Mit dem Namen ALLAHs, des Barmherzigen, des Allerbarmers, bismi ʾllāhi ʾr-raḥmāni ʾr-raḥīm

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  • IASE Tagungsbeitrag 1998: Zwischen Caritas und Diakonie – zur Bedeutung einer islamischen psychosozialen Beratungsarbeit

    Aus der Schatzkiste. Die Wenigsten wissen, dass die IASE seit den 1980er Jahren existiert. Wir haben alte Tagungsbeiträge ausgesucht, um sie wöchentlich hier zu posten. Viel Vergnügen beim Lesen.


    Ibrahim Rüschoff

     

    Im Folgenden sollen in einem ersten Schritt einige Bemerkungen zur Situation der psychosozialen Versorgung der Muslime gemach werden, dann folgen einige Grundsätze zum Islam, die für eine Beratung von Belang sind. Daraus möchte ich in einem zweiten Schritt einige Folgerungen für eine islamische psychosoziale Beratungsarbeit ableiten, um zum Schluß wichtige Aspekte der Praxis zu beleuchten und einige Hinweise auf islamische Aktivitäten in dieser Richtung zu geben. Die Begriffe Berater/Therapeut werden hier sowohl synonym als auch für beide Geschlechter benutzt.

     

     

    Wie ist die aktuelle Situation (1998)?

     

    Seit über dreißig Jahren leben Tausende ausländische Mitbürger unter uns, inzwischen sind es mehrere Millionen, davon über 2 Mio. Muslime. Sie sind ein nicht mehr wegzudenkender Teil unserer Gesellschaft geworden und prägen sie als deutsche und ausländische Mitbürger mit.

    Die psychosoziale Versorgung von Muslimen in Deutschland erfolgt nicht zuletzt auch aus historischen Gründen nahezu ausschließlich aus der Perspektive einer Ausländerberatung, allenfalls noch unter kulturellem Aspekt. Inzwischen erfordert die Situation der zweiten und der heranwachsenden dritten Generation, die fließend Deutsch spricht, jedoch andere Schwerpunkte und vor allem eine Trennung von der Ausländerfrage, da die meisten dieser Mitbürger Deutschland als ihre Heimat ansehen und hier auch auf Dauer leben werden.

    Wichtigstes Problem der muslimischen Bevölkerungsgruppe ist auch in Zukunft die Integration in unsere Gesellschaft, die bei Religionen, die vom Christentum so verschieden sind wie das Judentum und der Islam, nicht so leicht erfolgt wie bei den hier lebenden katholischen Italienern oder auch orthodoxen Griechen.

    Sieht man die deutschsprachige Literatur zur Migrationspsychologie /-psychiatrie durch, so erscheint das Thema Islam sehr selten. Auch beim Stichwort „Integration“ wird der Islam nur wenig berücksichtigt. Das erklärt sich einerseits daraus, dass den (oft nichtmuslimischen) Autoren hier zumeist die entsprechende Kompetenz fehlt. Darüber hinaus ist jedoch zu vermuten, dass diese Tatsache auch Einstellungen deutlich macht, die den Islam als fremde, unzeitgemäße Erscheinung und als ein zu überwindendes Integrationshindernis wahrnehmen. Die Hinwendung der Muslime zu ihrer Religion wird fast ausschließlich unter dem Aspekt einer Radikalisierung durch wirtschaftliche und gesellschaftliche Benachteiligung gesehen. Das Kopftuch einer Muslimin wird als bedrohlich empfunden und dem negativen Einfluß uneinsichtiger Väter und Ehemänner zugerechnet, kaum jedoch als Ausdruck einer positiven, islamischen Identität seiner Trägerin verstanden.

     

     

    Warum islamische psychosoziale Beratung und welchen Zielen dient sie?

     

    Jeder, der Muslime kennt, weiß, wie weit der Islam das Leben praktizierender Muslime prägt. Wie ist das zu erklären?

    Das Selbstverständnis des Islam als Religion unterscheidet sich (wie das Judentum) grundlegend von dem des Christentums: Kein Aspekt des täglichen Lebens wird als zu gering geachtet, um nicht als Gottesdienst verstanden zu werden. Eine Unterscheidung in „profan“ und „sakral“ existiert als Folge der konsequent monotheistischen Gottesauffassung nicht. Aus der Einheit Gottes folgt die Einheit der Welt. Jede Handlung des Menschen (auch psychosoziale Beratung!), sogar Schlafen, Wachen, Essen und Trinken, ist Gottesdienst, soweit der Mensch sie vollzieht, um vor Gott wohlgefällig zu handeln (vgl. Falaturi 1982). Das verleiht dem Islam einen ausgeprägten Handlungscharakter, er wird zu einer „geheiligten“ Lebensweise, die dem Menschen auf dem Weg zu seiner Vervollkommnung Hilfe und Unterstützung leisten soll. Das bedingt religiöse Regeln und Gebote, die den Tageslauf merklich prägen.

    Die wichtigste Konsequenz aus dieser Tatsache im Beratungs- und Therapiegeschehen mit Muslimen ist, dass sich Therapeut und Klient immer auf religiösem Gebiet bewegen. Dieser Aspekt ist dem säkularisierten Menschen der westlichen Welt erfahrungsgemäß am schwierigsten zugänglich und führt immer wieder zu schwerwiegenden Mißverständnissen. Ob Therapeuten und Berater wollen oder nicht, sie behandeln mit ihren Klienten Themen, die sie bei Christen eher dem Seelsorger überlassen würden. Fragen der Geldanlage, Erbangelegenheiten, der Kindererziehung und des Ehelebens haben für praktizierende Muslime dieselbe religiöse Bedeutung wie das Gebet und das Fasten und sind keineswegs beliebig lösbar. Ein praktizierender Muslim wird großen Wert darauflegen, dass die möglichen Problemlösungen mit dem Islam in Übereinstimmung stehen bzw. diesem nicht widersprechen. Es ist offensichtlich, dass ein nichtmuslimischer Berater/Therapeut hier schnell überfordert ist. Er müßte nicht nur einzelne islamische Regeln und Gebote kennen, nicht nur die Verfahrensweisen z.B. bei einer Ehekrise bzw. Scheidung beherrschen, sondern diese auch in die Gesamtheit islamischer Lebenspraxis in einer nichtmuslimischen Gesellschaft einordnen. Er müßte ein umfangreiches Wissen der religiösen Grundlagen (Koran und Sunna) haben. Doch selbst dann wäre es für ihn als Nichtmuslim sehr problematisch und eigentlich unmöglich, die Zulässigkeit bestimmter Lösungen aus islamischer Perspektive zu beurteilen und sie dem Klienten möglicherweise zu empfehlen. Aber auch ein islamischer Berater/Therapeut wird hier schnell an seine Grenzen stoßen und ohne eine spezielle Weiterbildung und Kontakte zu Fachgelehrten nicht auskommen.

