Mit dem Namen ALLAHs, des Barmherzigen, des Allerbarmers, bismi ʾllāhi ʾr-raḥmāni ʾr-raḥīm

Author: Paul Kaplick

  • Blogreihe: Islam und Psychologie – Gegenstand und Geschichte – Teil 13

    Schlüsselkonzepte

    Die Diskussion von Schlüsselkonzepten nimmt in den Veröffentlichungen eine zentrale Funktion ein, da diese unmittelbar auf den Gegenstandsbereich einer islamischen Psychologie hindeuten können (z. B. Ahmad, 1992; Khalili et al., 2002; Mohamed, 1995, in diesem Band; Tritton, 1971). Viele dieser Schlüsselkonzepte wurden in den jeweiligen Arbeiten zu Persönlichkeitstheorien als deren elementare Bestandteile weitergedacht. Zu den klassischen Schlüsselkonzepten gehören Fitra, Ruh, ‘Aql, Qalb und Nafs; Letztere auch in ihren verschiedenen Zuständen bzw. Stadien. Diese Schlüsselkonzepte durchlaufen in ihrer theoretischen Durchdringung verschiedene Entwicklungsphasen. Am Beispiel der Fitra lässt sich dies verdeutlichen: Dieses Konzept wurde anfänglich noch isoliert dargestellt (Mohamed, 1995, in diesem Band; Mohamed, 2009), erfuhr mit der Zeit jedoch eine weitere Differenzierung und wurde in Interaktion mit anderen Schlüsselkonzepten beschrieben (Abdul Razak, M.A., 2011), und es wurden unterschiedliche Auffassungen bezüglich ihrer Eigenschaften angedeutet (Khalili et al., 2002).

    Bei der Sichtung von Schlüsselkonzepten fällt auf, dass die klassischen Konzepte unter variierenden Oberbegriffen subsumiert werden und somit eine gewisse Unschärfe in der Verwendung von arabischen Begrifflichkeiten deutlich wird. Um dies zu veranschaulichen, sind in Tabelle 1 Arbeiten mit abweichenden Referenzrahmen exemplarisch dargestellt. So behandeln beispielsweise Keshavarzi und Haque (2013) und Abu-Raiya (2012, in diesem Band) dieselben Entitäten Qalb, Nafs, ‘Aql und Ruh (vgl. Tabelle 2), jedoch beschreiben diese Konzepte in ihrer Interaktion nach Keshavarzi und Haque (2013) die Seele, wohingegen Abu-Raiya (2012, in diesem Band) seine Veröffentlichung als Persönlichkeitsmodell propagiert. Für die Definition und Diskussion der Schlüsselkonzepte und Vorstellungen damit in Verbindung stehender Persönlichkeitstheorien stellen wir in diesem Sammelband Skinner (1989, in diesem Band), Mohamed (1995, in diesem Band) und Abu-Raiya (2012, in diesem Band) vor.

    Darüber hinaus differieren die Definitionen dieser Konzepte teilweise stark voneinander bzw. sind innerhalb einzelner Publikationen inkonsistent. So ist z. B. die Beschreibung der Nafs bei Abu-Raiya (2012, in diesem Band) mehrdeutig, da auf sie an verschiedenen Stellen als Zustand, Phase oder Bestandteil der Persönlichkeit verwiesen wird. In Bezug auf die Nafs ist auch zu vermerken, dass Diessner, Yazdani und Richel (2007) die verschiedenen Zustände der Nafs nach dem Baha’i-Führer Abdul-Baha als Theorie der Persönlichkeitsentwicklung erfassen. Ähnlich ist auch das Verständnis von Nafs bei Dharamsi und Maynard (2012), die sie in sieben Entwicklungsphasen einteilen.

    Zukünftig gilt es, die Begriffe vor allem in Kooperation mit Experten der arabischen Sprache und islamischen Philosophie, Theologie und Mystik präziser zu durchdringen. Genauso wichtig wird es sein, weitere m.gliche Schlüsselkonzepte, wie z. B. Irada/Qasd (Wille), Fuad (Herz), Dhat (Wesen, Selbst, Ich, Identität), Ka’in (Lebewesen, Geschöpf, Wesen, Sein), Niyya (Absicht), Gharad (Motiv), Ilham (Inspiration, Eingebung) oder Wahy (Offenbarung) zu untersuchen.

