Mit dem Namen ALLAHs, des Barmherzigen, des Allerbarmers, bismi ʾllāhi ʾr-raḥmāni ʾr-raḥīm

Kategorie: Allgemein

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    Spirituellen Missbrauch verstehen: Ein Interview mit Salma Abugideiri

    Übersetzt von Julia Semiha Ruff

    Muslime sprechen immer offener über häusliche und sexuelle Gewalt in unserer Community.

    Aber was ist mit spirituellem Missbrauch?

    Muslim Link (www. muslimlink.ca) interviewte die muslimisch-amerikanische Beraterin Salma Abugideiri, die erklärt, was spiritueller Missbrauch ist und welche Auswirkungen er auf das Leben von Muslimen in Nordamerika hat.

    Erzählen Sie uns etwas über sich.

    Ich wurde in eine Einwandererfamilie hineingeboren. Meine Eltern sind Ägypter, haben aber Ägypten relativ früh verlassen. Ich wurde eigentlich in Österreich geboren. Dann kamen meine Eltern in die Vereinigten Staaten, als ich 2 Jahre alt war. Ich wuchs in den USA in verschiedenen Staaten auf.

    Ich bin im Grunde damit aufgewachsen, dass meine Eltern viel in der Gemeindearbeit tätig waren. Sie sind beide führende Persönlichkeiten in der muslimischen Community. Viele Leute kamen aus dem ganzen Land zu uns nach Hause. Meine Eltern nahmen oft Leute auf, die entweder mit Ehe- oder Familienbeziehungen zu kämpfen hatten. Später verstand ich, dass einige dieser Menschen Missbrauch erlebten und ich glaube, dass dies mein Interesse am Beruf der Beraterin geweckt hat. Ich erkannte auch die große Lücke in den Hilfsangeboten für diese Menschen.

    Ich habe eine Lizenz als professionelle Beraterin. In dieser Funktion hatte ich viele Klienten, die Opfer häuslicher Gewalt waren, aber auch Täter, die zur Beratung verpflichtet wurden. Ich habe früher für eine multikulturelle Agentur gearbeitet, so dass es sich oft um Menschen handelte, die nicht genug Englisch sprachen, um zum Hilfsprogramm des Bezirks zu gehen. Ich habe mit ihnen Einzelarbeit auf Arabisch gemacht. Dann wurde ich 2005 gebeten, dem Peaceful Families Project beizutreten, um die Programmplanung zu übernehmen.

    Erzählen Sie uns etwas über das Peaceful Families Project.

    Das Programm selbst wurde von Sharifa Alkhateeb ins Leben gerufen. Sie führte die, wie wir glauben, erste Umfrage unter muslimischen Führungspersonen durch, um die Prävalenz von häuslicher Gewalt in unseren Gemeinden zu ermitteln. Sie fragte nach körperlicher und sexueller Gewalt und etwa 10 % der Befragten gaben an, dass sie körperliche oder sexuelle Gewalt erlebt hatten. Das führte dazu, dass sie sich um eine Finanzierung durch das Justizministerium bemühte, welches sie mit dem FaithTrust Institute in Verbindung brachte – einer nationalen multireligiösen Organisation zur Prävention häuslicher Gewalt und sexueller Übergriffe.

    Das Peaceful Families Project wurde das muslimische Programm des FaithTrust Institute, das Sharifa bis 2005 leitete. Dann bat sie mich das Programm zu übernehmen, was ich zusammen mit Maha Alkhateeb tat. Als die Finanzierung 2007 gekürzt wurde, gründeten Maha Alkhateeb und ich das Peaceful Families Project als unabhängige gemeinnützige Organisation. […]

    Was ist spiritueller Missbrauch?

    Spiritueller Missbrauch wird für eine Vielzahl von Situationen verwendet, so dass ich verstehe, warum der Begriff für die Menschen verwirrend sein kann. In einem familiären Kontext verwenden wir den Begriff spiritueller Missbrauch für alles, was die Spiritualität oder die religiöse Praxis einer Person beeinträchtigt.

    Sagen wir, im Falle des Missbrauchs in der Ehe, wäre es der Missbrauch von Hadithen oder des Korans, um einen Ehepartner zum persönlichen Vorteil des anderen zu manipulieren. Wenn zum Beispiel ein Ehemann seine Frau nicht dazu bringen kann das zu tun, was er von ihr möchte, und sie nicht überreden kann, könnte er in diesem Fall darauf zurückgreifen zu sagen, dass er das Oberhaupt des Haushalts sei, so dass sie ihm gehorchen müsse, um eine gute muslimische Frau zu sein, mit welcher Allah zufrieden ist. Er könnte seiner Frau sagen, dass sie in der Hölle brennen wird, weil sie nicht gut genug sei. Sie sei nicht geduldig genug, sie putze nicht genug, sie kümmere sich nicht richtig um die Kinder.

    Wir sehen  auch, dass Menschen sich direkt in den Gottesdienst einmischen. So erzählen mir manchmal Frauen, dass ihr Mann sich auf ihren Gebetsteppich stelle, wenn sie zu beten versuche und sie nicht beten lasse. Oder dass er sie schlage und aus dem Bett ziehe, um sie zum Beten zu zwingen. Oder dass er ihr nicht erlaube, das Haus mit Kopftuch zu verlassen, weil es ihm peinlich sei und er nicht mit einer Frau gesehen werden wolle, die Kopftuch trägt, oder sie das Haus nicht ohne Kopftuch verlassen lasse.

    Einer meiner ersten Fälle von spirituellem Missbrauch war, als eine Anwältin mich konsultierte, weil ihre muslimische Mandantin häusliche Gewalt erlebte. Die Beschwerde der Frau war, dass ihr Mann sie während des Ramadans zum Geschlechtsverkehr zwang. Die Anwältin verstand natürlich nicht, warum die Tageszeit für ihre Mandantin so wichtig war. Ich musste erklären, dass diese Frau nicht nur zum Sex gezwungen wurde, sondern dass sie von ihrem Mann auch gezwungen wurde, ihr Fasten zu brechen, da wir Muslime während des Ramadans von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang keinen Geschlechtsverkehr haben sollen.

    Der Anwalt verstand nicht die spirituellen Auswirkungen dieses Missbrauchs. Die Betroffene beklagte sich über den spirituellen Aspekt, dass sie sich festgefahren fühle, weil sie ihrem Mann gehorchen „soll“ und gleichzeitig weiß, dass sie während des Fastens keinen Geschlechtsverkehr haben darf. Aus ihrer Sicht missachtet sie Allah so oder so. Diese Art von Double-Bind-Situationen schaffen wirklich eine Menge spirituelles Trauma für die Menschen. Jedes Mal, wenn irgendeine Art von missbräuchlichem Verhalten in religiösen Begriffen ausgedrückt wird, hat dies das Potenzial, ein spirituelles Trauma zu erzeugen.

    Das sind einige der Möglichkeiten, wie spiritueller Missbrauch in einer Ehe auftreten kann. Bei Kindern ist das genauso. Es ist nicht ungewöhnlich von Menschen zu hören, die ein Du’a (Bittgebet) gegen ihr Kind sprechen. Sie bitten Allah, ihnen das Kind wegzunehmen. Sie verfluchen das Kind durch Du’a. Die Kinder wachsen so mit einer sehr komplizierten und negativen Beziehung zu Allah auf.

    Oder die Eltern missbrauchen absolut gute Ayahs (Koranverse) über die Aufgabe der Kinder, auf ihre Eltern zu hören, die im richtigen Kontext völlig angemessen sind. Die Eltern missbrauchen diese Verse jedoch, um ihre Kinder dazu zwingen, etwas zu tun, was sie entweder nicht tun sollten oder wozu sie im religiösen Kontext wirklich nicht verpflichtet sind.

    Ich habe gesehen, dass Eltern dies tun, um ihr erwachsenes Kind dazu zu bringen, sich von seinem Ehepartner scheiden zu lassen, weil die Eltern ihn/sie nicht mögen. Die Eltern sagen z.B.: „Wenn du ein guter Muslim bist, musst du deinen Eltern gehorchen. Wir wollen also, dass du dich von dieser Person scheiden lässt. Und wenn du das nicht tust, kommst du in die Hölle, weil du uns nicht gehorchst.“ Das schafft diese wirklich spirituellen Konfliktsituationen für die Betroffenen. Ich kann Ihnen Hunderte von verschiedenen Möglichkeiten nennen, wie sich das abspielen kann.

    Finden Sie manchmal, dass es schwierig ist, über diese Themen zu sprechen, weil es im Kontext des Umgangs mit Islamophobie und der öffentlichen Darstellung der muslimischen Community bisweilen schwieriger ist, diese sehr realen Themen zu thematisieren?

