Mit dem Namen ALLAHs, des Barmherzigen, des Allerbarmers, bismi ʾllāhi ʾr-raḥmāni ʾr-raḥīm

Kategorie: Allgemein

  • IASE Tagungsbeitrag 2000: Wie gehen die Moscheen mit dem Thema Gewalt um?

    Aus der Schatzkiste. Die Wenigsten wissen, dass die IASE seit den 1980er Jahren existiert. Wir haben alte Tagungsbeiträge ausgesucht, um sie wöchentlich hier zu posten. Viel Vergnügen beim Lesen.


    Wie gehen die Moscheen mit dem Thema Gewalt um?

    Celal Özcan

    Obwohl mich dieses Thema sehr interessiert, habe ich dennoch nicht viel in der Literatur dazu gefun­den, da es wohl eher ein praktisches Problem ist.

    Welcher Zusammenhang besteht zwischen dem Islam und Gewalt? Hierzu zitiere ich den bekannten Koranvers: „Es gibt keinen Zwang in der Religion“. Wie dieser Vers zeigt, darf keine Gewalt ange­wendet werden, jeder ist frei, er ist vor Gott frei, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden.

    Nun zu dem Begriff „Islam“: Der Begriff kommt von der Wortwurzel „Salam“, was Friede bedeutet. Wie kann es Gewalt in einer Religion geben, deren Name „Friede“ bedeutet? Theoretisch mag das klar sein, doch in der Praxis haben sich Muslime zu oft nicht an die Vorschriften der Religion gehalten. Das wird bei einem Blick in die heutige islamische Welt schnell klar. Wir Muslime haben angefangen, so zu glauben wie wir leben, obwohl es eigentlich anders sein müßte: wir müßten so leben wie wir glauben.

    In den 70er Jahren gab es einen schwarzamerikanischen Führer, Malcolm X. Er sagte in einer Veran­staltung: „Preis sei Allah, dass ich Muslim geworden bin, bevor ich die Muslime kennengelernt habe.“ Eine ähnliche Aussage machte Yusuf Islam, auch als Cat Stevens bekannt. Vielleicht wären sie keine Muslime geworden, wenn sie uns erlebt hätten, sie haben jedoch nach den Quellen geforscht und den wahren Islam kennengelernt.

    Die heutige Situation der Muslime und die Tatsache, dass sie Gewalt benutzen, ist historisch zu verste­hen: Durch die Kolonialisierung der meisten islamischen Länder nach dem ersten Weltkrieg hatten die Muslime kaum Gelegenheit, ihre Religion weiter zu studieren und zu lehren, wodurch viele lebens-praktische Dinge wie das islamische Verhalten gegenüber ihren Kindern oder den Nachbarn usw. zu­nehmend in Vergessenheit gerieten. Dazu kam, dass aus den Reihen der Muslime selbst Probleme ent­standen. So führte z.B. Atatürk eine Art Revolution durch: unter anderen Neuerungen, die gegen den Islam gerichtet waren, führte er die lateinische Schrift ein und machte damit über Nacht Millionen zu Analphabeten.

    Auch heute wird in den islamischen Ländern Gewalt angewendet, um die Muslime von ihrer Religion abzubringen. In der Türkei z.B. dürfen keine muslimischen Frauen mit Kopftuch studieren. Das gilt ebenso für Männer mit Bart. So haben bei genauerer Betrachtung die Muslime dort nur eingeschränkte Chancen, den Islam richtig und umfassend zu lernen und zu leben, so dass sich ein großer Teil unseres Volkes in der Religion nicht auskennt. Sie kennen oft nur die Schahada, wissen, dass man fünfmal am Tag betet, die Hadsch macht und Zakat zahlt. Und wer das nicht tut, kommt in die Hölle. Doch alles andere, was man normalerweise als Muslim ebenfalls wissen muß, kennen sie nicht oder haben es vergessen.

    Weiterhin ist die wirtschaftliche Lage der muslimischen Länder im Zusammenhang mit Gewalt zu nennen. Zum Unterhalt der Familie ist harte Arbeit notwendig. Ich habe in Ägypten einen Rechtsan­walt kennengelernt, der zusätzlich nachmittags arbeiten mußte um seine Familie zu ernähren.

    Viele Menschen glauben und praktizieren den Islam streng, auch wenn sie nicht viel darüber wissen. Das, was sie nicht gelernt haben, können sie natürlich auch nicht an die nachfolgenden Generationen weitergeben. Nun möchten sie ihren Kindern aber etwas vom Islam zukommen lassen. Sie können sie entweder in die Moschee zum Unterricht schicken oder sie zur Befolgung der Religion zwingen, also Gewalt anwenden. Deutlich wird das beim Kopftuch, für dessen Notwendigkeit keine Begründungen angegeben werden können, sondern einfach Zwang ausgeübt wird. Die Menschen haben keine Mög­lichkeit, die Tochter mit Argumenten von der Notwendigkeit zu überzeugen und sie selbst zu diesem Schluß gelangen zu lassen. So begünstigt also fehlendes Wissen über die Religion die Anwendung von Zwang und Gewalt.

    Gewalt in den Moscheen

    Durch den bedauerlichen Zeitmangel in den Familien besteht oft nur eine geringe Möglichkeit, die Kinder dort zu unterrichten. Nach der Schule müssen Hausaufgaben gemacht werden, dann gibt es ein wenig Fernsehen, dann geht es ins Bett.