    Im Folgenden soll eine islamisch orientierte, psychosoziale Beratung auf drei Ebenen betrachtet werden: Auf einer ersten, allgemeinen Ebene ist das Ziel jeder Beratung eine Konfliktlösung, verbunden mit einer verbesserten Fähigkeit zur Selbsthilfe und Eigenverantwortlichkeit. Dieses entspricht ohne Einschränkung einer islamischen Sichtweise, nach der Mensch sich eigenverantwortlich handelnd Gott anheimstellt und sich dafür am Tage des Gerichts verantworten muß. Eine dergestalt orientierte Beratungsarbeit ist nicht nur für Muslime, sondern für alle Menschen möglich.

    Auf einer zweiten, speziellen Ebene erlangt eine islamisch orientierte Beratung eine zusätzliche Dimension vor dem Hintergrund des islamischen Menschenbildes: Der Muslim ist aus islamischer Perspektive stets ein zweifach Bezogener: Seine Beziehung zu Gott ist geprägt durch das göttliche Element, das der Mensch seit seiner Erschaffung in sich trägt (Koran 32:9) und seine Natur (fitra) auf die Gottergebenheit, d.h. Islam, ausrichtet. Andererseits ist er stets Mitglied seiner Gemeinschaft, der Umma. In ihr wirkt Gott auf eine besondere Weise, in dem er ihre Rechte zu seinen eigenen macht und so in ihr gewissermaßen präsent wird. Hierdurch ist die Umma mehr als nur die Summe ihrer Mitglieder und erhält – psychologisch gesehen – eine eigene Gestaltqualität.

    Das islamische Menschenbild ist von Optimismus, aber auch von Realitätssinn geprägt. Der Mensch beherbergt den Geist Gottes in sich und verfügt über die Anlage zu Entwicklung und Vervollkommnung, die in Erziehung und Bildung gefördert und in der Beratung genutzt werden kann. Er ist zwar auch sündhaft und schwach, jedoch nicht grundsätzlich verworfen. Schuld und Reue werden streng persönlich verstanden, es existiert kein Raum für eine grundsätzliche Erlösungsbedürftigkeit, da Gott dem wirklich Reumütigen verzeiht. Die Freiheit des Menschen bedingt einerseits seine Größe unter den Geschöpfen, andererseits jedoch auch seine Eigenverantwortlichkeit und damit die Möglichkeit des Scheiterns.

    Für das Verhältnis der Muslime untereinander ist der Gedanke der Brüderlichkeit bestimmend, die ein Symbol für die Gemeinschaft darstellt (Koran 3:103). Die Brüderlichkeit hat im Islam eine ganz besondere Färbung und unterscheidet sich von bloßer Philanthropie nicht zuletzt dadurch, dass der Muslim seinen Glaubensbruder sozusagen „per oculos dei“ als unverzichtbaren Teil der Umma erlebt. Diese Gemeinschaft charakterisiert der Prophet als einen Körper, der insgesamt leidet, wenn ein Glied erkrankt ist. Darüber hinaus ist es Aufgabe der Gemeinschaft, „Frieden zu stiften“ (Koran 49:10). Das bedeutet auch, (psychische) kranken Mitgliedern zu helfen, den eigenen Mittelpunkt wieder zu erlangen, wodurch erst ein friedvoller Umgang miteinander möglich wird.

    Ziel einer islamischen Beratung ist es auf dieser Ebene, dem Klienten zu helfen, wieder zu einem ausgewogenen, ihm gemäßen, selbst gestalteten und verantworteten Verhältnis zu Gott und der Gemeinschaft zu gelangen.

    Kam bisher die Bedeutung einer islamischen Beratung für die Muslime und ihre Gemeinschaft zur Sprache, so will der Islam als Weltreligion und in seinem Selbstverständnis als friedensstiftende Daseinsordnung seiner Verantwortung Gott und der Welt gegenüber gerecht werden und als Teil unserer gesellschaftlichen Realität zu einem gedeihliches Miteinander beitragen. Daher hat eine islamische psychosoziale Beratung eine wichtige Bedeutung auch auf einer aktuellen gesellschaftlichen Ebene: Aus dem oben beschriebenen Handlungscharakter des Islam und seinen praktischen Konsequenzen im Alltag ergibt sich für Muslime in einer nichtmuslimischen Gesellschaft die Notwendigkeit, Anforderungen der Umwelt (Schule, Beruf etc.) mit den eigenen Vorstellungen einer islamischen Lebensweise in Einklang zu bringen. Dabei ist von außerordentlicher Bedeutung, dass eine zufriedenstellende Integration sowohl des Islam als auch der Muslime in die bundesrepublikanische Gesellschaft gelingt, nicht zuletzt um den sozialen Frieden zu sichern. Integration kann jedoch nicht einfach Assimilation oder unkritische Übernahme der Sitten und Gebräuche der Umgebung bedeuten, sondern aktive Teilnahme am gesellschaftlichen und politischen Leben der Gesellschaft unter Wahrung der religiösen Identität. Damit diese gelingen bzw. erhalten werden kann, muß die Gesellschaft den Muslimen zur eigenen Lebensgestaltung Freiräume einräumen, über die z.B. die Kirchen auch verfügen (Moscheebau, Schulen in privater Trägerschaft, Religionsunterricht, Anspruch auf Urlaub an Festtagen etc.).