    Über diese Blogreihe

    Nachdem wir uns im IASE Blog bereits den Themenfeldern „Die Terra Incognita der islamischen Psychologie“ und den „Instituten und Vereinigungen muslimischer Psychologen“ zugewandt haben, beschäftigen wir uns in dieser Blogreihe detaillierter mit der Literatur zum Thema islamische Psychologie in ihrer geschichtlichen Entwicklung und ihrem Gegenstand. Diese Blogreihe erscheint alle zwei Wochen am Sonntag. Die Inhalte sind aus der theoretischen Einführung in den Sammelband „Islam und Psychologie – Beiträge zu aktuellen Konzepten in Theorie und Praxis“ entnommen, der zum Beispiel hier erhältlich ist. Darin findet Ihr auch ein Literaturverzeichnis für die verwendeten Quellen.

  • Lese-Ecke: Applying Islamic Principles to Clinical Mental Health Care: Introducing Traditional Islamically Integrated Psychotherapy

    As-salamu alaikum!

    Gerne möchten wir Euch auf folgende Veröffentlichung unseres Kooperationspartners Khalil Center hinweisen:

    Applying Islamic Principles to Clinical Mental Health Care
    Introducing Traditional Islamically Integrated Psychotherapy

    Zusammenfassung:

    „This text outlines for the first time a structured articulation of an emerging Islamic orientation to psychotherapy, a framework presented and known as Traditional Islamically Integrated Psychotherapy (TIIP).

    TIIP is an integrative model of mental health care that is grounded in the core principles of Islam while drawing upon empirical truths in psychology. The book introduces the basic foundations of TIIP, then delves into the writings of early Islamic scholars to provide a richer understanding of the Islamic intellectual heritage as it pertains to human psychology and mental health. Beyond theory, the book provides readers with practical interventional skills illustrated with case studies as well as techniques drawn inherently from the Islamic tradition. A methodology of case formulation is provided that allows for effective treatment planning and translation into therapeutic application. Throughout its chapters, the book situates TIIP within an Islamic epistemological and ontological framework, providing a discussion of the nature and composition of the human psyche, its drives, health, pathology, mechanisms of psychological change, and principles of healing.

    Mental health practitioners who treat Muslim patients, Muslim clinicians, students of the behavioral sciences and related disciplines, and anyone with an interest in spiritually oriented psychotherapies will greatly benefit from this illustrative and practical text.“

    Wir wünschen Euch viel Spaß bei der Lektüre!

    Viele Grüße,

    Euer IASE Team

  • Blogreihe: Islam und Psychologie – Gegenstand und Geschichte – Teil 12

    Persönlichkeitstheorien

    Für eine erste Orientierung lässt der Blick auf ein westlich-psychologisches Curriculum Rückschlüsse zu, welche Themenkomplexe gegenwärtig in der theoretischen Literatur bedeutsam sind. Wie bereits erwähnt, wird einiges Engagement in die Aufarbeitung der Geschichte der Psychologie investiert, insbesondere die Werke früher muslimischer Gelehrter (z. B. Bakhtiar, 2013a, b, c; Elleisy, 2013; Haque, 2004, in diesem Band; Khalili, 2008).

    Persönlichkeitstheorien nehmen eine weitere elementare Rolle in der Literatur ein (z. B. Al-Attas, 2009; Amin, 1996; Ghufran, 1996; Hamid, R., 1974/2009; Othman, 2016; Tekke & Ismail, 2016a, 2016b). Dabei ist zwischen theoretisch-abgeleiteten Persönlichkeitsmodellen (z. B. Abdul Razak, M.A., 2011; Abu-Raiya, 2012, in diesem Band; Bonab & Kooshar, 2011; Bonab, Miner und Proctor, 2013; Diessner, Yazdani & Richel, 2007; Haeri, 1989; Hamid, R., 1974/2009; Inayat, 2005; Keshavarzi & Haque, 2013; Khalili, 2014; Skinner, 1989, 2010; Smither & Khorsandi, 2009; Raba, 2010), auf welche wir uns in den folgenden Erläuterungen beschränken, und empirischen Theorien der Persönlichkeit von Muslimen zu unterscheiden (z. B. Abu-Raiya & Pargament, 2010; Othman, 2011; Othman, Hamzah & Hashim, 2014). Theoretisch abgeleitete Persönlichkeitstheorien gehören zu den wenigen Theorien, die auch hinsichtlich ihres anwendungsorientierten Potentials z. B. für die klinische Praxis untersucht werden. Dabei ist aber festzustellen, dass über den Entwurf einiger spirituell- therapeutischer Interventionen hinaus (z. B. die Rezitation des Qur’ans oder Dhikr, das Gottgedenken; Haque & Keshavarzi, 2013) Versuchen, eine eigenständige psychotherapeutische Denkschule basierend auf islamischen Quelltexten zu konzeptualisieren, bisher wenig Erfolg beschieden war. Auf diese Versuche wird im anwendungsorientierten Abschnitt starker Bezug genommen. Am Einflussreichsten sind theoretisch abgeleitete, persönlichkeitstheoretische Arbeiten basierend auf den Werken früher muslimischer Gelehrter mit Abu Hamid Al-Ghazali als dem prominentesten Beispiel (Abu-Raiya, 2012, in diesem Band; Keshavarzi & Haque, 2013; Skinner, 1989, 2010), und solche, die sich auf klassische Schlüsselkonzepte wie z. B. Fitra beziehen, welche unten separat erläutert werden.