    Die Kinder stehen zwischen zwei Kulturen und verhalten sich oft anders als ihre Umgebung. Wenn sie in die Moschee gehen wie in die Schule, ist der Lehrer beunruhigt, da er eine gewisse Disziplin benö­tigt, damit die Kinder etwas lernen. Dann wird er auch eher Gewalt anwenden, weil er sie nicht anders zur Ruhe bringen kann. Ich selbst habe als Kind in der Moschee oft Schläge bekommen.

    Was kann ich als Hodscha tun, um Gewalt in der Moschee zu verhindern?

    1. In der IGMG versuchen wir besonders junge Hodschas anzustellen, die noch voller Energie sind und noch mehr Geduld haben. Ältere Hodschas, die ihre Jugend und damit auch ihre Schulerfahrung in der Türkei verbracht haben, tun sich damit gegenüber Kindern schwer, die hier in Europa aufge­wachsen sind. Ich selbst verstehe die Hodschas zwar, versuche jedoch, sie von einigen Verhaltenswei­en abzubringen.
    2. Die Hodschas der IGMG kommen wenigstens einmal im Monat zusammen und diskutieren über wichtige Aspekte ihrer Tätigkeit. So haben wir bei unserer letzten Versammlung mit ca. 30 Kollegen über das Thema Gewalt gesprochen.
    3. Wir haben nur eingeschränkte Möglichkeiten, die Kinder in kleine Klassen oder Gruppen einzutei­len. Manchmal kommen 60-70 Kinder zum Unterricht. Wie soll ein Hodscha alle unterrichten? Mit einer strammen Disziplin wäre das vielleicht möglich. Daher versuchen wir, die Zahl der Kinder in den einzelnen Räumen zu verringern.
    4. Kinder werden nach Mtersgruppen eingeteilt. Praktisch bedeutet das für mich drei mal zwei Stun­den Unterricht für 60 Kinder in drei Klassen à 20 Kinder. Ich verbringe so den ganzen Tag mit ihnen. Die Unterrichtsdauer ist festgelegt und begrenzt, um die Kinder nicht zu überfordern. Eine Stunde dauert 45 Minuten, danach kommt eine Pause, dann folgt eine weitere Stunde.

    Ich versuche, mich mit den Kindern anzufreunden, mit ihnen kindgerecht umzugehen, damit sie keine Angst vor mir haben. Auch darf man nicht alles sehen, was die Kinder anstellen, das schont die Ner­ven. Manche Hodschas stehen allerdings mit einem Stock in der Hand in der Kiasse und schlagen an irgendeinem Punkt der Unruhe ein bestimmtes Kind, damit alle ruhig werden.

    1. Weiterhin versuchen wir die Kinder für gute Leistungen zu belohnen. Das steigert das Interesse der

    Kinder erheblich, zumal wir keine Möglichkeiten von Zeugnissen, Versetzungen oder Klassenwieder­holungen haben.

    1. Auch versuchen wir, mit den Eltern zusammenzuarbeiten.

    Frage:

    Wie gehen Moscheen mit dem Thema Gewalt um, das von Einzelnen an sie heran getragen wird. Werden sie irgendwo hingeschickt (Fachleute), sprechen die Hodschas selber mit ihnen usw.?

    Antwort:

    Ehepaare, einzeln oder zusammen, kommen nicht oft in die Moschee um mit dem Hodscha ihre Pro­bleme zu besprechen. Ein Grund dafür ist die islamische Haltung, dass man nicht über andere reden soll. Das wird in unserer Gemeinschaft leider oft zu wenig berücksichtigt. Dennoch bemühen wir uns natürlich, zu helfen. So hatte ich im vorigen Jahr einen jungen Mann, der aus der Türkei gekommen war und mit seiner Frau Probleme hatte, die hier in Deutschland groß geworden war. Der Mann hoffte, eine traditionelle Frau zu finden, die Frau erwartete ein Verhalten wie bei deutschen Männern.

    Ich habe mich dergestalt verhalten, dass ich mit dem jungen Mann gesprochen und meine Frau zu sei­ner Frau geschickt habe. Wir versuchen, den beiden zu erklären, wie Allah und der Islam die Angele­genheit sehen und wie sie sich gegenüber dem jeweils anderen verhalten sollen.

    Zwischenbemerkung einer Teilnehmerin:

    In Aachen kann man den Imam anonym anrufen und sein Problem schildern, auf das er dann ebenso anonym in der nächsten Chutba eingeht.

    Antwort:

    In der Chutba gehe ich anonym auf diese Dinge ein, die mir vorgetragen wurden. Unabhängig davon versuche ich mindestens einmal im Monat das islamisch korrekte Verhalten in der Familie zum Thema der Chutba zu machen.

    Ähnlich verfahren wir im Falle von Problemen mit den Kindern. Wenn wir allein nicht weitet kom­men, haben wir in Dortmund einen psychologischen Berater, einen Türken, wohin wir dann die Men­schen schicken.

  • Blogreihe: Die Terra Incognita der islamischen Psychologie – Woche 14

    Theorie der Seele, Motivation

    Fachr ad-Dīn ar-Rāzī (1150–1210) wurde wie auch der historisch frühere Abū Bakr Muḥammad ibn Zakaryā ar-Rāzī (Rhazes) in Ray im nördlichen Iran geboren. Attar (2014) widmet sich in seiner Dissertation der Psychologie in al-Razis Werk al-Mabāḥiṯ al-mašriqiyya fī ʿilm al-ilāhiyyāt wa-l-ṭabīʿiyyāt. al-Razi setzt sich in dieser Arbeit zunächst intensiv mit Ibn Sinas psychologischem Gedankengut auseinander und synthetisiert davon ausgehend seine Simplifizierte Theorie der menschlichen Seele (Attar, 2014). In seiner Arbeit Kitab al-Nafs Wa al-Ruh wa Sharh Quwahuma untersucht er außerdem die verschiedenen Arten des Vergnügens, den sinnlichen Genuss und die Bedürfnisse (Haque, 2004), aus heutiger Sicht scheint dies vor allem unter motivationspsychologischen Aspekten interessant zu sein. Auch setzt er sich mit der Physiognomie, Schmerz und Freude, interindividuellen Unterschieden und der kognitiven Therapie moralischer Krankheiten auseinander (Awaad, 2019).

