modern conceptualization of phobia in al-Balkhi’s 9th century treatise: Sustenance of the Body and Soul. Journal of Anxiety Disorders, 37, 89-93. doi:10.1016/j.janxdis.2015.11.003

    Awaad, R. (2017, September). Historical and Islamic Scholarly Roots of Mental Health. Paper präsentiert auf dem Islamic Models of Nurturing Psychological and Spiritual Health Konferenz des Khalil Centers, Islamic Center at New York University.

    Badri, M. (1998). Abu Zayd Al-Balkhi: A Genius Whose Psychiatric Contributions Needed More Than Ten Centuries To Be Appreciated. Malaysian Journal of Psychiatry6(2).

    Badri, M. (2013). Abū Zayd al-Balkhī’s sustenance of the soul: The cognitive behavior therapy of a ninth century physician. London: International Institute of Islamic Thought.

    Babai, A. (1999). Zur Psychologie und Psychotherapie Ibn Sinas. Berlin, Deutschland: Galda und Wilch Verlag.

    Benson, H., & Stark, M. (1997). Timeless healing: the power and biology of belief. New York: Simon & Schuster.

    Deuraseh, N. & Abu Talib M. (2005). Mental health in Islamic medical tradition. The International Medical Journal, 4, 76-79.

    Haque, A. (2004). Psychology from Islamic Perspective: Contributions of Early Muslim Scholars and Challenges to Contemporary Muslim Psychologists. Journal of Religion and Health, 43(4), 357-377. doi:10.1007/s10943-004-4302-z

    Haque, A., Khan, F., Keshavarzi, H., & Rothman, A. E. (2016). Integrating Islamic Traditions in Modern Psychology: Research Trends in Last Ten Years. (2016). Journal of Muslim Mental Health, 10(1), 75-100.

    Husain, A. (2017). Contributions of Arab Muslim Scholars to Psychology. In A. Husain (Ed.), Contemporary Trends in Islamic Psychology (pp. 13-25). Hdyerabad, Indien: Centre for Study and Research.

    Khalili, S., Murken, S., Reich, K. H., Shah, A. A., & Vahabzadeh, A. (2002). Religion and Mental Health in Cultural Perspective: Observations and Reflections After The First International Congress on Religion and Mental Health, Tehran, 16–19 April 2001. The International Journal for the Psychology of Religion, 12(4), 217–237.

    Mohammad, A., Elzamzamy, K., Fereydooni, S., Gamar, M., & Awaad, R. (2018). Mental Health in the Islamic Golden Era: The Historical Roots of Modern Psychiatry. in H. S. Moffic, J. Peteet, A. Hankir, R. Awaad, Islamophobia & Psychiatry: Recognition, Prevention, and Treatment (in press).

    Özkan, Z. (1990). Die Psychosomatik bei Abu Zaid al-Balhi (gest. 934 A.D.). In F. Sezgin (Ed.), Veröffentlichungen des Institutes für Geschichte der Arabisch-Islamischen Wissenschaften, Reihe A, Texte und Studien, Bd. 4. Frankfurt am Main, Deutschland.

  • Reaktion auf den Tagungsbericht zur ersten internationalen Konferenz der International Association of Islamic Psychology (26. – 28. Oktober 2018, Istanbul)

    Hasan Polat

    Der Tagungsbericht zur ersten internationalen Konferenz der International Association of Islamic Psychology (26. – 28. Oktober 2018, Istanbul) hat mich motiviert, diese Zeilen zu schreiben. Hiermit möchte ich zum Anlass des Berichts einige meiner Gedanken zusammenfassen. 

    Wir Muslime in Deutschland, die eingewandert sind, haben eine lange Zeit versucht, durch die Gründung eigener Vereine und Organisationen uns gegen die Mehrheitsgesellschaft zu schützen. Das hatte seine Vor- und Nachteile. Aber wir konnten eine lange Zeit nicht so bleiben, weil dies eine lange Zeit nicht realistisch war und die neue Technik alle traditionellen Grenzen und Schutzmechanismen überrollt hat. Wir müssen lernen, uns in der hiesigen Gesellschaft von isolierten zu kollektiven Bestrebungenzu bewegen, weil wir an eine Religion (ed-Din) glauben, die an alle Menschen appelliert. Und wir wissen, dass wir heutzutage nicht mehr isoliert bleiben können. Das hat erneut seine Vor- und Nachteile, und ist auch eine Herausforderung, an der wir Muslime wachsen müssen.

    Jeder Mensch ist als soziales Wesen auch ein Produkt seiner Zeit, in der er geboren und aufgewachsen ist. Muslime wurden ignoriert, vernachlässigt und diskriminiert. Der dominante, sehr materialistisch orientierte Positivismus und Kolonialismus hat uns sehr unter Druck gesetzt und negativ beeinflusst. Aber wir dürfen unsere Probleme nicht ständig externalisieren. Wir sind irgendwie auch stehengeblieben. Malek Bennabi hat mal sehr gut formuliert: „Es stimmt, dass wir kolonialisiert worden sind. Aber wir müssen auch fragen, warum wir kolonialisiert werden konnten?“

    Die positivistische Sichtweise der Psychologie hat den Menschen lange Zeit als ein sehr mechanisches Lebewesen betrachtet und dargestellt. Aber das hat sich mit der Zeit geändert. Heutzutage versuchen viele Therapeuten, die religiösen und traditionellen Aspekte miteinzubeziehen, damit sie ihren Klienten besser helfen können. Wir Muslime haben uns in diesem Sinne verspätet. Aber das heißt nicht, dass wir das nicht nachholen können. Wir haben die Ressourcen und die Kapazitäten, vorausgesetzt wir geben uns Mühe und streben danach. Der IASE e.V. kann in diesem Sinne eine Basis schaffen, wenn wir uns alle beteiligen würden.