    Die iranische Psychologin Zohr. Koshravi und der iranische Philosoph Khosrow Bagheri (2006, in diesem Band) berichteten eine von den klassischen Schlüsselkonzepten abweichende Theorie. Die von ihnen präsentierte islamisch-psychologische Theorie ist ein Novum in der Literaturlandschaft, da sie die Vorstellung des Menschen als Handelndem aus dem Qur’an abstrahiert und somit einen handlungspsychologischen Theoriestrang initiiert. In Erg.nzung dazu existieren erste Bemühungen, den Menschen als Bezogenen auf Gott zu verstehen (Ghobary-Bonab & Kooshar, 2011;Ghobary-Bonab, Miner & Proctor, 2013; Miner, Ghobary-Bonab, Dowson & Proctor, 2012; Miner, Ghobary-Bonab & Dowson, 2017; Khalil, 2014) und könnten zukünftig aus der Perspektive der Objektbeziehungstheorie weiter untersucht werden.

    Ebenfalls abweichend von der Vorgehensweise, Persönlichkeitstheorien aus den Werken früher muslimischer Gelehrter und den darin besprochenen Schlüsselkonzepten abzuleiten, charakterisiert Raba (2010) Persönlichkeitstypen im Qur’an. Er berichtet drei Haupttypen der Persönlichkeit: glaubens- und gottesdienstbezogene Typen, sozial- und ethikbezogene Typen und intellektuell-, emotional-, physisch und professionell-bezogene Typen.

    Das Ziel der Formulierung islamisch-psychologischer Persönlichkeitstheorien ist in den meisten Arbeiten nicht klar definiert. Bei Skinner (1989, in diesem Band) und Keshavarzi und Haque (2013) l.sst sich vermuten, dass sie darauf ausgerichtet ist, die menschliche Psychologie, ihre Pathologie und klinische Symptomatologie so wie den therapeutischen Prozess besser zu verstehen.

    Neben Persönlichkeitstheorien versuchen verschiedene Autoren, Entwicklungstheorien (Abdullah, F., 2011, in diesem Band; Ahmed, 1998; Najati, M.A. 2009; Shehu, 1998, 2015) und allgemein-psychologische Theorien (Alawneh, 1998, 2009; Alias & Abdul Majid, 2005; Nazri et al., 2011; Noor, 1998, 2009; Saat et al., 2011; Zainuddin, 1996) zu formulieren. Im Rahmen allgemeinpsychologischer Theorien sind vor allem Motivationstheorien hervorzuheben (Khair, Ahmad & Hamid, M.A., 2016), wie z. B. das Taqwa Modell nach Alawneh (2011, in diesem Band), das Islamische Modell der Motivation nach Alias und Samsudin (2005), das Total Motivation Model nach Ather und Kollegen (2011), das Khauf wa Raja Modell nach Gustiawan (2013) und das Divine Motivation Modell nach Khair (2014). Diese Theorien werden mit überwiegender Beteiligung malaysischer Autoren in anwendungsorientierten Modellen der Arbeitsmotivation entwickelt (z. B. Bhatti, Hassan & Sulaiman, 2016). Ein Bereich, der mit wenigen anwendungsorientierten Ausnahmen bisher kaum bedient wurde, ist die Sozialpsychologie (Al-Karasneh & Saleh, 2010; Taib, Alias & Taib, 2011).