    Viele der ursprünglich als Arbeitsmigranten eingereisten Muslime stammen aus wirtschaftlich schwach entwickelten Gebieten und verfügen oft nur über eine unzureichende allgemeine und religiöse Bildung. Sie halten ihre Lebensweise für islamisch und bemerken die Verquickung mit regionalen, orientalischen Traditionen nicht. Nicht die Religion, der Islam, sondern gerade diese Vermischung erweist sich als größtes Integrationshindernis, was besonders bei der Behandlung der Frau deutlich wird. Islamische psychosoziale Beratung soll nun den Menschen helfen, ihre islamische(?) Lebensweise auf ihre religiösen Grundlagen (Koran und Sunna) hin zu befragen und davon kulturelle Bestandteile zu unterscheiden (z.B. Verheiratung der Kinder durch die Eltern, Verbannung der Frau aus der Öffentlichkeit, „Başlik“ etc.). Ein Islam in Europa darf kein orientalisches, sondern muß ein europäisch-islamisches Gesicht haben, es widerspräche sonst seinem Charakter als Weltreligion. So verstanden leistet eine islamische Beratung eine äußerst wichtige Hilfestellung bei der gesellschaftlichen Integration von Muslimen. Das wird besonders deutlich, wenn man bedenkt, dass für das angesprochene Klientel derzeit vor allem die Hocas in den Moscheen als Ansprechpartner bei Problemen dienen. Diese Hocas werden, zumindest in den Moscheen der türkischen Religionsbehörde, regelmäßig ausgewechselt, sprechen (vielleicht deshalb?) zumeist nahezu kein deutsch, bewegen sich fast nur im Umfeld der Moschee und haben so kaum Zugang zur Lebenswirklichkeit ihres Klientels und der Gesellschaft. Integrationshilfe ist auf diese Weise nicht möglich.

    Ein Großteil der muslimischen Jugend (insbesondere auch der Mädchen) fühlt sich von dem in Elternhaus vermittelten Islambild kaum noch angesprochen und gerät dadurch in ein religiös-lebenspraktisches Normenvakuum, das bei gleichzeitiger gesellschaftlicher Benachteiligung durchaus soziale Brisanz besitzt. Hier kann eine islamische psychosoziale Beratung zeitgemäße und gleichzeitig islamische Alternativen aufzeigen und somit auch versuchen, Normen- und Ethikverlust zu begegnen. Dabei ist eine auf Gott und die Religion gegründete Ethik der wirksamste Schutz gegen Radikalisierung, Kriminalität und die unkritische Übernahme aller möglichen negativen gesellschaftlichen Leitbilder.

    Islamische psychosoziale Beratung versteht sich somit als Ergänzung des bestehenden Spektrums von Beratungsangeboten vorzugsweise für eine bisher unterversorgte Bevölkerungsgruppe, die als praktizierende Muslime durch ihre Religion und Lebensweise spezielle Anforderungen an Beratung und Berater stellt.

     

     

    Wie ist eine islamische Beratung grundgelegt – was macht das Islamische aus?

     

    Islamische Beratung erfolgt auf der Grundlage und aus dem Geist der koranischen Offenbarung sowie der islamischen Überlieferung und orientiert sich an zentralen Begriffen wie Barmherzigkeit (rahma), Gottesfurcht (taqwa), Gerechtigkeit (cadl) und Toleranz (tasamuh).

    Wir haben vor einigen Jahren in einem Vortrag von A. Falaturi etwas über die gesunde und die gestörte Seele gehört. Zum Menschenbild habe ich eben einige Ausführungen gemacht, die das Thema jedoch nur knapp streifen können und in der Konzeptgruppe vertieft werden müssen.

    Neben Krankheitsverständnis und Menschenbild ist die Frage angemessener Therapie- und Beratungs-methoden für die Praxis von unmittelbarer Bedeutung.

    Die Diskussion um eine islamische Psychotherapie und damit auch um islamische Therapieverfahren wird teilweise sehr kontrovers geführt. Die Positio­nen reichen von einer totalen Ablehnung westlicher Methoden und Schulen bis hin zu deren unkritischer Übernahme. Die Psychoanalyse ist zumeist das Paradebeispiel einer „gottlosen“ Psychotherapie, die den Menschen als Triebbündel sieht, und dass Freud Jude war, ist auch nicht gerade von Vorteil. Ähnliches gilt für die Verhaltenstherapie und das Menschenbild Skinners. Hier wird auch heute immer noch auf die Aussagen der Schulengründer recurriert und die weitere Ent­wicklung der Therapierichtung kaum berücksichtigt.

    Wie können dieses Thema in der Diskussion noch aufgreifen, hier jedoch soviel zu meiner eigenen Position:

    Wie ist das Weltbild der Naturwissenschaften, zu denen sich ja auch die Medizin zählt? Vereinfacht gesagt, beschränken sie sich methodisch darauf, die Welt einmal unter dem Aspekt zu betrachten, was sich an ihr zählen, wiegen und nach den Gesetzen der Logik erfassen läßt. Gott läßt sich auf diese Weise nicht handhaben und erfahren und bleibt daher außerhalb der Diskussion, obwohl wir als Muslime wissen, dass er sehr wohl ständig präsent ist und wirkt. Durch diese methodische Beschränkung können Wissenschaftler aller Religionen und Kulturen zu denselben Ergebnissen gelangen. Auch muslimische Wissenschaftler rechnen und forschen nach denselben mathematischen und chemischen Formeln und operieren mit denselben Methoden. Das können sie auch getrost, denn sie wissen, dass es sich hier um Abbildungen, um methodisch abstrahierte Vorstellungen des Menschen handelt. Die wissenschaftlichen Metho­den sind gewissermaßen mehr oder weniger genaue „Landkarten“ des Menschen und der Welt, und nur in der Psychologie scheint die Gefahr zu bestehen, diese mit den Landschaf­ten selbst zu verwechseln. Wenn ich z.B. einen Patienten mit einer isolierten Pho­bie behandeln muß, dann werde ich Verhaltenstherapie anwenden, weil das die Methode der Wahl ist und schnell hilft, auch wenn der Begründer der VT ein Menschenbild hatte, dass aus islamischer Sicht viel zu kurz greift.