    Schwieriger für mich oder schwieriger für die Opfer? Für mich ist es überhaupt nicht schwer, weil ich das schon sehr lange mache. Ich habe es miterlebt, und ich habe die direkten Auswirkungen gesehen. Ich habe den Großteil meiner therapeutischen Praxis damit verbracht, mit Menschen zu arbeiten, die von der einen oder anderen Form von Missbrauch betroffen waren. Ich arbeite mit Erwachsenen und das sind Menschen, die als Kinder und als Jugendliche davon betroffen waren. Ich habe kein Problem damit, darüber zu sprechen.

    Ich habe viel interreligiöse Arbeit geleistet und deshalb läuft es für mich darauf hinaus, dass die Menschen einfach so sind, wie sie sind, egal ob sie Muslime oder Christen oder Juden oder Atheisten oder was auch immer sind. Ich denke, es ist wirklich wichtig, das zu verstehen. Die Täter werden jedes Mittel nutzen, um das zu erreichen, was sie erreichen wollen. Ob sie also eine Faust einsetzen, oder Beleidigungen, ob sie Drohungen einsetzen oder Schriften—, das ist alles nur eine Vielzahl von verschiedenen Kontrolltaktiken.

    Ich sehe das also nicht wirklich als ein spezifisch muslimisches Problem, und ich denke es ist wichtig, dass wir, wenn wir über Missbrauch sprechen, in keiner Weise suggerieren, dass es ein spezifisch muslimisches Problem sei.  Als ich anfing, mich mit interreligiöser häuslicher Gewalt zu beschäftigen, fiel mir auf, dass, wenn man nur den Namen der Glaubenstradition weglässt, alle das Gleiche sagen.

    Die spezifischen Schriften, die verwendet werden, sind natürlich unterschiedlich, weil wir verschiedene Bücher haben, aber die Konzepte, die die Menschen missbrauchen, sind die gleichen.

    Zum Beispiel ist der Gehorsam gegenüber dem Ehemann eine Lehre, die in den abrahamitischen Schriften zu finden ist. Jeder hat seinen Vers, der aus dem Zusammenhang gerissen, missbraucht oder zum Vorteil des Täters eingesetzt werden kann. Ich finde es also nicht schwierig, darüber zu sprechen.

    Ich denke, dass die Opfer es schwer finden, darüber zu sprechen, weil wir als Muslime alle sehr darauf getrimmt sind, uns auf bestimmte Dinge zu fixieren. Wenn sich also jemand über das Fehlverhalten eines Elternteils beschwert, dann lautet die Antwort fast reflexartig: „Das sind deine Eltern. Du musst Erbarmen mit ihnen haben. Du musst nett zu ihnen sein.“ Ich denke, dass es unserer Community generell schwer fällt zu hören, dass Menschen, zu welchen wir aufschauen und auf die wir hören sollen, Grenzen verletzt haben – ob es nun Geistliche oder Eltern oder Großeltern oder Onkel sind. Wir haben viel Respekt vor Älteren, viel Respekt vor Wissenden, und deshalb fällt es den Leuten manchmal schwer, zu hören, wenn diese Personen die Grenzen überschritten haben. Wir überbewerten (ich war früher Lehrerin in der Sonntagsschule, also wenn ich sage „wir“, bin ich ein Teil dieses „wir“). Wir können die Bedeutung der Verantwortung des Kindes gegenüber den Eltern überbewerten und die Verantwortung der Eltern gegenüber ihren Kindern wirklich unterbewerten.

    Das Recht des Kindes kommt eigentlich vor dem Recht der Eltern, aber ich glaube nicht, dass wir als muslimische Gemeinschaft das typischerweise so lehren. Wenn also Kinder missbraucht oder misshandelt werden, sei es seelischer oder eine andere Form des Missbrauchs, dann ist es wirklich schwer, darüber zu sprechen, weil man irgendwie seine Eltern verrät, wenn man darüber spricht oder es meldet. Und auch rein konzeptionell kann es schwer sein, zu erkennen, wenn man missbraucht wird.

    Als Kind denken wir, dass unsere Eltern die Besten sind und deshalb „muss ich, das Kind, der Falsche sein.“ Diese Denkweise wird durch unsere Großfamilien und Gemeinschaften verstärkt, wonach es das Kind sein muss. Das ist nur ein weiteres Beispiel für das Victim-Blaming, welches die Opfer auch als Erwachsene erleben, wenn ihnen gesagt wird: „Du bist schuld.“ „Wie könnte es diese andere Person sein (die Eltern, der geistliche Leiter, der was auch immer…), es musst du sein.“

    Lassen Sie uns über das Thema des spirituellen Missbrauchs sprechen, wenn er von Geistlichen ausgeht. Inwiefern ist das anders als das, was in Familien passiert?

    Es geschieht dadurch, dass unsere Geistlichen in einer Vertrauensposition sind. Wir vertrauen darauf, dass sie unsere Lehren repräsentieren und vertrauen darauf, dass sie diese nicht nur in der Art und Weise repräsentieren, wie sie sie lehren, sondern auch in der Art und Weise, wie sie sie leben, und in der Art und Weise, wie sie mit uns umgehen. Wenn wir jemandem unser Vertrauen schenken und er eine Grenze verletzt, entsteht ein Gefühl des Verrats, der Verwirrung, der Selbstzweifel und der Unsicherheit, was zu tun ist.

    Ein Teil des Missbrauchs ist nicht wirklich greifbar. Es ist nicht unbedingt so, dass ein Geistlicher jemanden geschlagen oder gekniffen hat. Es ist sehr schwer zu messen, oft ist es ganz subtil. Wenn z.B. eine Frau nach einer Scheidung eine Beratung bei einer religiösen Autorität in Anspruch nimmt oder sich in einem Scheidungsprozess befindet und sich extrem verletzlich fühlt und sie sich an diese Person wendet, um begleitet und beraten zu werden und moralische Unterstützung zu bekommen, und er ihr in diesem Moment der Verletzlichkeit anbietet, sie zu heiraten, kann das ein echter Missbrauch ihres Vertrauens sein. Diese Art von Situation ist so häufig, und ich erlebe sie schon seit 20 Jahren, seit ich Therapeutin bin.

    In diesem Moment der Verletzlichkeit hat der religiöse Führer mehrere Grenzen überschritten. Er nutzt eine Person aus, die sich in einem extrem verletzlichen Zustand befindet und ihm vertraut, um eine wirklich gute Beratung zu bekommen. Und diese „wirklich gute Beratung“ lautet: „Ich werde dich heiraten und dich vor all dem retten, ich werde mich um dich kümmern.“ Leider fallen viele Frauen tatsächlich darauf herein, weil sie irgendwie verzweifelt sind und jemanden suchen, der sich um sie kümmert und es besser macht. Und so ist das Timing falsch. Oft sind diese Männer bereits verheiratet, und zumindest in den USA ist es gegen das Gesetz, sich eine zweite Frau zu nehmen, und auch in Kanada.

    Und so gibt es jetzt naturgemäß eine weitere Ebene des Betrugs, weil sie eine heimliche Ehefrau sein wird, sie wird absolut keine Rechte haben, egal in welchem Staat sie lebt. Wenn dieses religiöse Oberhaupt jetzt ihr Ehemann ist und 5 Minuten später oder am nächsten Tag oder nach einem oder zwei Kindern stirbt, sitzt sie wirklich fest, weil es kein Erbe gibt. Es gibt keine Rechte, die sie einfordern kann. Und wenn er sie körperlich missbraucht oder irgendetwas anderes passiert, sitzt sie wieder fest. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass ein islamischer Ehevertrag öffentlich mit Zeugen geschlossen werden muss. Es gibt also mehrere Verstöße, die nur in diesem einen Szenario passieren können, und das ist ein sehr häufiges Szenario.

    Es gibt auch noch andere Möglichkeiten, wie ein religiöses Oberhaupt seinen Einfluss missbrauchen kann. Ich sage „seinen“, weil die meisten unserer Führungspersonen männlich sind. Aber es gibt auch weibliche Führungspersonen, die ihre Macht ebenfalls missbrauchen können.

    Nehmen wir ein anderes Szenario, das leider häufig vorkommt. Eine Frau ist mit einem Imam oder einem angesehenen geistlichen Führer in der Gemeinde verheiratet. Was kann sie tun, wenn sie von ihrem Mann missbraucht wird? Wohin kann sie gehen? Ihr Mann wird sagen: „Ich bin der Imam. Ich bin derjenige, der sich hier auskennt. Wer bist du, dass du das anfechtest und wer wird dir glauben, wenn du dich beschwerst?“ Es gibt also Situationen schwerer körperlicher Misshandlung, in denen die Frau das Gefühl hat, dass sie sich an niemanden wenden kann, weil ihr niemand glauben wird. Er hat sie davon überzeugt, dass, wenn sie versuchen würde, Hilfe zu bekommen, ihr niemand glauben würde, niemand sie akzeptieren würde. Dazu kommt noch die religiöse Autorität, die dieser Mann in der Gemeinde hat, was den Missbrauch im Grunde nur noch weiter verkompliziert. Es fügt einfach eine weitere Ebene hinzu, die es noch schwieriger macht und die Beziehung dieser Frau zu Allah (swt) beeinträchtigen kann.