    Referenzen

    Attar, M. F. (2014). Faḫr al-Dīn al-Rāzī on the Human Soul: A Study of the Psychology Section of al-Mabāḥiṯ al-mašriqiyya fī ʿilm al-ilāhiyyāt wa-l-ṭabīʿiyyāt (Doctoral dissertation, McGill University, Montreal, Kanada). Geladen von: http://digitool.library.mcgill.ca/webclient/StreamGate?folder_id=0&dvs=1508178326200~439

    Awaad, R., Mohammad, A., Elzamzamy, K., Fereydooni, S., & Gamar, M. (2019). Mental Health in the Islamic Golden Era: The Historical Roots of Modern Psychiatry. In H. S. Moffic, J. Peteet, A. Z. Hankir, & R. Awaad (Eds.), Islamophobia and Psychiatry: Recognition, Prevention, and Treatment (pp. 3-18). Basingstoke, England: Springer.

    Haque, A. (2004). Psychology from Islamic Perspective: Contributions of Early Muslim Scholars and Challenges to Contemporary Muslim Psychologists. Journal of Religion and Health, 43(4), 357-377. doi:10.1007/s10943-004-4302-z

  • IASE Fachtagung 2019

    Sie steht, unsere Fachtagung! Am 06.04.2019 freuen wir uns, Euch auf unserer Fachtagung begrüßen zu dürfen. Alles Weitere zu Programm und Anmeldung findet ihr in unserem Flyer unter diesem Link.

     

     

     

     

     

     

     

    Islam und Psychologie – Forschungsansätze und Auswirkungen in Theorie und Praxis

    Psychologie, Psychotherapie und Psychiatrie entdecken seit einigen Jahren Religion und Spiritualität zunehmend als sinnstiftende Elemente. Andererseits wird der Themenkomplex „Islam und Psychologie“ seit Ende der 70er Jahre unter muslimischen Fachleuten weltweit kontrovers diskutiert. Auf unserer wissenschaftlichen Tagung zum Thema Islam und Psychologie – Forschungsansätze und Auswirkungen in Theorie und Praxis wollen wir die Frage des Verhältnisses von Psychologie und Islam aus drei Perspektiven beleuchten: Paul Kaplick gibt einen Überblick über die Entwicklung und den aktuellen Stand der theoretischen Ansätze. Dr. Martin Kellner behandelt die religiösen islamischen Grundlagen, auf die sich eine Psychologie aus islamischer Perspektive stützen kann und Dr. Ibrahim Rüschoff untersucht die Möglichkeiten und Grenzen einer Integration islamischer Elemente in die beraterische und therapeutische Praxis. Angesprochen werden in erster Linie muslimische Berater und Therapeuten aus den Berufsfeldern Psychologie, Psychiatrie, Psychosomatik, Sozialpädagogik und Sozialarbeit etc., außerdem auch an interessierte Studierende.

    Folgende Referenten werden Euch Rede und Antwort stehen.

    Badawia, Tarek, Prof. Dr., Religionspädagoge, Erlangen

    Chizari, Navid, M.A., Doktorand der Theologie, Istanbul

    Kaplick, Paul, B.Sc., Masterstudium Kognitive Neurowissenschaften, Amsterdam

    Karim, Ahmed A., Prof. Dr., Psychologischer Psychotherapeut und Neuropsychologe, Tübingen

    Kellner, Martin, Dr., Theologe, Osnabrück

    Kounta, Mubarak, Imam, Rüsselsheim

    Laabdallaoui, Malika, Dipl.-Psych., Psychologische Psychotherapeutin, Mainz

    Mazarweh, Gehad, Dr. phil., Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut, Psychoanalytiker

    Ruff, Julia Semiha, B.Sc., Masterstudium Psychologie, Trier

    Rüschoff, Ibrahim, Dr., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Mainz

  • IASE Tagungsbeitrag 1999: Muslimische Familien zwischen Islam und Tradition

    Aus der Schatzkiste. Die Wenigsten wissen, dass die IASE seit den 1980er Jahren existiert. Wir haben alte Tagungsbeiträge ausgesucht, um sie wöchentlich hier zu posten. Viel Vergnügen beim Lesen.


    Muslimische Familien zwischen Islam und Tradition

    Malika Douallal

    Nicht nur in der westlichen, sondern auch in der islamischen Welt selbst herrschen viele Unklarheiten und Mißverständnisse über die Lebensweise des Islam. Viele Sitten und Bräuche, die für geheiligt und unverletzlich angesehen werden und für die Bevölkerung schon längst Teil ihres Glaubens geworden sind, haben beim genaueren Hinsehen nur wenig mit dem Islam zu tun und stehen oft sogar im Widerspruch zu islamischen Vorschriften. Dieser Widerspruch zwischen den Vorschriften der Religion und den Gepflogenheiten der Tradition fällt jedoch nur einem Kenner auf. Die Gläubigen selbst, die in einer bestimmten gesellschaftlichen Konstellation leben, können hier genauso wenig differenzieren wie ein außenstehender Betrachter.