    Die Benutzung „etablierter“ Verfahren erfordert allerdings, dass wir sie kritisch im Licht des Islam be-trachten und bei eindeutigen Widersprüchen (z.B. viele sog. Körperverfahren in der „Psychoszene“) aussortieren. Die Benutzung „etablierter“ Verfahren erfordert aber auch, dass wir ständig darum bemüht sein sollten, auch in den Wissenschaften Methoden bzw. „Landkarten“ zu entwickeln, die der Landschaft möglichst nahekommen, d.h. unser islamisches Menschen- und Weltbild umfassend enthalten. Dieses Bemühen kann man dann „Islamisierung der Wissenschaften“ nennen, und aus dieser Sicht braucht sich auch kein Nichtmuslim zu ängstigen.

    Das Islamische in der Beratung/Therapie wird so von drei Seiten bestimmt:

    Von den Grundlagen: Das Welt- und Menschenbild und Krankheitsverständnis, wie es in Koran und Sunna zutage tritt.

    Von den Methoden: Diese werden aus der Sicht des Islam kritisch beurteilt und ggf. auch verworfen.

    Von der Klientel: Hilfe bei der Verwirklichung eines islamischen Lebensstiles, besonders in einer nichtislamischen Umgebung mit der Notwendigkeit der Integration und Teilnahme.

     

     

    Wie kann eine islamisch grundgelegte psychosoziale Beratung/Therapie in der Praxis aussehen?

     

    Gibt es überhaupt einen Bedarf seitens der Klienten?

    Die psychosoziale Versorgung der ausländischen Mitbürger und damit auch der Muslime läßt sehr zu wünschen übrig. Der Bedarf an gut ausgebildeten, zweisprachigen Beratern und Therapeuten, die auch Erfahrungen mit dem kulturellen Hintergrund ihrer Klienten haben, ist groß und nicht annähernd gedeckt. So wird auch in Zukunft im Spektrum der psychosozialen Versorgung für Muslime ein bikultureller und auch muttersprachlich orientierter Beratungsansatz unverzichtbar sein und einen hohen Stel-lenwert behalten, wurzeln doch viele Probleme der Ratsuchenden in interkulturellen Konflikten.

    Andererseits leben nicht nur allein 600.000 türkische Jugendliche in Deutschland, die zumeist hier aufgewachsen sind, sondern auch 500.000 Muslime mit deutschem Paß, davon ca. 150.000 deutscher Abstammung. Therapeuten, von denen bekannt ist, dass sie praktizierende Muslime sind, erhalten gerade wegen dieser Eigenschaft immer wieder Nachfragen nach Beratungen oder Therapieplätzen. Die Ratsuchenden hoffen und vermuten, dass wir aus einem anderen Geist heraus tätig sind und sie hier eine Dimension einbeziehen können, die Gott quasi im Geschehen präsent sein läßt.

    Aus diesen Gründen sollte eine islamische psychosoziale Versorgung dort, wo es notwendig ist, einen bikulturellen und auch bilingualen Ansatz verfolgen, darüber hinaus aber auch die Gewähr dafür bieten, dass islamische Aspekte und Ansätze soweit zum Tragen kommen können, wie sie der Klient als für sich verbindlich erlebt und akzeptiert.

    Ein solchermaßen umfassender Ansatz fordert bestimmte Therapeuteneigenschaften. Neben den „klassischen“ Therapeutenvariablen Echtheit, Wertschätzung und einfühlendes Verstehen ist besonders die Identifikation des Beraters mit dem Islam von Bedeutung, denn gerade die setzt ein praktizierender Klient ja voraus. Der Klient muß seinem Gegenüber als Berater und Muslim sozusagen „doppelt vertrauen“ und absolut sicher sein können, dass ihm die in der Beratung vorgestellten Lösungen nicht nur weiterhelfen, sondern auch der islamischen Lehre nicht widersprechen. Berater sollten deshalb praktizierende Muslime sein, nicht zuletzt um auch eine unaufdringliche, aber ermutigende Vorbildfunktion geben zu können, dass man als Muslim auch in einer nichtislamischen Umgebung nach den Weisungen seiner Religion leben kann (vgl. Rüschoff 1989).

    Die Echtheit des Beraters und seine Wertschätzung des Klienten verdienen besonders bzgl. der therapeutischen Neutralität besondere Beachtung. Ein praktizierender muslimischer Berater wird bei seinen Klienten sehr häufig mit einem Verhalten konfrontiert, das der islamischen Lehre widerspricht, dennoch in der Gesellschaft allgemein als akzeptiert gilt (z.B. Zusammenleben unverheiratete Paare), da natürlich auch muslimische Klienten das gesamte Spektrum von streng religiös bis säkularisiert bieten. Um hier eine gute Beratungsqualität sicherzustellen und eine unreflektierte Einflußnahme zu verhindern, sind eine umfassende Ausbildung in einem bewährten Therapieverfahren als auch ausreichende Selbsterfahrung und begleitende Supervision erforderlich.

    Eine islamische psychosoziale Versorgung umfaßt neben der üblichen Einzel- und Familienberatung auch einen beträchtlichen Teil praktische Sozialarbeit. Der Klient wird nicht nur mit Sitten und Gebräuchen der Gesellschaft konfrontiert, sondern auch mit deren Rechtsnormen. Er benötigt evtl. Informationen zum Erb- und Familienrecht, zu Versicherungen u.a.m., da diese Dinge für ihn unter islamischen Gesichtspunkten eine wichtige Rolle spielen. Der Berater muß evtl. Kontakte zu Behörden und Schulen herstellen, Gespräche mit Lehrern, Erziehern und seinen Klienten führen u.a.m. Die genannten Aspekte unterstreichen die Notwendigkeit einer zusätzlichen umfassenden islamischen Ausbildung des Beraters, der verläßlich und glaubhaft sämtliche Möglichkeiten aber auch die Grenzen einer Adaptation gesellschaftlicher Strukturen und Elemente mit seinen Klienten ausloten muß.