    Ob Sie nun ein Gemeindemitglied sind und sich an Ihren religiösen Leiter oder Imam wenden, oder ob es sich um ein Familienmitglied eines Imams handelt – wenn die religiöse Ebene mit der Grenzverletzung oder dem körperlichen Missbrauch oder was auch immer vermischt wird, fangen die Menschen an, das mit dem Islam, mit Allah (swt) zu assoziieren. Und dann haben sie oft eine große spirituelle Krise, die von der Infragestellung des Islams bis zum Verlassen des Glaubens insgesamt reichen kann. Manchmal verlassen sie ihn vorübergehend für ein paar Jahre, manchmal verlassen sie ihn für immer. Ich habe das schon oft erlebt. Ich habe Klienten, die Missbrauch durch einen religiösen Führer, Koranlehrer, Scheikh, Halaqa-Leiter usw. erlebt haben. Ich habe andere Therapeuten mit muslimischem Hintergrund kennengelernt, die diese Formen des spirituellen Missbrauchs erlebt haben, so dass sie absolut kein Vertrauen in unsere Gemeindeleiter mehr haben und absolut kein Interesse daran, Muslimen zu helfen.

    Sollten wir vorsichtiger sein, wie sehr wir religiösen Führern vertrauen, besonders wenn sie keine Strukturen haben, die sie zur Verantwortung ziehen?

    Ich habe keine Lösung und ich denke, dass es mehrere Bereiche gibt, die wir anpacken müssen. Einer davon ist, selbstbewusstere und kompetentere einzelne Muslime aufzubauen, die zumindest die grundlegenden Prinzipien des Islams verstehen und die genug Selbstvertrauen haben, um zu erkennen, dass es falsch ist, wenn es sich falsch anfühlt.

    Wir müssen Räume schaffen, in denen die Menschen sagen können: „Ich hatte gerade diese Erfahrung, die sich wirklich falsch anfühlt“, und in denen wir dann helfen können, herauszufinden, was passiert ist. Aber wenn wir den Leuten nicht erlauben zu sagen: „Das fühlt sich komisch an“, dann können wir ihnen nicht helfen, herauszufinden, was an ihrer Erfahrung komisch ist. Wir werden alle mit einer Fitrah geboren, dieser Art von angeborenem Wissen darüber, was falsch und was wahr und was gut ist. Wir müssen lernen, darauf zu vertrauen. Ich sage nicht, dass jeder Muslim Hadithe und Verse interpretieren und das überall posten soll. Das will ich damit nicht sagen. Ich spreche davon, dass man in der Lage sein muss, sich selbst zu vertrauen, seinem Bauchgefühl zu trauen und sich frei zu fühlen, zu sagen, wenn jemand, selbst wenn es eine religiöse Führungspersönlichkeit ist, einem ein unangenehmes Gefühl gibt.

    Ich denke, wenn wir Menschen zum Schweigen bringen, unterdrücken wir sie. Sobald Menschen keine Stimme haben, werden sie unterdrückt, und das ist völlig unislamisch.

    Das andere Problem, das wir in unserer heutigen Gesellschaft haben, ist der Raum, den wir wählen, um uns zu äußern, was ist das Forum? Wenn wir also nicht mit unseren Eltern reden können, nicht mit unseren Lehrern und mit niemandem im Privaten… nun, jetzt haben wir diesen großen öffentlichen Raum, die sozialen Medien, wo wir darüber reden können, und das ist meiner Meinung nach sehr schädlich.

    Ich denke, es ist wirklich wichtig für Eltern, Beziehungen zu pflegen, in denen ihre Kinder mit ihnen sprechen können. Oder in denen sie eine vertrauenswürdige Person finden, einen vertrauenswürdigen Erwachsenen, mit dem sie sprechen können, wenn die Kinder nicht mit ihren Eltern sprechen wollen, und bei der die Eltern darauf vertrauen können, dass sie von dieser dritten Partei gute Ratschläge bekommen.

    Wenn wir im Grunde alle diese sicheren Räume schließen, gibt es keine mehr. Jetzt fühlen sich die Leute nur noch sicher, wenn sie online anonym sind, und das ist eigentlich ein ganz anderes Katastrophengebiet, das wir haben. Wir müssen also nicht nur uns selbst vertrauen, sondern wir müssen den Menschen auch die Grundlagen des Islams vermitteln. Und mit den Grundlagen des Islams meine ich Werte wie Gerechtigkeit, Freiheit von Unterdrückung, Ehrlichkeit, Integrität, Freundlichkeit… Sie kennen diese grundlegenden Charaktereigenschaften, denn wenn jemand ungerecht handelt, können wir das benennen.

    Im Islam geht es um Grenzen, Richtlinien und richtiges Verhalten, also haben wir all das. Ich bin mir nicht wirklich sicher, warum es für uns problematisch ist, junge Menschen in jedem Alter zu befähigen, sich selbst zu vertrauen und darauf zu vertrauen, dass Allah nicht will, dass ihnen etwas Schädliches widerfährt.

    Bei spirituellem Missbrauch, wenn er nicht in Form von körperlichem oder sexuellem Missbrauch stattfindet, wissen die Leute oft nicht, wie sie erkennen sollen, dass es Missbrauch ist. Es ist nicht greifbar, aber denken Sie, dass es für unsere Gemeinden wichtig ist, die Auswirkungen zu verstehen, weil es, wie Sie sagten, Menschen dazu bringen kann, den Islam zu verlassen und sich von Muslimen zu distanzieren?

    Ich denke, es ist entscheidend. Ich denke, es gibt viele Dinge in dem, wie wir unsere Religion lehren, die eindeutig falsch sind und nicht immer körperliche Formen des Missbrauchs darstellen.

    Der Koran (58:2) beschreibt die alte arabische Praxis, dass Männer zu ihren Frauen sagten: „Du bist wie der Rücken meiner Mutter.“ Sie verletzen sie nicht körperlich, aber sie lassen sie in dieser Position, dass sie nicht mehr wirklich seine Frau ist. Sie ist wie seine Mutter in dem Sinne, dass es keine sexuell intime Beziehung zwischen ihnen geben kann. Es ist eine Form des emotionalen Missbrauchs. Es ist zutiefst verletzend, und es ist verboten.

    Es gibt eine Menge solcher Dinge. Surat Al Hujarat (49:11) verbietet uns, Leute zu beschimpfen, denn auch wenn wir diese Person nicht berührt haben, haben wir ihre Gefühle verletzt, und die Gefühle von Menschen zu verletzen, ist verboten. Es gibt einen Vers im Koran darüber, also ist es nicht so, dass wir überdramatisieren und die Leute eine dicke Haut entwickeln und darüber hinwegkommen müssen. Sensibel mit diesen Themen umzugehen, ist Teil unserer Religion.

    Es ist eine sehr klare Lehre, die speziell für Männer und Frauen gilt, dass sie sich nicht gegenseitig verspotten, beschimpfen, verleumden, spionieren oder misstrauisch sein sollen (49: 11-12). Diese Verse benennen mehrere Formen des Missbrauchs. Misstrauisch zu sein ist etwas ziemlich Ungreifbares, und es ist verboten. Etwas muss nicht messbar oder quantifizierbar sein, damit es verboten ist.

    Bezüglich des Bewahrens von Geheimnissen: Wenn Sie mir z.B. erzählen, dass Ihnen etwas Schreckliches passiert ist oder Sie mir ein Geheimnis über sich erzählen, muss ich dieses Geheimnis bewahren. Das nennt man „Vertrauen bewahren“. Aber wenn ich Ihnen etwas antue, was sich wirklich schlecht anfühlt, und ich Ihnen sage, Sie sollen es für sich behalten, ist das nicht in Ordnung. Das ist ein Warnsignal. Ich möchte also sicherstellen, dass wir den Leuten nicht erzählen, dass alle Geheimnisse schlecht sind. Manchmal hat man ein Vertrauen, wenn man in einer Firma arbeitet und es gibt vertrauliche Informationen, dann müssen wir diese Art von Geheimnissen bewahren. Aber wir müssen nicht die Art von Geheimnis bewahren, die jemand uns angetan hat, das sich schlecht anfühlt.

    Das unglückliche Irrtum, der uns beigebracht wird, besteht darin, die Fehler der anderen zu verstecken. Also vielleicht bete ich meine 5 Gebete nicht pünktlich oder vielleicht habe ich die Angewohnheit, manchmal Alkohol zu trinken. Das muss man nicht jedem erzählen, weil es niemanden sonst beeinträchtigt. In der Tat, wenn du es jetzt anderen Leuten erzählst, hast du etwas falsch gemacht, denn du sollst meine Fehler bedecken. Aber wenn die Fehler von jemandem schädlich und verletzend für andere sind, andere unterdrücken, dann sind wir beauftragt, darüber zu sprechen (4:135).