    Für die Beschäftigung mit diesem Thema ist vorweg zu klären, was mit „Islam“ gemeint ist und beschrieben wird: Ist z.B. die Lehre der islamischen Religion gemeint oder eher die Sitten und Gewohnheiten der breiten und eher ungebildeten Bevölkerungsschichten sogenannter muslimischer Länder, die Lebensweise der muslimischen Migranten in Europa oder die Staatsideologie sog. islamischer Länder?

    Es soll am Typ der emigrierten muslimischen Familie versucht werden zu zeigen, wie unterschiedliche Faktoren das Bild des Islam verformen, ja oft sogar verfälschen. Das soll unter Berücksichtigung dreier Fragenkomplexe geschehen:

    1. Inwieweit beeinflußt die Familie selbst das Bild des Islam durch regionale und schichtspezifische Gewohnheiten?
    2. Wie wird die muslimische Familie von der nicht-islamischen Gesellschaft gesehen? Wird das, was die Außenwelt für islamisch hält, auch von der Familie selbst so gesehen?
    3. Inwiefern wird eine Vermischung von Tradition und Religion von der herrschenden Schicht eines Landes begünstigt oder gefördert, was auch die Lebensweise der ausgewanderten Familien beeinflußt?

    Zur Verdeutlichung der Situation seien einige kurze Beispiele genannt:

    Ein 17-jähriger türkischer Schüler erzählt seinen deutschen Mitschülern und Lehrern stolz, dass er jeden Jungen verprügele, der sich seiner Schwester auch nur annähere. Er selbst jedoch gibt ständig mit seinen Beziehungen zu Mädchen an. Für das Verständnis der Lehrer und Mitschüler handelt der Junge aus seiner islamischen Identität heraus. Dessen Verhalten stellt eine Bestätigung ihrer Ansichten über die Haltung des Islam zu Frauen dar: muslimische Mädchen werden abgeschirmt und eingeschränkt, während ihre Brüder alle Freiheiten in dieser Gesellschaft genießen dürfen. Dabei ist es unerheblich, ob der Junge selbst sein Verhalten mit Islam begründet oder nicht.

    Ein junges Ehepaar kommt in die Beratung, nachdem ihre Probleme in der Ehe schon zum zweiten Mal eskaliert sind. Sie ist eine praktizierende Muslima, die versucht, ihr Leben nach islamischen Regeln zu orientieren. Vor der Ehe war sie gesellschaftlich engagiert, leitete u.a. eine Studentengruppe und war im Ausländerbeirat aktiv. Nach der Heirat mußte sie alle ihre Aktivitäten aufgeben. Auch das Studium geriet in Gefahr, weil eine Frau in den Augen des Ehemannes nach islamischer Vorschrift in das Haus gehöre, ihre Stimme Bestandteil ihres Intimbereiches („Aura“) und der Umgang mit Fremden in gemischten Gruppen islamisch nicht erlaubt sei. Von seiner Mutter in Syrien, die für ihn das vollkommene Bild einer Muslima darstellt, hat er gelernt, wie eine muslimische Frau zu sein hat. Weil die Ehefrau sich nicht ohne weiteres in dieses Bild fügt, kommt es ständig zu Konflikten. Im Sinne unseres Themas können wir hier fragen, ob die traditionell syrische Frau wirklich dem Bild der muslimischen Frau, wie es die Lehre zeichnet oder ob der junge Mann eine regional-spezifische Lebensweise der Frau mit den islamischen Inhalten vermischt.

    Ein marokkanisches Mädchen kommt zum Jugendamt, weil der Vater es verprügelt hat. Im darauf fol-genden Gespräch mit dem Vater sagt dieser, als muslimischer Vater müsse er seine Tochter schlagen, damit sie gehorche. Die Sozialarbeiterin, die sonst nicht viel mit dem Islam zu tun hat, bekommt durch dieses Gespräch die Information, dass der Islam nicht nur dem Vater erlaube, seine Tochter zu schlagen, sondern ihn sogar dazu auffordere. Diese Information prägt ihr Bild von der muslimischen Familie. Dass dieser Familienvater eher eine traditionelle Lebensweise führt, die mit dem Islam in vieler Hinsicht unvereinbar ist, ist für die Sozialarbeiterin nicht ohne weiteres erkennbar.

    Ein 4-jähriges Kind läßt sich von seiner Erzieherin im Kindergarten auf einmal nichts mehr sagen. Es läßt sich nicht mehr von ihr anfassen und respektiert sie nicht. In einem langen Gespräch sagt das Kind endlich, der Vater habe ihm gesagt, seine Erzieherin sei eine Ungläubige und komme ins Höllenfeuer. Da müsse sie doch böse sein. In seiner Angst, sein Kind könne von einer nichtmuslimischen Erzieherin zu sehr beeinflußt oder sogar missioniert werden, wollte der Vater nur klare Grenzen für das Kind schaffen, wählte dazu jedoch völlig untaugliche Mittel.

    Betrachten wir diese Beispiele genau, so lassen sich aus dem Bedingungsgefüge einige grundlegende Faktoren herausarbeiten:

    Das Problem der Tradition

    Traditionen haben im Leben der Menschen durchaus ihren lebenspraktischen Wert und sind im Zusammenhang mit den jeweiligen Lebensumständen logisch nachvollziehbar. So ist verständlich, wenn sich ein Bauer mehr auf die Geburt eines Sohnes als auf die einer Tochter freut. Ein Sohn kann ihm bei der schweren Feldarbeit helfen, er bedeutet für ihn außerdem eine Stärkung in der oft rivalisierenden Männergesellschaft und, was noch wichtiger ist, seine Altersvorsorge. Ein Mädchen kann ihn erstens nicht so sehr entlasten und zweitens wird sie sowieso irgendwann heiraten und nicht mehr zur Familie gehören.