    An welche Klientel wendet sich eine islamische psychosoziale Beratung? Grundsätzlich ist sie, wie die katholische und evangelische Beratung auch, neutral und für alle Bürger offen und wendet sich daher auch an alle Ratsuchenden, gleich welcher Religion. Sie soll darüber hinaus jedoch einem praktizierenden muslimischen Klientel Zugang zu psychosozialen Versorgungssystemen verschaffen, das bisher mit seinen Schwierigkeiten allein geblieben ist, aus welchen subjektiven und objektiven Gründen auch immer. Der Klient muß dort abgeholt werden, wo er steht. Auch strenggläubigen Muslimen muß ein Zugang möglich und z.B. eine Beratung von Frauen durch Frauen und Männer durch Männer gewährleistet sein etc. Wie weit das alles gelingt, bleibt abzuwarten, der Versuch muß jedoch unbedingt unternommen werden.

     

     

    Literatur

    Falaturi, A.(1982): Tod-Gericht-Auferstehung in koranischer Sicht. In: Falaturi, A., W. Strolz, Sh. Talmon (Hg.): Zukunftsvorstellungen und Heilserwartung in den monotheistischen Religionen. Freiburg, Basel, Wien (Herder), S. 121-138.

    Die Bedeutung des Koran (1996), 5 Bde., München (SKD Bavaria).

    Rüschoff, S. Ibrahim (1989): Zur psychosozialen Versorgung der Muslime in der Bundesrepublik. In: Wege zum Menschen 41, S. 323-330.

  • Blogreihe: Die Terra Incognita der islamischen Psychologie – Woche 4

    Kategorisierung psychischer Störungen, Psychosomatik

    Unseren vierten Blogbeitrag zur Terra Incognita der islamischen Psychologie widmen wir Abū Zaid al-Balchī (850-934). Wie bereits zu Beginn dieser Reihe erwähnt, stammt das prominenteste Beispiel der Beiträge früher muslimischer Gelehrter zur modernen Wissenschaft von al-Balchī, einem im Norden des heutigen Afghanistans geborenen Universalgelehrten des 9. Jahrhunderts. Seine Texte haben unter muslimischen Psychologen die wohl weitläufigste Rezeption gefunden.

    al-Balchīs bedeutendstes Werk mit Relevanz zur Psychologie ist Maṣāliḥ al-abdān walanfus (Die Erhaltung des Körpers und der Seele, in Übersetzung bei: Badri, 2013; Özkan, 1990). Dieser Text ist in nicht-fachlichem Arabisch geschrieben, um es auch dem Laien leicht verfügbar zu machen und in zwei Teile gegliedert: Maṣāliḥ al-abdān, in dem die physische Gesundheit und Krankheitsprävention behandelt werden und Maṣāliḥ alanfus, der Teil zur psychischen Gesundheit. Der Titel nimmt bereits die Idee der Psychosomatik vorweg (Awaad, 2017). Die enthaltenen Klassifikationen und Definitionen der Angst- (Awaad & Ali, S., 2016) und Zwangsstörungen (Awaad & Ali, S., 2015) weisen bemerkenswerte Ähnlichkeiten mit heutigen Konzeptualisierungen z.B. im DSM-5 auf und haben dadurch wichtige transkulturell-diagnostische Implikationen (Haque et al., 2016). Somit sind historische Zuschreibungen wie die, dass Robert Burton 1621 erstmalig die Zwangsstörung beschrieb oder dass die Zwangsstörung ein modernes Phänomen ist, nachdrücklich zu überdenken.

    al-Balchī klassifizierte psychische Störungen seinerzeit in vier Kategorieren: Wut (al-ghadab), Traurigkeit und Depression (al-Jaza‘), Furcht und Phobien (al-Faza‘) und Obsessionen (Khalili et al., 2002). Die Depression untergliederte er in alltägliche, normale Traurigkeit, endogene Depression mit körperlichem Ursprung und die reaktive Depression mit Ursprung außerhalb des Körpers (Haque, 2004). Parallelen mit zeitgenössischen Systemen wie dem DSM oder ICD fielen Babai (1999) auch bei Ibn Sina (siehe Blogbeitrag 9) auf und er konstatierte, dass der Einfluss des Gedankengutes früher muslimischer Gelehrte auf die gegenwärtigen diagnostischen Manuale nur schwer auszuschließen sei. Verschiedentlich wird al-Balchī der Ursprung der Verhaltenstherapie zugesprochen und er wird als erster kognitiver Psychologe gehandelt (Badri, 1998, 2013).

    al-Balchī ist neben seiner Kategorisierung psychischer Störungen auch für sein psychosomatisches Verständnis von Erkrankungen bekannt (Badri, 1998, 2013; Deuraseh & Al-Talib, 2005; Husain, 2017; Özkan, 1990). Im Einklang mit Herbert Bensons Einwand von 1997, dass sich die moderne Wissenschaft zu wenig mit den physischen Effekten von Vorstellungen und Emotionen auseinandersetzt und dass ein ausgeglichener Ansatz zum Wohlbefinden emotionale, spirituelle und intellektuelle Überlegungen anstellen sollte, argumentiert auch al-Balchī gegen die Mediziner seiner Zeit, die Gesundheit und Behandlung lediglich in Zusammenhang mit physischen Merkmalen brachten und die Wechselwirkung zwischen Körper und Geist negierten. al-Balchī nahm keine qualitative Unterscheidung zwischen physischen und psychischen Erkrankungen vor und beschrieb, dass beide Arten sich gegenseitig bedingen. Dadurch hat er einen psychophysiologischen Ansatz zur mentalen Gesundheit etabliert, der als Basis für darauffolgende Gelehrten- und Philosophengenerationen diente (Mohammad et al., 2018). Manche Autoren schreiben ihm darüber hinaus auch die Prägung der Begriffe der mentalen Hygiene und der mentalen Gesundheit zu, die nach ihm maßgeblich von einer Körper-Seele-Balance abhängt (Husain, 2017).

    Referenzen:

    Awaad, R. & Ali, S. (2015). Obsessional Disorders in al-Balkhi′s 9th century treatise: Sustenance of the Body and Soul. Journal of Affective Disorders, 180, 185-189. doi:10.1016/j.jad.2015.03.003

    Awaad, R. & Ali, S. (2016). A modern conceptualization of phobia in al-Balkhi’s 9th century treatise: Sustenance of the Body and Soul. Journal of Anxiety Disorders, 37, 89-93. doi:10.1016/j.janxdis.2015.11.003

    Awaad, R. (2017, September). Historical and Islamic Scholarly Roots of Mental Health. Paper präsentiert auf dem Islamic Models of Nurturing Psychological and Spiritual Health Konferenz des Khalil Centers, Islamic Center at New York University.