    Wir schauen uns zum Beispiel den Bereich der Verleumdung an. Wir sollen nichts Schlechtes über andere Menschen sagen, auch wenn es wahr ist, aber es gibt gewisse Ausnahmen. Wenn du heiraten willst und dieser Kerl dir einen Antrag macht und ich kenne ihn zufällig sehr gut und weiß, dass er einen schweren Makel hat, bin ich verpflichtet, es dir zu sagen. Der Prophet Muhammad (Friede sei mit ihm) sagte Fatima bint Qais über jemanden, der ihr einen Heiratsantrag machte, dass er dafür bekannt war, Frauen zu schlagen (Muslim, Buch 9, #3526). Wenn es einen potentiellen Schaden gibt, insbesondere Unterdrückung oder Ungerechtigkeit, müssen wir es aussprechen. Es ist dann falsch, es zu verschweigen. Natürlich müssen wir weise entscheiden, wo wir unsere Stimme erheben. Wir sollten immer die am wenigsten invasive Art wählen, um etwas anzusprechen.

    Was sollte man tun, wenn jemand mit einer Anschuldigung auf einen zukommt?

    Das allererste ist, das Schweigen zu brechen, das heißt also, jemanden zu finden, der eine gewisse Expertise davon hat, was vor sich geht. Wenn Sie also denken, dass es sich um spirituellen Missbrauch handelt, dann suchen Sie jemanden, der verstehen kann, was Sie beschreiben und der Ihnen helfen kann, herauszufinden, ob es sich um Missbrauch handelt oder ob es sich um ein Missverständnis oder etwas anderes handelt. Manchmal sind Menschen, die in der Vergangenheit missbraucht worden sind, sehr leicht zu triggern und können durch etwas getriggert werden, das nicht missbräuchlich ist. Sie können durch einen Geruch, ein bestimmtes Geräusch oder eine Bewegung getriggert werden. Es gibt also viele Gründe, warum es wichtig ist, mit jemandem zu sprechen, der Erfahrung hat. Egal, ob es sich um einen Psychologen oder einen Anwalt für häusliche Gewalt handelt, suchen Sie jemanden, der sich mit dem Thema Missbrauch auskennt.

    Es ist wirklich wichtig, zu Beginn davon auszugehen, dass jemand die Wahrheit sagt, und im weiteren Verlauf der Geschichte eventuell festzustellen, dass das nicht der Fall ist. Aber die Realität ist, dass die meisten Menschen, die sich melden, einen harten Prozess durchmachen müssen, bis sie sich melden. Es ist so schwer für sie, sich zu melden, dass die Zahl derer, die sich Geschichten ausdenken, ziemlich klein ist. Ich habe auch mit einigen dieser Leute gearbeitet, aber in den 20 Jahren, in denen ich mit Tausenden von Menschen gearbeitet habe, kann ich die Anzahl der Geschichten, die komplett erfunden waren, an einer Hand abzählen.

    Eine Person mit einer gewissen Expertise kann das herausfinden, also ist es wirklich wichtig, Leute zu identifizieren, die vertrauenswürdige Experten sind. Wenn ich denke, dass ich einen Herzinfarkt habe, werde ich das nicht meinem Nachbarn erzählen. Ich werde zum Arzt gehen. Und wenn ich denke, dass ich spirituell missbraucht werde, muss ich das auch nicht meinem Nachbarn sagen. Ich kann es, aber es ist vielleicht nicht hilfreich. Der erste Schritt ist also, eine Art von professioneller Beratung aufzusuchen und je nach der Art des Geschehens zu entscheiden, was die nächsten Schritte sind. Manche Dinge sind geeignet, um sie der Polizei zu melden, mit manchen Dingen hat die Polizei nichts zu tun. Wenn Ihnen jemand einen unangemessenen Heiratsantrag gemacht hat, ist das nicht unbedingt eine Straftat, also kann die Polizei nichts dagegen tun. Aber dann gibt es vielleicht einen Moschee-Vorstand, dem man dieses Verhalten melden sollte.

    Was die Lösungen angeht, brauchen wir definitiv mehr Aufsichtsbehörden. Wir haben nicht viele Aufsichtsgremien mit Fachwissen in diesen Fragen für unsere religiösen Organisationen. Das ist etwas, was wir dringend, ganz dringend brauchen.

    Es muss eine Rechenschaftspflicht geben. Wir alle, alle Fachleute, haben Aufsichtsbehörden, denen gegenüber wir rechenschaftspflichtig sind. Zum Beispiel gibt es in jedem Staat eine Aufsichtsbehörde für psychisch Kranke. Wo immer Sie zugelassen sind, gibt es eine Behörde. Wenn sich ein Klient über mich beschwert, schickt er die Beschwerde an die Behörde und die Behörde wird eine Untersuchung durchführen. Jeder Beruf hat irgendeine Art von Regulierungsbehörde oder Aufsichtsgremium. Aber im Moment haben wir so gut wie nichts für Imame, Scheikhs und Religionspädagogen. Ich kann heute erklären, dass ich jetzt die prominente religiöse Autorität zu X bin und mich dort hinstellen, obwohl ich nichts studiert habe, was mich qualifizieren würde, das zu sagen, aber ich könnte es tun. Ich meine, das kann überall passieren. Es passiert auch in anderen Berufen, z.B. bei Leuten, die sich als Quacksalber aufspielen, aber weil es Aufsichtsbehörden gibt, ist es einfacher, jemanden zu Fall zu bringen. Wenn es kein Gremium gibt, dann heißt es „diese Gruppe von Individuen gegen diese bestimmte Person“.

    Wir haben bei diesem Thema wirklich noch so viel Arbeit vor uns. Ich schätze es, dass MuslimLink.ca das Thema des spirituellen Missbrauchs aufgreift. Für mich ist es unnötig, dass Menschen auf diese Weise leiden müssen. Teil des spirituellen Missbrauchs ist es, den Menschen das Gefühl zu geben, dass sie sich alles nur eingebildet haben. Im Laufe der Jahre haben mir so viele Menschen gesagt: „Ich muss einfach wissen, dass ich mir das nicht eingebildet habe. Was mir passiert ist, ist wirklich falsch.“ Manchmal ist das alles, was sie hören müssen.

    Quelle des Originaltexts: https://muslimlink.ca/stories/muslim-spiritual-abuse-salma-abugideiri

  • Blogreihe: Islam und Psychologie – Gegenstand und Geschichte – Teil 22

    Kritische Würdigung: Klinischer Fokus und Darstellung des Westens

    Klinischer Fokus

    Es ist auffallend, dass anwendungsorientierte Arbeiten muslimischer Autoren fast ausschließlich klinischer Natur sind, wobei die klinische Psychologie allerdings nur ein von vielen möglichen Anwendungsbereichen darstellt. Trotz vieler wichtiger Fragestellungen werden grundlagenwissenschaftliche Erkenntnisse nur für den klinischen Bereich genutzt. So sind muslimische Psychologen unter anderem im Bereich der Forensik gefordert, wenn es im islamischen Recht z. B. um die Beurteilung der Schuldfähigkeit oder der Glaubwürdigkeit von Zeugen geht und eine islamischpsychologische Expertise unabdingbar ist (siehe auch: Mohamad, A.B., 2010). Daher wird es zukünftig nicht nur darum gehen, den Islam hinsichtlich seines psychologischen Inhaltes zu untersuchen und Erkenntnisse der Grundlagenforschung auch  in nicht-klinische Anwendungsbereiche zu tragen, sondern psychologisches Wissen auch für die islamische Glaubenspraxis nutzbar zu machen.

    Für die starke klinische Orientierung der gegenwärtigen Islam und Psychologie- Strömung können mehrere Faktoren verantwortlich gemacht werden. So ist nicht nur die Medizin, sondern auch die Psychologie in ihren klinischen Fächern letztlich eine anwendungsorientierte Wissenschaft, die sich um Menschen in medizinischen und psychologischen Notlagen kümmert und die Linderung ihrer Beschwerden zum Ziel hat. Daher sehen sich besonders Kliniker und Therapeuten in der Pflicht, für ihre muslimischen Patienten angemessene Therapien zu entwickeln, die nicht nur deren spirituelle und religiöse Bedürfnisse ausreichend berücksichtigen, sondern auch gleichzeitig fest im Islam verwurzelt sind. Dies umso mehr, als viele säkulare Modelle Spiritualität und Religion und damit auch die islamische Lebensweise nicht ausreichend berücksichtigen, die im Islam jedoch eine zentrale und ungleich höhere Bedeutung als z. B. im Christentum besitzt. Des Weiteren verfügen die meisten Kliniker nicht über eine umfassende Ausbildung in den islamischen Wissenschaften inklusive der Philosophie, die zur Entwicklung theoretisch fundierter psychologischer Konzepte erforderlich wäre. Außerdem fehlt ihnen dadurch die Expertise, westliche bzw. moderne wissenschaftliche Konzepte aus einer islamischen Perspektive differenziert zu beurteilen. Da es andererseits den Theologen und Rechtsgelehrten an einer wissenschaftlichen medizinischen und psychologischen Ausbildung mangelt, wird angesichts des komplexen Gegenstands auf Dauer nur eine intensive interdisziplinäre Zusammenarbeit zu befriedigenden Ergebnissen führen.