    Schwierigkeiten entstehen besonders dann, wenn diese Traditionen von ihrem Kontext losgelöst weitergelebt werden. Ein Bauer aus Zentralanatolien kann seine Sozialisation nicht einfach abstreifen, nur weil er plötzlich in einer Großstadt in Mitteleuropa lebt. Vergleicht man ihn außerdem mit vergleichbarer deutscher Landbevölkerung, wird man gerade in dieser Hinsicht manche Ähnlichkeiten finden. Das Problem liegt darin, dass der Anatolier für die nichtmuslimische Gesellschaft in erster Linie ein Muslim ist und seine Religion repräsentiert, auch wenn er nicht viel darüber weiß und in vieler Hinsicht sich ganz anders verhält als es die Religion fordert. Große Teile seines Verhaltens werden mit dem Islam assoziiert, viele Mißstände finden somit eine Erklärung.

    Nicht die durchdachte und bewußte Verbindung von Religion und Tradition an sich ist ein Problem, sondern die unreflektierte Vermischung beider. Da sich in vielen einzelnen traditionellen Praktiken oder Einstellungen oft ein kleines Fünkchen „islamischer Wahrheit“ findet, ist diese Vermischung so widerstandsfähig. Wenn wir z.B. dem gewalttätigen Ehemann entgegenhalten, dass er seine Frau nicht schlagen darf, so würde er uns auf die bekannte Stelle im Koran verweisen (4:35), die unter bestimmten Umständen in einer bestimmten Art und Weise dem Mann erlaubt, seine Frau zu schlagen. Dass er diese Stelle eigenmächtig und ohne jede Sachkenntnis (fehl-)interpretiert, ändert zunächst an dem Sachverhalt nichts, dass diese Stelle im Koran steht. Ebenso wird der junge Mann, dessen Frau nicht zusammen mit Männern studieren soll, aus dem Koran zitieren, dass auch die Frauen des Propheten (Friede mit ihm) nur hinter einem Vorhang von Männern angesprochen werden durften. Dass dieses Verhalten nur für die Frauen des Propheten galt und unzählige Gegenbeispiele existieren, ist für ihn ebenfalls ohne Belang.

    Trotz aller Kritik ist zu betonen, dass Traditionen und Volkssitten wichtige Funktionen haben und nicht grundsätzlich zu kritisieren sind. Der Islam ist nicht im luftleeren Raum entstanden. Die Völker, die ihn angenommen haben, hatten ihre Bräuche und Gewohnheiten, die der Islam nicht ersetzen wollte. Es entstand nicht etwas völlig Neues, sondern die jeweiligen Kulturen wurden durch den Islam lediglich überformt. Auch war der Prophet selbst nicht grundsätzlich gegen Praktiken aus vorislamischer Zeit. Es gab solche, zu denen er sich nicht geäußert hat oder denen er neutral gegenüber stand. Dann gab es welche, die er zu unterlassen empfohlen und wiederum andere, die er strikt verboten hat.

    Traditionen sind dann gefährlich, wenn sie andere benachteiligen oder gar menschenverachtenden Charakter erhalten, religiösen Charakter annehmen und dadurch unantastbar werden und mit religiösen Inhalten vermischt werden und somit das Bild des Islam verfälschen.

    Migration 

    Viele Verhaltensweisen und Gewohnheiten von Muslimen in der nichtislamischen Gesellschaft, die von dieser zwar als eigenartig und befremdend, jedoch typisch für den Islam angesehen werden, gelten selbst in der islamischen Heimat der Migranten als rückschrittlich, verkrustet und inflexibel. Während die Herkunftsgesellschaft sich weiter entwickelt und von bestimmten Traditionen entfernt hat, werden diese bei im Ausland lebenden Muslimen immer noch gepflegt und gleichsam konserviert. Unter Berücksichtigung der Lebensbedingungen der ersten muslimischen Gastarbeiter ist es nicht verwunderlich, dass diese den mitgebrachten Sitten und Traditionen weit größere Bedeutung beimaßen als diejenigen, die in der Heimat geblieben waren, stellten sie doch bei allen Unsicherheiten und Ängsten, die das Leben in der Fremde mit sich brachte, ein Stück Vertrautheit und Geborgenheit dar.

    Später wurden dann Frauen und Kinder nachgeholt, oft aus dem Dorf direkt in das westliche Stadtleben. Aus Sorge, die Kinder können von der westlichen Gesellschaft verdorben werden, wurde das Festhalten an althergebrachten Sitten und Dogmen ganz bewußt dazu benutzt, Grenzen zur Außenwelt zu schaffen. Hier liegt einer der Gründe, warum besonders muslimische Migranten der ersten Generation sich weigern, darüber zu reflektieren, welche Bestandteile ihres Handelns der islamischen Lehre entsprechen und welche nicht. Denn würde dabei deutlich, dass vieles eher mit Traditionen zu tun hat, verlören viele ihrer starren Grenzen ihre Legitimation. Das verunsicherte sie um so mehr, als es in Deutschland durch den geringen muslimischen Bevölkerungsanteil und die geringe öffentliche Präsenz des Islam wenig Modelle gibt, wie islamisches Leben hier aussehen kann, der Verlust von Traditionen also immer mit einem Verlust islamischer Identität assoziiert wird.