    Badri, M. (1998). Abu Zayd Al-Balkhi: A Genius Whose Psychiatric Contributions Needed More Than Ten Centuries To Be Appreciated. Malaysian Journal of Psychiatry6(2).

    Badri, M. (2013). Abū Zayd al-Balkhī’s sustenance of the soul: The cognitive behavior therapy of a ninth century physician. London: International Institute of Islamic Thought.

    Babai, A. (1999). Zur Psychologie und Psychotherapie Ibn Sinas. Berlin, Deutschland: Galda und Wilch Verlag.

    Benson, H., & Stark, M. (1997). Timeless healing: the power and biology of belief. New York: Simon & Schuster.

    Deuraseh, N. & Abu Talib M. (2005). Mental health in Islamic medical tradition. The International Medical Journal, 4, 76-79.

    Haque, A. (2004). Psychology from Islamic Perspective: Contributions of Early Muslim Scholars and Challenges to Contemporary Muslim Psychologists. Journal of Religion and Health, 43(4), 357-377. doi:10.1007/s10943-004-4302-z

    Haque, A., Khan, F., Keshavarzi, H., & Rothman, A. E. (2016). Integrating Islamic Traditions in Modern Psychology: Research Trends in Last Ten Years. (2016). Journal of Muslim Mental Health, 10(1), 75-100.

    Husain, A. (2017). Contributions of Arab Muslim Scholars to Psychology. In A. Husain (Ed.), Contemporary Trends in Islamic Psychology (pp. 13-25). Hdyerabad, Indien: Centre for Study and Research.

    Khalili, S., Murken, S., Reich, K. H., Shah, A. A., & Vahabzadeh, A. (2002). Religion and Mental Health in Cultural Perspective: Observations and Reflections After The First International Congress on Religion and Mental Health, Tehran, 16–19 April 2001. The International Journal for the Psychology of Religion, 12(4), 217–237.

    Mohammad, A., Elzamzamy, K., Fereydooni, S., Gamar, M., & Awaad, R. (2018). Mental Health in the Islamic Golden Era: The Historical Roots of Modern Psychiatry. in H. S. Moffic, J. Peteet, A. Hankir, R. Awaad, Islamophobia & Psychiatry: Recognition, Prevention, and Treatment (in press).

    Özkan, Z. (1990). Die Psychosomatik bei Abu Zaid al-Balhi (gest. 934 A.D.). In F. Sezgin (Ed.), Veröffentlichungen des Institutes für Geschichte der Arabisch-Islamischen Wissenschaften, Reihe A, Texte und Studien, Bd. 4. Frankfurt am Main, Deutschland.

  • Reaktion auf den Tagungsbericht zur ersten internationalen Konferenz der International Association of Islamic Psychology (26. – 28. Oktober 2018, Istanbul)

    Hasan Polat

    Der Tagungsbericht zur ersten internationalen Konferenz der International Association of Islamic Psychology (26. – 28. Oktober 2018, Istanbul) hat mich motiviert, diese Zeilen zu schreiben. Hiermit möchte ich zum Anlass des Berichts einige meiner Gedanken zusammenfassen. 

    Wir Muslime in Deutschland, die eingewandert sind, haben eine lange Zeit versucht, durch die Gründung eigener Vereine und Organisationen uns gegen die Mehrheitsgesellschaft zu schützen. Das hatte seine Vor- und Nachteile. Aber wir konnten eine lange Zeit nicht so bleiben, weil dies eine lange Zeit nicht realistisch war und die neue Technik alle traditionellen Grenzen und Schutzmechanismen überrollt hat. Wir müssen lernen, uns in der hiesigen Gesellschaft von isolierten zu kollektiven Bestrebungenzu bewegen, weil wir an eine Religion (ed-Din) glauben, die an alle Menschen appelliert. Und wir wissen, dass wir heutzutage nicht mehr isoliert bleiben können. Das hat erneut seine Vor- und Nachteile, und ist auch eine Herausforderung, an der wir Muslime wachsen müssen.

    Jeder Mensch ist als soziales Wesen auch ein Produkt seiner Zeit, in der er geboren und aufgewachsen ist. Muslime wurden ignoriert, vernachlässigt und diskriminiert. Der dominante, sehr materialistisch orientierte Positivismus und Kolonialismus hat uns sehr unter Druck gesetzt und negativ beeinflusst. Aber wir dürfen unsere Probleme nicht ständig externalisieren. Wir sind irgendwie auch stehengeblieben. Malek Bennabi hat mal sehr gut formuliert: „Es stimmt, dass wir kolonialisiert worden sind. Aber wir müssen auch fragen, warum wir kolonialisiert werden konnten?“

    Die positivistische Sichtweise der Psychologie hat den Menschen lange Zeit als ein sehr mechanisches Lebewesen betrachtet und dargestellt. Aber das hat sich mit der Zeit geändert. Heutzutage versuchen viele Therapeuten, die religiösen und traditionellen Aspekte miteinzubeziehen, damit sie ihren Klienten besser helfen können. Wir Muslime haben uns in diesem Sinne verspätet. Aber das heißt nicht, dass wir das nicht nachholen können. Wir haben die Ressourcen und die Kapazitäten, vorausgesetzt wir geben uns Mühe und streben danach. Der IASE e.V. kann in diesem Sinne eine Basis schaffen, wenn wir uns alle beteiligen würden.

    Der Islam ist eine Religion (ed-Din), die mehr beansprucht als andere Religionen auf der Welt, und dies wird oft von den Machthabern als eine Bedrohung der momentanen Weltordnung gesehen und dargestellt. Im Namen des Islam werden auch viele unakzeptable Dinge gemacht. Das ist eine momentane Realität der Weltpolitik. 

    Meiner Meinung nach dürfen wir Muslime uns nicht so stark politisieren lassen. Als Therapeuten und Berater können wir für die Verbesserung des Wohlbefindens aller Menschen unsere Beiträge leisten, die der Islam von uns erwartet.