    Darstellung des Westens und der westlichen Psychologie

    Angesichts des Fehlens einer klar umrissenen Definition einer islamischen Psychologie und ihrer wissenschaftstheoretischen Grundlagen wird die Diskussion um eine islamische Psychologie stark von der Betonung der Grenzen und damit von dem bestimmt, was sie nicht ist: nämlich „westlich“. Eine genauere Beschreibung oder gar Definition dieser „westlichen Psychologie“ bleibt allerdings aus. Bei aller erforderlichen kritischen Würdigung „westlicher“ theoretischer Positionen werden in teilweise grotesker Unkenntnis wesentlicher Fakten Zusammenhänge und Entwicklungslinien konstruiert, die selbst grundlegenden wissenschaftlichen Ansprüchen nicht genügen. So sieht Rashid Hamid (1977, in diesem Band) die Wahrnehmung des Menschen als Statthalter Gottes dadurch gefährdet, dass sich nach Darwin der Mensch aus dem Affen entwickelt habe, auch habe nach Shah die Verwendung eines säkularen Wissenschaftsansatzes zu schwulen und lesbischen Ehen, vorehelichem Sex, Altersheimen und ähnlichen Problemen geführt. Die westliche Psychologie sei verantwortlich für die Anlage-Umwelt-Kontroverse (Abdullah, 2011) und ist vollständig „von der westlichen gottlosen Weltanschauung des säkularen Humanismus beeinflusst“ (Badri, 2012, S. 5, in diesem Band).

    Die Einseitigkeit der Wahrnehmung der westlichen Gesellschaft und Wissenschaft als vermeintlich materialistisch und gottlos führt dazu, dass bei aller berechtigten Kritik aus islamischer Perspektive viele muslimische Forscher das Kind mit dem Bade ausschütten und interessante und brauchbare Ansätze für die eigene Arbeit nicht fruchtbar machen können. So greifen viele Autoren ausschließlich auf die Gründer der großen Schulen zurück, insbesondere auf Sigmund Freud und B.F. Skinner, und vernachlässigen die Entwicklungen der Folgezeit, die sich selbst als Paradigmenwechsel verstehen wie die Selbstpsychologie oder die Objektbeziehungstheorie (Santer, 2003), die aus einer islamischen Perspektive viele Anregungen bereithalten (Rüschoff & Kaplick, 2018). Die Kritiker übersehen außerdem, dass in den letzten Jahren die Themen Religion und Spiritualität in den USA und zunehmend auch in Europa und speziell in Deutschland auf zunehmendes Interesse stoßen und diese vermehrt in die Theoriebildung und die Behandlungspraxis einbezogen werden (Utsch, 2005; Utsch et al., 2017).

    Die teilweise pauschale Ablehnung und vorurteilsbehaftete Wahrnehmung aller westlichen Psychologie lässt sich zwar vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen und dem Gefühl einer Vereinnahmung durch den Westen mit seinen Universalisierungsansprüchen nachvollziehen, beruht jedoch auch auf einem zu engen Verständnis von Islam, welches häufig nur das gelten lässt, was direkt aus Qur’an und Sunna, den islamischen Primärquellen, zu belegen bzw. ableitbar ist. So beschreibt Moughrabi (2000, S. 367, in diesem Band) die Arbeit muslimischer Psychologen größtenteils als Versuch aufzuzeigen, „dass der Qur’an und die Hadithe wichtige und vollständige Repositorien psychologischer Theorie sind, die muslimischen Gesellschaften nutzbringender als die westliche Psychologie sind“. Tariq Ramadan vertritt dagegen eine andere, weitere Perspektive, wenn er feststellt, dass es zwar nur einen Islam gibt, die Muslime aber die aktuellen Bedingungen ihrer Gesellschaften berücksichtigen müssen und deren Errungenschaften nicht einfach ablehnen dürfen (Ramadan, 2001). „Im Bereich der sozialen Angelegenheiten (mu’âmalât) sind alle Mittel oder Instrumente, Traditionen, Künste oder Bekleidungen, die nicht an sich oder durch den Gebrauch, der von ihnen gemacht wird, in Widerspruch zu islamischen Geboten stehen, nicht nur annehmbar, sondern per definitionem islamisch“ (Ramadan, 2001, S. 245 f.). Diese Position war die meiste Zeit der islamischen Geschichte Orientierung für die Muslime (Bauer, 2011), nur so konnte der Islam zu einer Weltreligion werden und die unterschiedlichsten Kulturen von der iberischen Halbinsel bis Indonesien integrieren. Diese Auffassung lässt auch für einen europäisch geprägten Islam genügend Spielraum und für eine Integration seiner Wissenschaftskultur, die islamischem Geist entspricht.

    Interner Diskurs

    Überblickt man die vorhandene Literatur zum Thema, so fällt auf, dass viele Beiträge sowohl die Arbeit früher muslimischer Gelehrter als auch die existierende  aktuelle Literatur zum Thema nicht berücksichtigen. Das führt zu ständigen Wiederholungen grundsätzlicher Positionen wie z. B. der Haltung gegenüber den unterschiedlichen Menschenbildern von westlicher Wissenschaft und im Islam oder bzgl. Aussagen zur menschlichen Natur aus islamischer Perspektive, ohne dass auf bestehende Literatur Bezug genommen wird.

    In der Gesamtsicht müssen die wissenschaftlichen Standards in Arbeiten zu Islam und Psychologie deutlich verbessert werden. So sind z. B. Vahab (1996b, in diesem Band) und S.H. Khan (1996, in diesem Band) aus historischen Gründen und nicht aus Gründen wissenschaftlicher Qualität in diesem Sammelband vertreten. Im Vergleich zu diesen Arbeiten sind neuere Beiträge bereits qualitativ hochwertiger, jedoch muss diese Entwicklung weiter bestärkt werden. Eng damit verbunden ist die Tatsache, dass in der Literatur keinerlei Beiträge zu finden sind, die sich kritisch mit der Qualität und thematischen Ausrichtung der Literatur auseinandersetzen.

    Festzustellen ist ferner, dass die bestehende Literatur die Diversität der islamischen Community weltweit widerspiegelt. Viele Arbeiten sind auf der Grundlage von islamischer Mystik oder aus der Perspektive der Shi’a entstanden (z. B. Dasti & Sitwat, 2014, in diesem Band; Keshavarzi & Haque, 2013; Maynard, 2008, in diesem Band; Skinner, 1989, 2010). Damit diese unterschiedlichen Herangehensweisen fruchtbar werden können und nicht als feindliche Landnahme abgelehnt werden, ist die geforderte Klarheit nicht nur in wissenschaftlicher, sondern auch aus islamischtheologischer Sicht von Bedeutung.

    In 2 Wochen widmen wir uns dem Ausblick.

    Über diese Blogreihe

    Nachdem wir uns im IASE Blog bereits den Themenfeldern „Die Terra Incognita der islamischen Psychologie“ und den „Instituten und Vereinigungen muslimischer Psychologen“ zugewandt haben, beschäftigen wir uns in dieser Blogreihe detaillierter mit der Literatur zum Thema islamische Psychologie in ihrer geschichtlichen Entwicklung und ihrem Gegenstand. Diese Blogreihe erscheint alle zwei Wochen am Sonntag. Die Inhalte sind aus der theoretischen Einführung in den Sammelband „Islam und Psychologie – Beiträge zu aktuellen Konzepten in Theorie und Praxis“ entnommen, der zum Beispiel hier erhältlich ist. Darin findet Ihr auch ein Literaturverzeichnis für die verwendeten Quellen.

  • Blogreihe: Islam und Psychologie – Gegenstand und Geschichte – Teil 21

    Kritische Würdigung: Wissenschaftstheorie und Methodik

    Abgesehen von einzelnen Arbeiten aus den 1960er Jahren wird eine intensive Diskussion um den Themenkomplex Islam und Psychologie weltweit jetzt seit gut 40 Jahren geführt. Beim Überblick über die publizierte Literatur und den Diskussionsstand muss man allerdings konstatieren, dass die Diskussion um Islam und Psychologie und der Versuch, eine indigene Psychologie des Islam bzw. eine Psychologie auf einer islamischen Grundlage zu entwickeln, noch tief in Kinderschuhen steckt und erst am Beginn seiner Entwicklung steht. Berücksichtigt man die Diversität der Kulturen, in denen der Islam als Weltreligion im Laufe seiner Geschichte heimisch geworden ist und die enge Verbindung psychologischer Fragestellungen mit diesen Kulturen (Stellung des Individuums, angemessenes vs. abnormes Verhalten, Sozialisationsbedingungen, Konfliktlösungsmodelle, Erziehungsvorstellungen, Partnerschaftsmodelle u. v. m.), ist es nahezu unvermeidlich, dass hier unterschiedlichste Vorstellungen von Psychologie, ihrem Charakter als Wissenschaft, ihren Grundlagen und Zielen aufeinander treffen. Erschwert wird die Situation zusätzlich noch durch den Anspruch, Psychologie mit der Religion zu verbinden, womit die Frage nach der Wahrheit und Absolutheitsansprüchen in die Diskussion eingeführt wird.