    Nur der Vollständigkeit halber soll an dieser Stelle erwähnt werden, dass natürlich nicht alle muslimische Familien nach diesem Muster leben. Vielen Familien bietet gerade das Leben in der Migration eine wichtige Chance, losgelöst von den Zwängen der heimatlichen Tradition den ursprünglichen Islam wieder zu entdecken und zu den Quellen selbst zurück zu gelangen.

    Schichtspezifisches Verhalten

    Es darf nicht außer Acht gelassen werden, dass es sich bei den in Deutschland und den westeuropäischen Ländern lebenden Muslime meistens um Arbeitsmigranten handelt, d.h. es geht hier um Menschen, die bereits in der Heimat eine niedrige gesellschaftliche Stellung innehatten oder ein geringes Bildungsniveau besaßen. Hätten sie über eine gesicherte wirtschaftliche und soziale Existenz verfügt, wären nur die wenigsten nach Europa gekommen, um unter oft menschenunwürdigen Arbeitsverhältnissen ihren Unterhalt zu verdienen. Fragen wir nach der Herkunft der Familien, die am meisten das Islam-Bild in der hiesigen Gesellschaft geprägt haben, so stellen wir fest, dass sie meistens aus ländlichen Regionen der Türkei, Marokkos oder Tunesiens kommen.

    In den ländliche Gegenden der ärmeren Ländern, sei es in den Ländern Südamerikas, im Süden Europas oder in sog. islamischen Ländern, hat besonders die Landbevölkerung keinen oder nur sehr begrenzten Zugang zum Bildungssystem. Deshalb sind viele aus der ersten Migrantengeneration Analphabeten. Diese Menschen kennen nur die innerhalb des Dorfes überlieferten Glaubensgebote und lebenspraktischen Regeln und wissen sonst nicht viel über den Islam. „Auch die auf dem Land tätigen Religionsgelehrten, unterbezahlt und selbst unwissend (von auswendig gelernten Suren abgesehen)“, (Naggar 1982) können an dieser Situation nichts ändern. Im Gegenteil, sie tragen zur Verkrustung der bestehenden Verhältnisse in hohem Maße bei. Die wirklichen Korangelehrten kommen meist mit den Massen der Bevölkerung nicht in Berührung, d.h. ihre Interpretationen bleiben unbekannt. Das Wissen, das den breiten Massen der Landbevölkerung vermittelt wird, dreht sich meistens um das Verbot des Alkohols, des Zinses, des Glücksspiels und die Anwendung des Erbrechts. Im gottesdienstlichen Bereich sind die Dorf-Imame zufrieden, wenn außer der Einhaltung des Gebets und des Fastens genügend Gläubige zum Freitagsgebet erscheinen. Da die Religion überhaupt im Alltagsleben der Menschen eine große Rolle spielt, gewinnen Traditionen und zufällige Erklärungen schnell religiösen Charakter. Es bleibt viel Raum für phantasievolle Auslegungen und Interpretationen von Ereignissen oder Zuständen, die oft von Aberglaube und magischem Denken geprägt sind.

    Eine andere große Gruppe der muslimischen Migranten kommt aus ärmeren Schichten der Stadtbevölkerung mit ebenfalls großen Defiziten an Schulbildung und allgemeiner Bildung überhaupt. Fehlende Bildung ist wiederum der Nährboden für die unreflektierte Übernahme von überlieferten Denkinhalten und Verhaltensmuster. Ein Mann schlägt seine Frau, weil es immer schon so war, dass Frauen geschlagen werden und nicht weil er denkt, dass er als Muslim seine Frau schlagen dürfe.

    Ohne diese oder ähnliche Verhaltensweisen zu verharmlosen oder zu rechtfertigen muß dennoch festgehalten werden, dass die Ursachen vieler abzulehnender Praktiken in den Lebensumständen dieser Menschen zu suchen sind, d.h. es geht hier um schichtspezifische Verhaltensmuster und weniger um die islamische Lehre. Dieselben Mißstände, die vorschnell auf den Islam zurückgeführt werden, finden sich beim genauen Hinsehen auch bei Menschen anderer Religionen und Glaubensrichtungen unter vergleichbaren gesellschaftlichen Lebensumständen.

    Regionalspezifisches Verhalten

    Bei vielen für islamisch gehaltene Lebenspraktiken handelt es sich in bei näherer Betrachtung um regionalspezifische Sitten und Gebräuche. Dieses gilt insbesondere für frauenunterdrückende Maßnahmen wie rigide soziale Kontrolle, Einstellung zur weiblichen Ehre oder benachteiligende Geschlechtsrollenverteilung. Diese und ähnliche Verhaltensmuster gelten für bestimmte Regionen und werden dort unabhängig von der Religionszugehörigkeit praktiziert. So unterscheidet sich z.B. die Einstellung zur weiblichen Ehre mit allen sich daraus ergebenden Folgen für die Lebenspraxis in den ländlichen Gegenden Siziliens oder Andalusiens mit katholischer Bevölkerung kaum von denen in Marokko oder Algerien, wo überwiegend Muslime leben.

    Die Praxis der Frauenbeschneidung ist ein weiteres Beispiel. In einigen afrikanischen Ländern wurde sie schon in vorislamischer Zeit durchgeführt und ist keinesfalls islamisch. Soweit sie heute vorkommt, wird sie nicht nur von Muslimen durchgeführt, sondern von allen in einer bestimmten Gegend lebenden Menschen, so z.B. auch von koptischen Christen in Ägypten. Angehörige beider Religionen unterscheiden sich bis auf rein religiöse Praktiken kaum in ihren Traditionen und Gewohnheiten.