    Je mehr sich ein Muslim bemüht, für sein eigenes Wohlbefinden und für das Wohlbefinden seiner Umgebung seine Beiträge zu leisten, desto mehr wird Allah ihm neue Perspektiven öffnen und neue Möglichkeiten geben. 

    Wir Muslime glauben an das Achirah und wissen, dass wir dort erhalten, was wir in unserem Leben auf der Erde geleistet haben.

    Allah möge uns schützen und unterstützen, liebe Schwestern und Brüder.

    Hasan Polat

  • Blogreihe: Die Terra Incognita der islamischen Psychologie – Woche 3

    Kindliche Entwicklung, Relevanz der Psychotherapie

    In der dritten Woche unserer Blogreihe beschäftigen wir uns weiterhin mit der Terra Incognita der islamischen Psychologie: dem psychologischen, psychotherapeutischen und psychiatrischen Gedankengut in den Schriften früherer muslimischer Gelehrter. Eine fundamentale Herausforderung bei der psychologischen Rezeption dieser Arbeiten ist, dass die meisten Schriften nur sehr schwer zugänglich sind (Awaad, 2018). Genauso wie die frühen muslimischen Gelehrten in ihrer psychiatrischen und therapeutischen Praxis in interdisziplinären Teams gearbeitet haben (vgl. Blogbeitrag nächste Woche), bedarf es darüber hinaus auch eines gut organisierten interdisziplinären Teams aus islamischen Theologen, arabischen Sprachwissenschaftlern und Psychologen und Psychiatern, um die Werke früherer muslimischer Gelehrter zu analysieren.

    Der Gelehrte, mit dem wir uns heute auseinander setzen möchten, ist ʿAlī ibn Sahl Rabban at-Tabarī (838-870). Dieser stammte aus dem Norden des heutigen Irans. Sein medizinischer Text Firdaus Al-Hikmah (Paradies der Weisheit) stellte die erste medizinische Enzyklopädie dar und beinhaltete auch Beiträge zur Psychologie (Payk, 2005), die z.B. zum Verständnis der kindlichen Entwicklung beigetragen haben (Haque, 2004). Weiterhin ist in seiner Enzyklopädie ein Kapitel zu den Krankheiten des Kopfes und des Gehirns zu finden (Mohammad et al., 2018). at-Tabarī ging außerdem auf die Wichtigkeit der Psychotherapie und ihrer Relevanz für die medizinische Behandlung ein (Hamarnah, 1984) und betonte die Notwendigkeit einer positiven therapeutischen Beziehung für den Therapieerfolg (Husain, 2017).

    Referenzen:

    Awaad, R. (2018, October). Historical Perspectives and Modern Clinical Implications for the development of Islamic Psychology. Paper presented at the conference of the International Association of Islamic Psychology, Istanbul, Turkey.

    Payk, T. (2005). Psychiatrie im frühen Islam. In H. J. Assion (Ed.), Migration und seelische Gesundheit (pp. 21-28). Heidelberg, Deutschland: Springer, 21-28.

    Hamarneh, S. K. (1984). Health Sciences in Early Islam: Collected Papers. Blanco, TX: Zahra Publications.

    Haque, A. (2004). Psychology from Islamic Perspective: Contributions of Early Muslim Scholars and Challenges to Contemporary Muslim Psychologists. Journal of Religion and Health, 43(4), 357-377. doi:10.1007/s10943-004-4302-z

    Husain, A. (2017). Contributions of Arab Muslim Scholars to Psychology. In A. Husain (Ed.), Contemporary Trends in Islamic Psychology (pp. 13-25). Hyderabad, Indien: Centre for Study and Research.

    Mohammad, A., Elzamzamy, K., Fereydooni, S., Gamar, M., & Awaad, R. (2018). Mental Health in the Islamic Golden Era: The Historical Roots of Modern Psychiatry. in H. S. Moffic,, J. Peteet, A. Hankir, R. Awaad, Islamophobia & Psychiatry: Recognition, Prevention, and Treatment (in press).

  • Tagungsbericht zur ersten internationalen Konferenz der International Association of Islamic Psychology (26. – 28. Oktober 2018, Istanbul)

    Neue Wege für existierendes Wissen: Der Beitrag einer islamischen Psychologie zum Verständnis der menschlichen Natur

    Paul M. Kaplick, Emine Balci-Sentürk & Ibrahim Rüschoff

    Als um die Jahrhundertwende die International Association of Muslim Psychologists gegründet wurde, konnte man auf internationalem Boden nur wenig mit dem Begriff einer islamischen Psychologie anfangen. Psychologen sowohl im arabischen und asiatischen Raum als auch in westlichen Ländern befanden sich teilweise noch in einem Zustand der Identitätsbestimmung gegenüber der gegenwärtigen wissenschaftlichen Psychologie, die sich angeblich den spirituellen, metaphysischen und volitonalen Aspekten des Menschen verweigerte (Kaplick & Rüschoff, 2018). Während der letzten beiden Jahrzehnte haben sich die internationalen Gespräche unter muslimischen Psychologen jedoch weiterentwickelt, und so ist nun ein rapide wachsendes Interesse am Islamischen einer Psychologie zu beobachten – in welcher Form sich dies auch gestalten mag.

    Die erste Konferenz der im Juli 2018 gegründeten International Association of Islamic Psychology (IAIP) bediente nun Ende Oktober 2018 dieses Interesse einer neuen Generation muslimischer Psychologen. Die Aufgabe der IAIP besteht in der Findung neuer Wege, bestehendes Wissen einzusetzen: Die gegenwärtige Psychologie bietet eine ideale Plattform, um die Konzepte und Theorien von traditionellen muslimischen Gelehrten, vor allem derjenigen wiederzubeleben, die vom 7.-13. Jahrhundert aktiv waren. Es geht um die Gestaltung einer islamischen Psychologie, die unser Verständnis der menschlichen Psychologie im Allgemeinen vorantreibt und das Wohlergehen aller Menschen zu verbessern vermag. Das islamische an der islamischen Psychologie zeigt sich dabei in deren Verwurzelung in einem epistemologischen und ontologischen Paradigma der islamischen Theologie. Der Umfang des Interesses an einer solchen Zielsetzung manifestiert sich bereits darin, dass innerhalb von vier Monaten 75 Mitglieder aus 19 Ländern, darunter 6% aus Deutschland, der Vereinigung beigetreten sind.