    Islamische Quelltexte als Axiome – wissenschaftstheoretische Aspekte

    Aus der Perspektive der Religionspsychologie ist für die Mehrheit der bisher erschienenen Arbeiten der Islam und Psychologie-Strömung festzustellen, dass die Autoren überwiegend aus einer theologischen Perspektive heraus agieren. Es wird eine religiöse Grundhaltung eingenommen und diese sowie die islamischen Quelltexte als Axiome in die Diskussion eingeführt. Möglicherweise haben deren Fragestellungen aber keine oder nur eine geringe Relevanz für den eigentlichen psychologischen Gegenstand des Diskurses (Kaplick, 2018). Dies verdeutlicht das dringende Erfordernis der Klärung  der wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen und des Verhältnisses von Religion (Islam) und Wissenschaft (Psychologie), die auch in der religionspsychologischen Forschung lange Zeit nicht ausreichend erfolgte (Utsch, 1998). „Eine Vermischung der für diese beiden Bereiche streng zu trennenden, wissenschaftstheoretisch begründeten Vorgehensweisen führt zu Unstimmigkeiten, Einschränkungen und/oder Überschreitungen des psychologischen Gegenstandes, der dazugehörigen Theorie und Forschungsmethode“ (Utsch, 1998, S. 48). So kritisieren Dasti und Sitwat zwar die Abänderung verschiedener Fragen ihrer Untersuchung unter pakistanischen Studenten durch Religionsgelehrte wegen ihres vermeintlich anstößigen oder glaubensschädigenden Charakters, sehen diese jedoch im Zusammenhang mit den speziellen kulturellen Voraussetzungen in Pakistan und schränken die Aussagefähigkeit der Arbeit entsprechend ein (Dasti & Sitwat, 2014, in diesem Band). Sebastian Murken, ein deutscher, nichtmuslimischer Religionspsychologe, stellte daher in der Diskussion mit Shah die Frage, ob es angesichts derart unterschiedlicher Ausgangspositionen muslimischen Forschern überhaupt möglich sei, mit anderen zusammenzuarbeiten, die den islamischen Rahmen nicht teilen (Murken & Shah, 2002, in diesem Band). Shah vertritt eine klare Rangfolge innerhalb eines islamischen Untersuchungsrahmens, an deren erster Stelle der Qur’an steht, gefolgt von Sunna, Ijma (Konsens der Gelehrten) und Qijas (Analogieschluss im Rahmen des islamischen Rechts), wobei für ihn ausschließlich die letzte Methode mit wissenschaftlicher Untersuchung nach westlichem Verständnis gleichzusetzen ist. Sogar der Konsens der Gelehrten (Ijma) wird als Axiom behandelt und nicht kritisch hinterfragt. Murken dagegen vertritt als Religionspsychologe das bereits 1903 vom Schweizer Psychologen Théodore Flournoy eingeführte Prinzip des Ausschlusses der Transzendenz (Murken & Namini, 2006), was bedeutet, dass sich „Religionspsychologie immer nur auf die psychologischen Aspekte des Religiösen beziehen kann; die Fragen nach der Wahrheit religiöser Vorstellungen und der Existenz religiöser Entitäten müssen ausgeklammert bleiben“ (Moosbrugger & Zwingmann, 2004, S. 11) und können bestenfalls im Rahmen einer religiösen/theologischen Psychologie behandelt werden. Vor diesem Hintergrund ist es wenig verwunderlich, dass in der Strömung keine nichtmuslimischen Stimmen zu vernehmen sind, die jedoch in Seminaren zur islamischen Psychologie erfahrungsgemäß wertvolle Beiträge liefern.

    Methodologie der Definitionen der islamischen Psychologie

    Auch über die wissenschaftliche Standortbestimmung hinaus wird in der Literatur deutlich, dass die vorliegenden Definitionen einer islamischen Psychologie keiner bestimmten Methodologie folgen, sondern in erster Linie von der Ausbildung der Autoren und der daraus folgenden Interessenlage bestimmt wird. Gerade weil sich z. B. in der Versorgung der Bevölkerung tätige Psychologen, Psychiater, Psychotherapeuten oder Berater, forensisch tätige Gutachter, theoretisch forschende Psychologen an Universitäten aus den unterschiedlichsten Disziplinen, aber auch Soziologen  Anthropologen, Religionswissenschaftler, islamische Rechtsgelehrte, Juristen usw. mit diesem Themenfeld auseinandersetzen, sind unterschiedliche Definitionen denkbar und wahrscheinlich. Aus diesem Grund muss auch die Methodologie deutlich gemacht werden, mit der eine Definition erarbeitet wird: welches Teilgebiet der Psychologie und des Islams wird vorwiegend berücksichtigt, welche Themen stehen dabei im Zentrum, auf welche Methoden wird zurückgegriffen und auf welcher Ebene (z. B. sozial- oder neuropsychologisch) wird dabei gearbeitet (York Al- Karam, 2017)? Um diese vielschichtige Situation zu strukturieren und einer Klärung der Frage näherzukommen, was eine islamische Psychologie ist, schlägt z. B. Carrie York Al-Karam für das voraussichtlich im April 2018 stattfindende Seminar Islamic Psychology: Defining a Discipline-Seminar des Research Centre for Islamic Legislation and Ethics (CILE) in Qatar vor, in einem ersten Schritt auf das Multilevel Interdisciplinary Paradigm als methodologisches Hilfsmittel aus der Psychologie der Religion und Spiritualität zurückzugreifen (Paloutzian & Park, 2005, 2013).

    Psychologische Fachterminologie

    Die Literatur zeigt weiter, dass sich die Autoren tendenziell wenig an wissenschaftlicher Fachterminologie und psychologischer Nomenklatur orientieren (z. B. Mohamed, 1995, in diesem Band; Abdul Razak, M.A., 2011). Dies ist bei der häufig geäußerten Kritik an westlicher Psychologie, aus der diese Nomenklatur stammt, zwar zu erwarten, führt aber zu einer Beliebigkeit, die eine Kommunikation über die Ergebnisse mangels Vergleichbarkeit erheblich erschwert. Der häufige Bezug auf die islamischen Quellen und die Werke früherer Gelehrter, die mangels Fehlens eines abgegrenzten Wissenschaftsbereiches Psychologie und der daraus folgenden speziellen Fragestellungen natürlich philosophisch-theologische Termini benutzten, führt weiterhin zu einer unscharfen Definition zentraler Begriffe wie Fitra usw., wie Hisham Abu-Raiya (2012, in diesem Band) an Abu Hamid Al-Ghazali kritisiert.

    In 2 Wochen setzen wir die kritische Auseinandersetzung fort und beschäftigen uns mit konkreten Inhalten.

    Über diese Blogreihe

    Nachdem wir uns im IASE Blog bereits den Themenfeldern „Die Terra Incognita der islamischen Psychologie“ und den „Instituten und Vereinigungen muslimischer Psychologen“ zugewandt haben, beschäftigen wir uns in dieser Blogreihe detaillierter mit der Literatur zum Thema islamische Psychologie in ihrer geschichtlichen Entwicklung und ihrem Gegenstand. Diese Blogreihe erscheint alle zwei Wochen am Sonntag. Die Inhalte sind aus der theoretischen Einführung in den Sammelband „Islam und Psychologie – Beiträge zu aktuellen Konzepten in Theorie und Praxis“ entnommen, der zum Beispiel hier erhältlich ist. Darin findet Ihr auch ein Literaturverzeichnis für die verwendeten Quellen.

  • Blogreihe: Islam und Psychologie – Gegenstand und Geschichte – Teil 20

    Zwischenfazit

    Muslimische Psychologen der Gegenwart können auf eine großartige psychologische Ideengeschichte in den Werken muslimischer Gelehrter zurückblicken. Über einen Zeitraum von 14 Jahrhunderten haben diese während der Blütezeit des Islams (9.–13. Jahrhundert), der sogenannten Phase des Niedergangs (14.–19. Jahrhundert) und während der Phase der Wiederbelebung (20./21. Jahrhundert) psychologische, psychotherapeutische und psychiatrische Themen bearbeitet. Grundlegende psychologische Ideen und Theorien sowie psychologische Behandlungspraxis standen dabei im Zentrum des Interesses. Insbesondere während der letzten 40 Jahre haben muslimische Psychologen in der englischsprachigen Literatur begonnen, auf diese Tradition zurückzugreifen und den Versuch unternommen, einen modernen Entwurf einer islamischen Psychologie zu erarbeiten. Ein solcher Versuch lässt sich in der arabischen Literatur bereits 30 Jahre vor der englischsprachigen Literatur vorfinden, eine Systematisierung steht jedoch noch aus.