    Über diese Blogreihe

    Nachdem wir uns im IASE Blog bereits den Themenfeldern „Die Terra Incognita der islamischen Psychologie“ und den „Instituten und Vereinigungen muslimischer Psychologen“ zugewandt haben, beschäftigen wir uns in dieser Blogreihe detaillierter mit der Literatur zum Thema islamische Psychologie in ihrer geschichtlichen Entwicklung und ihrem Gegenstand. Diese Blogreihe erscheint alle zwei Wochen am Sonntag. Die Inhalte sind aus der theoretischen Einführung in den Sammelband „Islam und Psychologie – Beiträge zu aktuellen Konzepten in Theorie und Praxis“ entnommen, der zum Beispiel hier erhältlich ist. Darin findet Ihr auch ein Literaturverzeichnis für die verwendeten Quellen.

  • Lese-Ecke: Religionssensibilität in der Sozialen Arbeit: Positionen, Theorien, Praxisfelder

    As-salamu alaikum!

    Gerne möchten wir Euch auf folgende Veröffentlichung hinweisen:

    Religionssensibilität in der Sozialen Arbeit: Positionen, Theorien, Praxisfelder

    Zusammenfassung:

    „Mit Blick auf die aktuellen gesellschaftspolitischen, medialen, alltagsbezogenen Diskurse lässt sich beobachten: Wir erleben eine Renaissance von Religion, die vom Raum des Persönlichen und Privaten in den Raum des Öffentlichen und Kollektiven wandert. Religion wird öffentlich wieder verstärkt wahrgenommen und ist vielfach Bezugspunkt individueller und kollektiver Anerkennungsforderungen sowie Sinnsuchbewegungen. Diese gesellschaftliche Präsenz des Religiösen ist für die Soziale Arbeit als Wissenschaft und als Profession grundsätzlich von Bedeutung. So sind es u.a. die Adressatinnen und Adressaten der Sozialen Arbeit, die Religion thematisieren und die Fachkräfte zu einer Auseinandersetzung mit Religion herausfordern. Die Beiträge in diesem Sammelband befassen sich aus unterschiedlichen theoretischen, konzeptionellen und methodischen Perspektiven mit möglichen Antworten auf diese erneute Herausforderung.“

    Wir wünschen Euch viel Spaß bei der Lektüre!

    Viele Grüße,

    Euer IASE Team

  • Blogreihe: Islam und Psychologie – Gegenstand und Geschichte – Teil 11

    Der Brückenschlag zwischen islamischem Gedankengut und psychologischem Gegenstand

    Eine weit verbreitete Fragestellung unter muslimischen Psychologiestudenten ist die nach der Verbindung ihrer islamischen Identität und ihrem psychologischen Hintergrund. Zur Beantwortung dieser Frage liefern Kaplick und Skinner (2017) drei Ansätze, die beschreiben, wie islamische Lehren aus den Primär- und Sekundärquellen mit psychologischem Gedankengut und insbesondere der westlichen Psychologie verknüpft werden können:

    1) den islamischen Filteransatz nach Badri (1979),

    2) den islamischen Psychologieansatz nach Skinner (1989, in diesem Band) und

    3) den Vergleichsansatz nach S. Hussain (1984).

    Badris Ansatz (1979) betrachtet die westliche Psychologie aus einer kritischen islamischen Perspektive und versucht, aus ihr universelle Aussagen zu extrahieren und sie von kulturell-bedingten Ansichten und m.glichen Widersprüchen zu islamischen Auffassungen abzugrenzen. Trotzdem bewegt sich dieser Ansatz innerhalb der westlichen Psychologie und greift auf empirische Methoden zurück (Badri, 2016). Verschiedene Autoren sprechen in diesem Sinne oft von einer islamischen Perspektive, aus der heraus die Psychologie betrachtet wird (z. B. Amjad, 1996; Badri, 2012, in diesem Band; Noor, 2009; Utz, 2011).