    „Gastarbeiter-Islam“

    Eine andere Quelle der Vermischung von Glaubenssätzen und Traditionen, die falsche und irreführende Vorstellungen vom Islam erzeugt, stellt der sog. „Gastarbeiter-Islam“ dar, wie sie ihn Pinn und Wehner (1995) treffend nennen.

    Abgesehen von den Bedingungen ihrer regionalen Herkunft und Ängsten, sich von ihren Traditionen und Gewohnheiten in der Fremde zu trennen, bietet das Gastarbeitermilieu sicherlich „keinen günstigen Nährboden für die Entfaltung von Philosophie, Kunst und Wissenschaft einer islamischen Hochkultur“ (Pinn und Wehner 1995). Statt dessen orientieren sich die vom wirtschaftlichen Existenzkampf, schlechten Arbeitsbedingungen wie Schichtarbeit, extrem langen Arbeitszeiten und körperlichen Anstrengungen geprägten Migranten an einfachen Glaubensformeln und überkommenen Ansichten, die sie mit dem Islam vermischen. Hinzu kommen der trotz Fleiß und Mühe zumeist weiterhin niedrige Sozialstatus, die gesellschaftliche Diskriminierung und der zunehmende Rassismus. Es liegt auf der Hand, dass eine solche Lebenssituation keinen Raum für eine distanzierte und kritische Auseinandersetzung mit den eigenen Verhaltensweisen und Einstellungen bietet.

    Repressive Staatsideologien sogenannter islamischer Länder

    Überall in den muslimischen Ländern erleben wir, dass jedes Bemühen nach Wiederbelebung der ursprünglichen islamischen Lehre im Keim erstickt wird. Der jeweils „offizielle“ Islam ist geprägt von den Interessen und Ansprüchen der herrschenden Schichten, die die Religion dazu benutzt, ihre gesellschaftliche Machtstellung zu festigen. Dem Volk wird genau vorgeschrieben, was es als Islam verstehen darf und was nicht. Allein in Marokko, das sich als islamischer Staat mit dem König als Amir (Führer) der Gläubigen versteht, sitzen Tausende von Menschen aus politischen Gründen im Gefängnis, die nichts anderes begangen haben, als öffentlich abweichende Ansichten über den Islam zu vertreten. Dabei dient die Erhaltung traditioneller Denkinhalte und Ansichten nicht selten dazu, dass Volk in Unmündigkeit und Abhängigkeit zu halten. Das gilt besonders für die Unterdrückung der Frauen.

    Dieses Phänomen ist allerdings nicht nur für die sogenannten islamischen Länder typisch. Schon immer wurde in der Geschichte der Menschheit die Religion dazu mißbraucht, Völker zu beherrschen und unter Kontrolle zu halten. Die Geschichte der Staaten Europas bietet genügend Beispiele, wobei nach der Säkularisierung an die Stelle der Religion Staatsideologien wie z.B. der Kommunismus traten, die einen quasi-religiösen Charakter erhielten. Im Sinne des Marxschen Wortes, dass die Religion das Opium des Volkes sein, wird aus naheliegenden Gründen besonders in Zeiten sozialer, politischer und wirtschaftlicher Mißstände die Religion zur Stabilisierung bestehender Verhältnisse eingesetzt. Ein fehlendes oder defizitäres Bildungssystem tut ein Übriges, und so führen solche Situationen dazu, dass die Stärkeren Schwächere unterdrücken, sei es der König seine Untertanen, der Fabrikant seine Arbeiter, der Ehemann seine Frau oder der Bruder seine Schwester. Diese Tendenz macht deutlich, warum islamische Regeln, die der Frauen eher Pflichten auferlegen, herauskristallisiert und ausgebaut werden und Regeln, die Frauen Rechte einräumen und Männern Pflichten auferlegen, vergessen oder ignoriert werden. Hier liegt mit ein Grund dafür, warum der türkische Junge eine Freundin haben darf und seine Schwester keinen Freund, obwohl der Islam sowohl Männern wie auch Frauen außereheliche Beziehungen verbietet.

    Mangel an Ijtihad[1]

    Ein weiterer wichtiger Bedingung für die Mißstände in der islamischen Welt ist die Auffassung vieler Muslime, dass die zeit- und ortsgebundene Interpretation des Korans und der Sunna ohne weiteres auf beliebige Lebensumstände oder -situationen übertragbar sind. Bekanntlich ist die Sunna in einem geschichtlichen Kontext entstanden. Genauso hatten auch die Rechtsschulen einen bestimmten historischen Hintergrund. Die Rechtsgelehrten früherer Jahrhunderte brachten ohne Zweifel große Fortschritte für das Verständnis der islamischen Lehre, doch auch sie sind Kinder ihrer Zeitepoche. Auch sie haben die Kernquellen des Islam in einer bestimmten Art und Weise wahrgenommen. Daher läßt sich ihre Auslegung der islamischen Quellen nicht einfach ohne weiteres auf die heutigen Lebensverhältnisse muslimischer Familien in Mitteleuropa übertragen. Dinge, die in der damaligen Lebenssituation wichtig waren und daher im Vordergrund ihres Interesses standen, sind heute nicht mehr in dem Maße von Bedeutung oder sogar nur noch von historischem Interesse.