    Die Gegenwartsliteratur wurde maßgeblich durch die prosperierende psychologische Wissenschaft im Westen stimuliert. Aus dieser Reaktion herauslassen sich zwei distinkte Stadien der Theorieentwicklung erfassen: Im Verlauf der 70er, 80er und 90er Jahre haben muslimische Psychologen vor allem ihren Standpunkt gegenüber der westlichen Psychologie definiert (Stadium der Identitätsfindung). Die Positionen reichen dabei von einer unkritischen Übernahme westlicher Theorien bis zur kompletten Ablehnung der wissenschaftlichen Psychologie und der Etablierung einer Theorie der menschlichen Natur ausschließlich auf Basis islamisch-religiöser Vorstellungen. Seit Mitte der 90er Jahre haben muslimische Psychologen begonnen, vermehrt an der Entwicklung eines eigenen Referenzrahmens für eine islamische Psychologie zu arbeiten (Stadium des Veränderungsanspruches). Dabei lässt sich eine tendenziell theoretisch-orientierte islamische Psychologie, die ihre Annahmen entscheidend aus den islamischen Quelltexten ableitet, von einer empirisch-orientierten islamischen Psychologie unterscheiden, die sich empirisch mit Muslimen beschäftigt. Auch lässt sich eine Position ausmachen, die beide Ansätze miteinander in Einklang bringt. Eine grundlegende Fragestellung während des weiterhin andauernden Stadiums des Veränderungsanpruches ist, was islamisch an einer islamischen Psychologie ist bzw. sein kann oder soll.

    Muslimische Psychologen haben einen thematisch und methodologisch breitgefächerten Literaturkorpus erarbeitet, in dem eine islamische Psychologie lediglich eine Arbeitslinie einer größeren intellektuellen Strömung darstellt, die sich als Islam und Psychologie-Strömung bezeichnen lässt. Diese Strömung umfasst sowohl grundlagenwissenschaftliche als auch anwendungsorientierte Arbeitslinien, die in den letzten Jahren vermehrt in die praktische Psychologie getragen werden konnten. Grundlagenwissenschaftlich spielt eine große Rolle, wie genau der Dialog zwischen islamischen und psychologischen Gegenstandsbereichen ablaufen kann. Weiterhin stehen islamisch-psychologische Schlüsselkonzepte wie Nafs, Qalb, ‘Aql, Ruh und Fitra und darauf basierende Persönlichkeitstheorien im Fokus der Aufmerksamkeit. Die anwendungsorientierte Literatur kann unterschiedlich konzeptualisiert werden; wir haben diese dreiteilig dargestellt in: islamischen Therapieformen und Beratungspraxis, kultursensiblen Ansätzen und Muslim Mental Health-Arbeiten. Inzwischen lässt sich weltweit eine wachsende Anzahl von universitären und klinischen Ausbildungsprogrammen verzeichnen, die sich auf die bisher stattgefundene Theoriearbeit beziehen, die aber dringend weiterer theoretischer, insbesondere wissenschaftstheoretischer Fundierung bedarf.

    Wir haben in diesem Buchkapitel versucht, die relevante Literatur für die verschiedenen Bereiche der Islam und Psychologie-Strömung systematisch darzustellen. Dies soll dem Leser einen Kompass zur Navigation durch die Publikationslandschaft an die Hand zu geben. Im folgenden Abschnitt werden wir die Gegenwartsliteratur einer kritischen Würdigung unterziehen.

    In 2 Wochen werden wir die besprochenen Inhalte kritisch würdigen.

    Über diese Blogreihe

    Nachdem wir uns im IASE Blog bereits den Themenfeldern „Die Terra Incognita der islamischen Psychologie“ und den „Instituten und Vereinigungen muslimischer Psychologen“ zugewandt haben, beschäftigen wir uns in dieser Blogreihe detaillierter mit der Literatur zum Thema islamische Psychologie in ihrer geschichtlichen Entwicklung und ihrem Gegenstand. Diese Blogreihe erscheint alle zwei Wochen am Sonntag. Die Inhalte sind aus der theoretischen Einführung in den Sammelband „Islam und Psychologie – Beiträge zu aktuellen Konzepten in Theorie und Praxis“ entnommen, der zum Beispiel hier erhältlich ist. Darin findet Ihr auch ein Literaturverzeichnis für die verwendeten Quellen.

  • Nachruf auf Dr. Malik Badri

    As-salamu alaikum!

    In diesem Blogbeitrag möchten wir Euch die deutsche Übersetzung eines Nachrufs auf Dr. Malik Badri zur Verfügung stellen. Der Nachruf wurde von Dr. Rania Awaad verfasst und von Dr. Ibrahim Rüschoff übersetzt. Das Original ist hier einzusehen.

    Der Vater der modernen islamischen Psychologie: Das Vermächtnis von Dr. Malik Badri

    Rania Awaad

    Dr. Badri war ein Pionier der modernen islamischen Ansätze in der Psychologie, der unzählige Studenten auf diesem Gebiet beeinflusste, durch die sein Vermächtnis weiterlebt.

    „Mach dir keine Sorgen, Malik, Freud unterschreibt ihre Gehaltsschecks!“ Mit diesen Worten tröstets ein Freund den kürzlich verstorbenen Vater der modernen islamischen Psychologie, Dr. Malik Badri, als er sich bei ihm darüber beklagte, dass er von anderen Psychologen, darunter auch Muslimen, verspottet wurde, als er in den 1960er Jahren versuchte, ihnen ein islamisches Konzept der Psychologie vorzustellen.

    Nach seiner Ausbildung zum Psychologen in Großbritannien, nach dem Grundstudium in seinem Heimatland Sudan und seinem Bachelor- und Master-Abschluss an der American University of Beirut wurde Dr. Badri zum Fellow der British Psychological Society gewählt.

    Während er das Gefühl hatte, dass vieles aus seiner Ausbildung der muslimischen Gemeinschaft zugute kommen könnte, wurde er Zeuge, wie andere muslimische Psychologen pauschal den streng säkularen Rahmen der westlichen Psychologie übernahmen, in dem kein Platz für Religion oder Spiritualität war.

    Dr. Badri war sehr besorgt über die ernsten kulturellen und ideologischen Dilemmata, die sich aus dem ergeben würden, was er als „ethnozentrischen, wahllosen Export der säkularen westlichen Psychologie“ in muslimische und Dritte-Welt-Länder unter dem Deckmantel der „wissenschaftlichen Überlegenheit“ des Westens bezeichnete. Er war besonders besorgt darüber, dass Psychologiestudenten in muslimischen Ländern „den Kern der Psychologie mit der Nussschale verschlucken und das Baby mit dem schmutzigen Wasser behalten.“

    Dies führte dann zur Veröffentlichung von Dr. Badris berühmtem Aufsatz „Muslim Psychologists in the Lizard’s Hole“, gefolgt von seinem meistverkauften Buch „The Dilemma of Muslim Psychologists“, das 1979 in London erschien. Dieses Opus magnum hat zusammen mit Dr. Badris zahlreichen anderen Büchern viele dazu inspiriert, die unkritische Akzeptanz westlicher psychologischer Theorien und Praktiken abzulehnen und sie stattdessen gemäß einer islamischen Weltsicht zu überarbeiten.

    Von dort aus eröffnete sich für Dr. Badri ein weiterer wichtiger Weg: die Untersuchung der Werke früher muslimischer Gelehrter, die zu dem Bereich beigetragen haben, den wir heute als Psychologie bezeichnen. Welchen besseren Weg gibt es, Muslimen die Vorteile der Psychologie nahe zu bringen, als ihre ursprünglichen Wurzeln in den Werken früher muslimischer Gelehrter zu finden?

    Die ursprünglichen Beiträge muslimischer Gelehrter und Ärzte sind jedoch von modernen westlichen Historikern der Psychologie weitgehend ignoriert worden, manchmal sogar absichtlich. Heute beginnen Lehrbücher der Psychologie oft mit der Würdigung der Werke der Griechen und Römer und überspringen dann Jahrhunderte bis zur europäischen Renaissance, als ob die Welt dazwischen mehr als tausend Jahre lang in literarischer Ignoranz versunken wäre.

    Das Wort Renaissance bedeutet Wiedergeburt, was impliziert, dass Europa versuchte, die toten Wissenschaften der klassischen Griechen wiederzubeleben. Aber die Wissenschaft war eigentlich nie gestorben. Die Muslime übernahmen die Wissenschaft der Griechen, verfeinerten und entwickelten sie weiter, bevor sie sie an Europa weitergaben.

    In dieser Situation wurde Dr. Badri von seinem Kollegen Professor Mehdi Mohaghegh auf ein Manuskript von Abu Zayd al-Balkhi aus dem neunten Jahrhundert aufmerksam gemacht, das von Professor Fuat Sezgin in der Ayasofya-Bibliothek in Istanbul entdeckt wurde und den Titel Masalih al-Abdan wa al-Anfus (Nahrung für Körper und Seelen) trägt.