    Der islamische Psychologieansatz nach Skinner (1989, in diesem Band) ist das Ergebnis einer 10-jährigen Rezeption Badris (1979), die unter dem Einfluss des Naturheilkundlers/Hakim Muhammad Salim Khan, der amerikanischen psychologischen Beraterin Aliah Haeri, dem Übersetzer klassischer theologischer Werke aus dem Arabischen Muhtar Holland, dem islamischen Theologen und Dekan des Cambridge Muslim College Timothy Winter (auch bekannt als Abdal-Hakim Murad) und den schiitisch-islamischen Psychologen Abdullah Maynard und Sabnum Dharamsi erfolgte. Dieser Ansatz beruft sich maßgeblich auf die Werke früher muslimischer Gelehrter und schlägt ein Verständnis einer islamischen Psychologie vor, die sich vollständig aus den islamischen Quelltexten ableitet. Die zentrale Relevanz der frühen muslimischen Gelehrten wird damit gerechtfertigt, dass sie Interpretationen des Qur’ans und der prophetischen Überlieferungen (Ahadith) in Bezug auf die Psychologie begründet haben. Skinner (1989, in diesem Band) argumentiert weiter, dass diese Interpretationen durch das islamische Umfeld dieser Gelehrten begünstigt wurden.

    Dieser Ansatz schließt die Verwendung islamischer Primärquellen (d. h. des Qur’ans und der prophetischen Tradition, Sunna) als Ursprung der Theoriearbeit nicht aus, betrachtet dieses Unterfangen aber kritisch. Bisher sind nur wenige Versuche in dieser Richtung unternommen worden (z. B. Abu-Raiya 2012, in diesem Band; Ansari, 1992, 2002; Bagheri, 2006; Raba, 2010). Auch haben aus der Sicht dieses Ansatzes die frühen muslimischen Gelehrten bereits einen Großteil dieser Anstrengung unternommen und es gelte, diesen zunächst aufzuarbeiten (z. B. Awaad & Ali, S., 2015, 2016; Keshavarzi & Haque, 2013). Ein weiterer Faktor sei, dass für die Durchdringung der islamischen Primärquellen eine exzellente interdisziplinäre Ausbildung in Psychologie, der arabischen Sprache und mitunter Philosophie, Geschichtswissenschaften und Theologie erforderlich ist. Aus vermutlich denselben Gründen verbleiben oftmals die Beiträge arabischer muslimischer Psychologen der Gegenwart in der englischsprachigen Literatur unberücksichtigt (z. B. Al-Hashmi, 1984; Mohammed, 1984; Nadir, 1986; Najati, M.U. 1979; Qutub, 1983; Sharif, 1987).

    Skinner (1989, in diesem Band) erkennt an, dass die Werke früher muslimischer Gelehrter stark von griechischem Gedankengut beeinflusst wurden und deren psychologische Erkenntnisse oftmals Resultat von Selbst- und Fremdbeobachtung sind, also nicht auf experimenteller Forschung nach heutigen Standards beruhen. Auch sei der Sitz im Leben dieser Gelehrten einzubeziehen (Kaplick & Skinner, 2017).

    Die Tatsache, dass viele der frühen Gelehrten wie z. B. Ibn Sina in ihren Kulturen auch starken nichtislamischen Einflüssen unterlagen, erfordert, ihre Werke kritisch zu betrachten und bedeutet, was bei allem Respekt vor den großen Gestalten der islamischen Geistesgeschichte noch wichtiger ist, dass auch heutige muslimische Psychologen und Theologen fundierte Grundlagenforschung leisten können. Als weiterer Kritikpunkt einer ausschließlichen Rezeption der Gelehrten der Frühzeit sei angemerkt, dass wir seit Al-Ghazali (gest. 1111) heute auf mindestens weitere 800 Jahre islamische Geistestradition zurückgreifen können. Die Werke der frühen muslimischen Gelehrten stellen unzweifelhaft einen großen Reichtum an psychologischem Wissen dar und machen den Hauptanteil der gegenwärtigen theoretischen Ausarbeitung aus. Das sollte uns jedoch nicht hindern, die weitere Theoriearbeit auch auf Basis der Arbeit der folgenden Generationen von Gelehrten bis hin zu muslimischen Psychologen der Gegenwart zu betreiben.