    Ein weiteres Problem heutiger Muslime ist, dass z.B. Lehren und Auslegungen ägyptischer und saudi-arabischer Gelehrter haargenau auf das Leben der Familien in Mitteleuropa übertragen werden, auch wenn klar ist, dass die Gelehrten die Lebenssituation dieser Familien überhaupt nicht kennen. So wird aus einem flexiblen, menschennahen Islam ein starres Gebilde, das den Menschen das Leben u. U. eher erschwert als erleichtert. Den Familien wäre dagegen viel geholfen, würden die Gelehrten zu den ursprünglichen Quellen zurückkehren und eine Auslegung betreiben, die den Anforderungen ihres tatsächlichen Lebens entspräche. Statt dessen wird oft der Ijtihad früherer Gelehrte mit den Kernquellen des Islam vermischt und deren Versuche, den Koran gemäß ihrer Lebensumstände zu interpretieren, zu unantastbaren Glaubensregeln gemacht. So mag das in Saudi-Arabien bestehende und mit dem Islam begründete Fahrverbot für Frauen zu einer Zeit, als es weder Handy noch Abschleppdienst gab, vielleicht einen Sinn gehabt haben, diesen Sachverhalt jedoch auf das Leben der muslimischen Frau in der heutigen Zeit zu übertragen ist nicht nur unsinnig, sondern für die Frau mit den Anforderungen, die das Leben an sie stellt, geradezu eine Schikane.

    Differenzierter Umgang mit der Erscheinungsform des Islam ist jedoch nicht nur auf Seiten der Muslime erforderlich, sondern ebenfalls auf der Seite der westlichen Gesellschaft. Denn erst wenn diese aufhört, eine Polarisierung zwischen der „abendländischen Zivilisation“ und dem „rückständigen Islam“ zu betreiben, erst wenn der Westen nicht mehr versucht, alle Ursachen für Mißstände in islamischen Familien auf den Islam selbst zurückzuführen, die Augen jedoch vor parallelen Fehlentwicklungen in der eigenen Gesellschaft verschließt, erst wenn zur eigenen psychischen Entlastung nicht mehr alles Negative auf den Islam projiziert und daher die Notwendigkeit übersehen wird, sich selbstkritisch zu betrachten, kann sich an den Mißverständnissen und Unklarheiten über den Islam und damit an der Haltung der Muslime gegenüber etwas ändern.

    Literatur

    El-Naggar, Ahmed: Zinslose Sparkassen. Ein Entwicklungsprojekt im Nildelta. Köln: Al-Kitab-Verlag 1982.

    Pinn, Irmgard; Wehner, Marlies: EuroPhantasien. Die islamische Frau aus westlicher Sicht. Duisburg: DISS 1995.

    Ramadan, Said: Das islamische Recht. Theorie und Praxis., Wiesbaden: Otto Harrassowitz 1980.

    [1] Ijtihad bedeutet „sich mühen“ oder „sich anstrengen“. Es handelt sich um ein Prinzip der islamischen Rechtslehre, nach dem der Gelehrte durch selbständige Meinungsbildung zu einer Rechtsauffassung gelangt (Ramadan, 1980).

  • Blogreihe: Die Terra Incognita der islamischen Psychologie – Woche 13

    Intellekt, Seelenlehre

    Psychologen vor allem muslimischen Glaubens sind eine neue intellektuelle Kraft, die die Arbeit früher islamischer Gelehrsamkeit strukturiert im Rahmen der psychologischen Wissenschaft wieder aufnehmen kann (Haque et al., 2016). Trotz optimistischer Zukunftsvision von Haque (2004) und Haque und Kollegen (2016) ist jedoch in der Sichtung der bisherigen Rezeption von Texten früher muslimischer Gelehrter durch Psychologen der Gegenwart festzustellen, dass diese Arbeitslinie keinen substantiellen Fortschritt über die Beschreibung einiger Konzepte hinaus innerhalb der letzten 10-15 Jahre erbracht hat. Im Bewusstsein, dass diese Arbeit sicherlich durch eine kontinuierliche interdisziplinäre Zuwendung und stärkere finanziellen Förderung erleichtert worden wäre, muss zukünftig diskutiert werden, ob die Texte der frühen muslimischen Gelehrsamkeit tatsächlich ein Potential zur Entwicklung einer indigenen islamischen Psychologie mit sich bringen und wie sich eine solche Entwicklung im Rahmen des soweit bestehenden Grundgerüsts einer islamischen Psychologie gestalten könnte.

    Abu’l Walid Muhamad Bin Ahmad Ibn Rushd (lat. Averroes) (1126–1198) entstammte dem spanischen Cordoba. Seine relevanten Werke umfassen das Liber universalis de medicina, in dem sich auch Texte über die Seele wiederfinden (Payk, 2005), „Die maßgebliche Abhandlung“, in der er verschiedene Arten des Intellekts beschrieb (Haque, 2004) und Talkbis Kitab al-Nafs, in dem er eine Seelenlehre bespricht.

    Referenzen

    Haque, A. (2004). Psychology from Islamic Perspective: Contributions of Early Muslim Scholars and Challenges to Contemporary Muslim Psychologists. Journal of Religion and Health, 43(4), 357-377. doi:10.1007/s10943-004-4302-z

    Haque, A., Khan, F., Keshavarzi, H., & Rothman, A. E. (2016). Integrating Islamic Traditions in Modern Psychology: Research Trends in Last Ten Years. (2016). Journal of Muslim Mental Health, 10(1), 75-100. Retrieved from http://dx.doi.org/10.3998/jmmh.10381607.0010.107

    Payk, T. (2005). Psychiatrie im frühen Islam. In H. J. Assion (Ed.), Migration und seelische Gesundheit (pp. 21-28). Heidelberg, Deutschland: Springer, 21-28.