    Dr. Badri übernahm die Aufgabe, eine psychohistorische Abhandlung über al-Balkhis Manuskript auf Arabisch zu schreiben und übersetzte dann den psychotherapeutischen Teil des Manuskripts ins Englische, der nun den Titel Sustenance of the Soul (Nahrung der Seele) trägt.

    Dr. Badri zeigte treffend, dass al-Balkhi möglicherweise der erste Gelehrte war, der klar zwischen Psychosen und Neurosen, d.h. zwischen geistigen und psychischen Störungen, differenzierte. Darüber hinaus waren al-Balkhis Klassifizierung der emotionalen Störungen auffallend modern; er teilte psychische Erkrankungen in vier übergreifende Kategorien ein: Angst und Panik, Wut und Aggression, Traurigkeit und Depression sowie Manie. Darüber hinaus war al-Balkhi wahrscheinlich der erste in der Geschichte, der eine verfeinerte kognitive Verhaltenstherapie (CBT) entwickelte und deren Anwendung für jede der von ihm klassifizierten Störungen illustrierte.

    An diesem Punkt kreuzte sich mein Weg zufällig mit dem von Dr. Badri. Da ich selbst in den klassischen islamischen Wissenschaften ausgebildet wurde, bevor ich mich zum Psychiater ausbilden ließ, war ich entschlossen, die Werke der frühen muslimischen Gelehrten und ihr Verständnis der multidisziplinären Wissenschaft aufzudecken, die „ilm ul-nafs“ oder das Studium des Selbst genannt wird.

    Beim Durchstöbern von Hunderten von Originalmanuskripten, die vom siebten bis zum sechzehnten Jahrhundert reichten, stieß ich auf Abu Zayd al-Balkhis Originalmanuskript aus dem neunten Jahrhundert und später auf Dr. Badris arabische Kommentierung. Als ausgebildete Psychiaterin habe ich sofort die Verbindung zwischen al-Balkhis diagnostischer Klassifikation und dem DSM-5 erkannt. In einigen Fällen stimmten die Beschreibungen von al-Balkhi (9. Jahrhundert) Punkt für Punkt mit dem DSM-5 (2013) überein.

    Ich ging das Risiko ein und schrieb eine E-Mail an Dr. Badri, in der ich mich vorstellte, teilte meine Ergebnisse und meinen Plan mit, sie in doppelt verblindeten, von Experten begutachteten medizinischen Fachzeitschriften zu veröffentlichen. Zu meinem absoluten Erstaunen nahm sich Dr. Badri die Zeit, mir zurück zu schreiben.

    Später erfuhr ich von seiner Frau in einer Online-Würdigung, dass er sich die Zeit nahm, auf jede einzelne Nachricht zu antworten, die an ihn geschickt wurde. In seiner E-Mail-Antwort beglückwünschte er mich und ermutigte mich, diesen Weg der Forschung weiterzugehen. Er teilte mir auch die gute Nachricht mit, dass er gerade dabei war, sein berühmtestes Werk ins Englische zu übersetzen: al-Balkhis Manuskript.

    Mit dem Segen von Dr. Badri reichte ich meine Arbeit bei medizinischen Fachzeitschriften ein. Nach Durchsicht meiner Manuskripte schrieben die medizinischen Fachzeitschriften zurück, dass meine Behauptungen „unorthodox“ seien und sie meine Arbeit von Medizinhistorikern überprüfen lassen müssten. Nach vielen langen Monaten des Wartens – und während derer ich mir sicher war, dass die Papiere abgelehnt werden würden – schrieben die Historiker schließlich zurück und bestätigten meine Behauptungen: al-Balkhi war in der Tat wahrscheinlich der erste, der psychiatrische Krankheiten wie Zwangsstörungen und Phobien korrekt klassifizierte, diagnostizierte und funktionelle Behandlungen vorschlug – ein ganzes Jahrtausend vor den europäischen Psychiatern, denen diese Entdeckungen zugeschrieben wurden! Sie gingen sogar so weit zu sagen, dass meine Artikel die Geschichte der Psychologie neu schreiben und die Erzählungen umstoßen, die muslimische Beiträge zu dem Gebiet, das heute als Psychologie bekannt ist, entweder herunterspielen oder absichtlich auslassen.

    Dr. Badri war sehr stolz auf diesen Meilenstein. Dieser Durchbruch führte dazu, dass ich der Geschichte des Islam und der Psychologie in meinem Institut, dem Stanford Muslim Mental Health Lab an der Stanford University, eine ganze Forschungslinie widmete. Heute fahren wir fort, die Schätze der muslimischen Vorgänger auf dem Gebiet der Psychologie zu heben – ein Gebiet, das sie sehr ernst nahmen und zu dem sie viel beigetragen haben. Dr. Badri war ein Pionier der modernen islamischen Ansätze in der Psychologie, der unzählige Studenten auf diesem Gebiet beeinflusste, durch die sein Vermächtnis weiterlebt.

    Einige Jahre später, als Dr. Badri Professor an der Istanbuler Sabahattin-Zaim-Universität in der Türkei war, leitete ich meinen Zwischenstopp in Istanbul auf dem Rückweg von einer Konferenz für islamische Psychologie in Pakistan ein, um ihn wieder zu besuchen. Da wir in Istanbul waren, sagte er, dass er eine Überraschung für mich hätte, und zog aus seinem Bücherregal das Originalmanuskript heraus, das er vor all den Jahren benutzt hatte, um al-Balkhis „Sustenance of the Soul“ zu übersetzen und zu kommentieren, eine Leihgabe der Ayasofya-Bibliothek! Es war, als ob ich Zeuge wurde, wie sich die Geschichte direkt vor meinen Augen entfaltete. Es war ein surrealer Moment, der so perfekt einfing, wie Dr. Badris Hingabe, den ganzheitlichen islamischen Rahmen des Wohlbefindens zurück in die Psychologie zu bringen, nicht nur mich tief inspirierte und transformierte, sondern auch die zahllosen Studenten, die er an Universitäten in ganz Afrika, Asien, Europa und dem Nahen Osten und in von ihm gegründeten islamischen Psychologiezentren und -vereinigungen unterrichtete, die er während seines Lebens gründete.

    Während dieses letzten persönlichen Besuchs bei Dr. Badri hatte ich auch die Gelegenheit, eine weitere Überraschung mit ihm zu teilen – die aufregende Nachricht, dass die Stanford University die erste Universität in den USA sein würde, die einen vollständigen, permanenten Kurs über islamische Psychologie in ihr Angebot aufnimmt. Ich war glücklich über die Gelegenheit, diesen nächsten Meilenstein mit ihm zu feiern. Er verbrachte Stunden mit mir, um zu skizzieren, was in meinem Kurs gelehrt werden sollte, und dafür werde ich und viele zukünftige Studenten der islamischen Psychologie für immer in seiner Schuld stehen.

    Scherzhaft, aber mit einer Portion Wahrheit, sagte er zu mir: „Hätte mir damals in den 1960er Jahren jemand gesagt, dass eine amerikanische Universität eines Tages einen islamischen Psychologiekurs in ihrem Studienangebot haben würde, hätte ich ihn für verrückt erklärt!“ Er hatte immer einen großartigen Sinn für Humor, den wir schmerzlich vermissen werden.

    Ich bin so dankbar, dass Dr. Malik Badri die Gelegenheit hatte, die Wiederbelebung der islamischen Psychologie zu seinen Lebzeiten mitzuerleben und zu sehen, wie seine unermüdliche Arbeit begann, Früchte zu tragen. Heute gibt es weltweit mehrere Konferenzen zur islamischen Psychologie, die von Tausenden von Interessierten besucht werden. Es gibt Kurse, Workshops, Bücher, theoretische und klinische Anwendungen, die alle der Rückgewinnung und Förderung des Feldes der islamischen Psychologie gewidmet sind. Es wäre nicht übertrieben zu sagen, dass all dies auf Dr. Badri zurückgeführt werden kann.

    Dr. Malik Badri wird immer mein Vorbild für einen nicht apologetischen Muslim in der akademischen Welt und einen glühenden Anhänger der prophetischen Sunna sein. Er wird immer mein Held sein, weil er einen Weg für Kliniker und Forscher wie mich aufgezeigt hat, wie man das „Baby“ vom „Badewasser“ trennt, um die nützlichen Aspekte der westlichen Psychologie zu extrahieren, um anderen Muslimen zu helfen.

    Er wird immer als der Wiederbegründer der modernen islamischen Psychologie-Bewegung angesehen werden und maßgeblich an den Bemühungen beteiligt sein, die Seele zurück in die Psychologie zu bringen. Mein Gebet ist, dass die Schüler von Dr. Malik Badri sein Vermächtnis und seine Werke weiterführen, damit sie für ihn als sa-daqah jariyah, fortlaufende Wohltätigkeit, gezählt werden.