    Sadiq Hussain (1984) liefert die erste Vergleichsarbeit zwischen westlich-psychologischen Konzepten und den angenommenen islamischen Äquivalenten und begründet damit einen dritten Ansatz, den Vergleichsansatz. Der zentrale Unterschied zu Badris Filteransatz (1979) besteht darin, dass Arbeiten im Bereich des Vergleichsansatzes keine kritische Perspektive auf die westliche Psychologie liefern, sondern insbesondere darstellen möchten, dass die islamische Tradition gleichartige Konzepte bereits vor mehreren Jahrhunderten etabliert hat. Dies entspringt nicht zuletzt dem Bedürfnis, mit der westlichen Psychologie auf Augenhöhe zu agieren. Ein Beispiel ist der Versuch einer Formulierung einer islamischen Persönlichkeitstheorie in Tekke und Ismail (2016b), die das Gedankengut von Carl Rogers und Said Nursi zu versöhnen versuchen. Bakar (2012) merkt in seiner Geschichte und Philosophie der islamischen Wissenschaften an, dass diese Reaktion auf die moderne Wissenschaft unter muslimischen Akademikern in den verschiedensten Disziplinen (wie z. B. der Medizin oder Soziologie) beobachtet werden kann.

    Auch wenn dem Vergleichsansatz zu Beginn der Theoriefindung durchaus eine fundamentale Bedeutung zukommen kann (z. B. Abu-Raiya, 2014; Noor, 2009; Raba, 2010), kommen viele der Arbeiten zu allzu vereinfachten Ergebnissen. Die Gefahr besteht darin, psychologisch relevante Konzepte in der islamischen Tradition ohne Berücksichtigung der möglichen wissenschaftstheoretischen Unterschiede zur westlichen Tradition (vgl. Murken & Shah, 2002, in diesem Band) mit westlich-psychologischen Konzepten gleichzusetzen und schlicht als solche zu etikettieren. Als Beispiel lassen sich Ijaz, Khalili und Ahmad (2017) anführen, die das Konzept der Achtsamkeit mit dem islamischen Konzept des Khushu’, der tiefen Demut im Gebet, gleichsetzen, ohne die m.glichen Unterschiede in den Konzepten zu beleuchten. Damit kann der von S. Hussain (1984) begründete Ansatz in Konflikt mit dem Filter- und islamischen Psychologieansatz geraten, indem dieser weder eine differenzierte Sicht auf die westliche Psychologie entwickelt, noch das theoretische Fundament einer islamischen Psychologie erarbeitet (Kaplick & Skinner, 2017).

    Skinner (2015) vermerkt, dass Badris Ansatz (1979) als eine Indigenisierung from without und der islamische Psychologieansatz (Skinner, 1989, in diesem Band) als eine Indigenisierung from within verstanden werden kann. In der kulturübergreifenden Psychologie wurde diese Terminologie erstmalig von Enriquez (1993) eingeführt: Wo eine Indigenisierung from without versucht, westlich-psychologische Theorien und Methoden an einen lokalen, kulturellen Kontext anzupassen und zu modifizieren (z. B. Lambert D’raven et al., 2015), strebt eine Indigenisierung from within danach, psychologische Theorien und Methoden aus der eigenen, kulturellen, lokalen Geistestradition zu schöpfen.

    Eine abschlie.ende Definition ist nach unserer Auffassung nicht in Sicht. Jedoch liefern Kaplick und Skinner (2017, S. 199) eine erste Arbeitsdefinition, die versucht, die Linien des Literaturkorpus der Islam und Psychologie-Strömung zusammenzufassen und verstehen diese als das interdisziplinäre Feld, welches die menschliche Natur in Relation zu islamischen Quelltexten erforscht und dieses Wissen dazu nutzt, den Menschen in seinen bestmöglichen physischen, spirituellen, kognitiven und emotionalen Zustand zu bringen. Dieser bestmögliche Zustand kann unterschiedlich interpretiert werden, wie zum Beispiel dem Konzept des Gleichgewichts nach Abu Hamid Al-Ghazali (I’tidaal) oder Ibn Sina (Khan, M.S., 1986) folgend.

    Über diese Blogreihe

    Nachdem wir uns im IASE Blog bereits den Themenfeldern „Die Terra Incognita der islamischen Psychologie“ und den „Instituten und Vereinigungen muslimischer Psychologen“ zugewandt haben, beschäftigen wir uns in dieser Blogreihe detaillierter mit der Literatur zum Thema islamische Psychologie in ihrer geschichtlichen Entwicklung und ihrem Gegenstand. Diese Blogreihe erscheint alle zwei Wochen am Sonntag. Die Inhalte sind aus der theoretischen Einführung in den Sammelband „Islam und Psychologie – Beiträge zu aktuellen Konzepten in Theorie und Praxis“ entnommen, der zum Beispiel hier erhältlich ist. Darin findet Ihr auch ein Literaturverzeichnis für die verwendeten Quellen.