    Der Islam ist eine Religion (ed-Din), die mehr beansprucht als andere Religionen auf der Welt, und dies wird oft von den Machthabern als eine Bedrohung der momentanen Weltordnung gesehen und dargestellt. Im Namen des Islam werden auch viele unakzeptable Dinge gemacht. Das ist eine momentane Realität der Weltpolitik. 

    Meiner Meinung nach dürfen wir Muslime uns nicht so stark politisieren lassen. Als Therapeuten und Berater können wir für die Verbesserung des Wohlbefindens aller Menschen unsere Beiträge leisten, die der Islam von uns erwartet.

    Je mehr sich ein Muslim bemüht, für sein eigenes Wohlbefinden und für das Wohlbefinden seiner Umgebung seine Beiträge zu leisten, desto mehr wird Allah ihm neue Perspektiven öffnen und neue Möglichkeiten geben. 

    Wir Muslime glauben an das Achirah und wissen, dass wir dort erhalten, was wir in unserem Leben auf der Erde geleistet haben.

    Allah möge uns schützen und unterstützen, liebe Schwestern und Brüder.

    Hasan Polat

  • Blogreihe: Die Terra Incognita der islamischen Psychologie – Woche 3

    Kindliche Entwicklung, Relevanz der Psychotherapie

    In der dritten Woche unserer Blogreihe beschäftigen wir uns weiterhin mit der Terra Incognita der islamischen Psychologie: dem psychologischen, psychotherapeutischen und psychiatrischen Gedankengut in den Schriften früherer muslimischer Gelehrter. Eine fundamentale Herausforderung bei der psychologischen Rezeption dieser Arbeiten ist, dass die meisten Schriften nur sehr schwer zugänglich sind (Awaad, 2018). Genauso wie die frühen muslimischen Gelehrten in ihrer psychiatrischen und therapeutischen Praxis in interdisziplinären Teams gearbeitet haben (vgl. Blogbeitrag nächste Woche), bedarf es darüber hinaus auch eines gut organisierten interdisziplinären Teams aus islamischen Theologen, arabischen Sprachwissenschaftlern und Psychologen und Psychiatern, um die Werke früherer muslimischer Gelehrter zu analysieren.

    Der Gelehrte, mit dem wir uns heute auseinander setzen möchten, ist ʿAlī ibn Sahl Rabban at-Tabarī (838-870). Dieser stammte aus dem Norden des heutigen Irans. Sein medizinischer Text Firdaus Al-Hikmah (Paradies der Weisheit) stellte die erste medizinische Enzyklopädie dar und beinhaltete auch Beiträge zur Psychologie (Payk, 2005), die z.B. zum Verständnis der kindlichen Entwicklung beigetragen haben (Haque, 2004). Weiterhin ist in seiner Enzyklopädie ein Kapitel zu den Krankheiten des Kopfes und des Gehirns zu finden (Mohammad et al., 2018). at-Tabarī ging außerdem auf die Wichtigkeit der Psychotherapie und ihrer Relevanz für die medizinische Behandlung ein (Hamarnah, 1984) und betonte die Notwendigkeit einer positiven therapeutischen Beziehung für den Therapieerfolg (Husain, 2017).

    Referenzen:

    Awaad, R. (2018, October). Historical Perspectives and Modern Clinical Implications for the development of Islamic Psychology. Paper presented at the conference of the International Association of Islamic Psychology, Istanbul, Turkey.

    Payk, T. (2005). Psychiatrie im frühen Islam. In H. J. Assion (Ed.), Migration und seelische Gesundheit (pp. 21-28). Heidelberg, Deutschland: Springer, 21-28.

    Hamarneh, S. K. (1984). Health Sciences in Early Islam: Collected Papers. Blanco, TX: Zahra Publications.

    Haque, A. (2004). Psychology from Islamic Perspective: Contributions of Early Muslim Scholars and Challenges to Contemporary Muslim Psychologists. Journal of Religion and Health, 43(4), 357-377. doi:10.1007/s10943-004-4302-z

    Husain, A. (2017). Contributions of Arab Muslim Scholars to Psychology. In A. Husain (Ed.), Contemporary Trends in Islamic Psychology (pp. 13-25). Hyderabad, Indien: Centre for Study and Research.

    Mohammad, A., Elzamzamy, K., Fereydooni, S., Gamar, M., & Awaad, R. (2018). Mental Health in the Islamic Golden Era: The Historical Roots of Modern Psychiatry. in H. S. Moffic,, J. Peteet, A. Hankir, R. Awaad, Islamophobia & Psychiatry: Recognition, Prevention, and Treatment (in press).