    Wir werden im Folgenden eine allgemeine Zusammenfassung unserer Eindrücke und Gedankengänge vorstellen, die sich während der dreitätigen Konferenz ergeben haben und danach anhand einiger Vorträge die maßgeblichen Ergebnisse der Tagung ausführen. Der wohl spannendste Aspekt der Tagung war, dass Psychologen, Psychotherapeuten, Berater und Psychiater, die bis dato in Isolation bzw. auf nationaler Ebene gearbeitet haben, nun in der perfekten Lokalität von Istanbul, an der Zaim Universität, die das Projekt einer islamischen Psychologie aktiv vorantreibt, sich kennen lernen und sich strukturiert austauschen konnten. Es ist nicht nur ein Umschwung von muslimisch zu islamisch (d.h. von transkulturellen hin zu religiösen Perspektiven auf die Psychologie), sondern auch von isolierten zu kollektiven Bestrebungen zu verzeichnen. Die kollektive Komponente äußert sich dabei nicht nur in der Internationalität, sondern auch in einer bisher unbekannten Multidisziplinarität, bei der islamische Theologen wie Yusuf Jha aus Nottingham und Imame wie Mohamed Magid aus den USA an dieser Tagung teilgenommen und aktiv dazu beigetragen haben.

    Bei allem Enthusiasmus über die Internationalität und Multidisziplinarität möchten wir jedoch hervorheben, dass für uns vor allem eine kritische, akademische und professionelle Grundhaltung von großer Wichtigkeit ist. Kritisch ist zu bemerken, dass die ersten beiden Konferenztage eher von einer emotionalen Auseinandersetzung mit der Beziehung zwischen Islam und Psychologie dominiert wurden. Dies geschah auf Kosten der Diskussion von philosophischen Inhalten und der entscheidenden Frage, was denn nun islamisch an einer islamischen Psychologie ist, und wie man mit einem islamischen Exzeptionalismus umgehen sollte. Inhaltliche Diskurse wurden überschattet von sich wiederholenden, teilweise simplizistischen Ideen einer älteren Generation muslimischer Psychologen, die sich noch an der kolonialen Vergangenheit ihrer arabischen Gesellschaften abzuarbeiten scheint. Das betrifft vor allem die Verhältnisbestimmung des muslimischen und „westlichen“ Menschenbildes, ihrer Resonanzen und Differenzen. Diese Auseinandersetzung ist zu Beginn der Theoriebildung selbstverständlich zu klären (El Shakry, 2018) und maßgeblich für die Identität muslimischer Psychologen, jedoch geschieht dies seit nun vier Jahrzehnten mehr als ausführlich (Kaplick & Rüschoff, 2018). Aufgrund des emotionsgebundenen Interesses an der Beziehung zwischen Islam und Psychologie konnten zielführende und erkenntnisbringende Diskussionen zu vielversprechenden Themen wie „Rediscovery and Integration: Applying religious approaches used by early Muslim scholars in the context of modern psychological treatment“ oder „An Islamic paradigm shift in relation to theoretical constructs and experimental research in psychology“ nicht ausreichend ausgeschöpft werden. Vielmehr wurden lange geklärte Problemfelder immer wieder aufgegriffen und reflektiert. Ebenso wenig zielführend und erkenntnisbringend ist die Tatsache, dass sich einige Kollegen gegen die „westliche“ Wissenschaft positionierten, z.B. durch die Aussage, dass muslimische Gelehrte bereits das Wichtigste für eine ausreichende Auseinandersetzung mit der Psychologie des Menschen behandelt haben, und die „westliche“ Wissenschaft diese Inhalte nun überflüssigerweise erneut penibel beschreibe, erkläre und studiere.

    Im deutlichem Gegensatz zu diesem apologetischen Diskurs schilderte die Psychiaterin Dr. Rania Awaad aus Stanford, wie die Schriften früher muslimischer Gelehrter dazu dienen können, die bisherige Geschichtsschreibung der Psychologie und Psychiatrie wissenschaftlich fundiert zu überdenken. Im Laufe der letzten Jahre, so berichtete sie, hat ihr interdisziplinäres Team 112 Manuskripte früher muslimischer Gelehrter gesichtet. Dabei wurden aus psycho-philosophischen, -medizinischen, -spirituellen und -präventiven Texten in verschiedenen Beiträgen (Awaad & Ali, 2015, 2016) die transhistorische Relevanz z.B. des Konzeptes der Zwangsstörung beleuchtet. Dieses wurde Jahrhunderte vor der ersten Fallstudie in Robert Burtons (1621) Buch zur Anatomie der Melancholie durch den Universalgelehrten Abū Zayd Al-Balkhī aus dem 9. Jahrhundert mit dem heutigen DSM-5 fast synonym übereinstimmend beschrieben.

    Dr. Alizi Alias von der International Islamic University Malaysia (IIUM) eröffnete den dritten Konferenztag mit einem ausgesprochen erfrischenden Vortrag zur Entwicklung eines Curriculums der islamischen Psychologie in Malaysia. Diese Entwicklung erstreckt sich über vier Phasen (1990-1999: Formierung der IIUM mit einem Psychologie Studiengang; 2000-2009: Einbeziehung einer islamischen Perspektive am Ende jeder Vorlesungsreihe; 2010-2019: Seminar mit einer islamische Perspektive am Ende jeder Vorlesungsreihe; 2019-zukünftig: organisch integrierte islamische Komponente in einem biopsychosozial-spirituellen Ansatz als Grundlage des Curriculums). Mit Dr. Alias‘ Ausführungen zu den drei wesentlichen konzeptionellen Stufen der Entwicklung einer islamischen Psychologie – Islamisierung, Relevantisierung (tajdīd) und Integration – begann er eine lebendige Debatte zu den zentralen Fragen, die in den nächsten 10 Jahren ausführlich beantwortet werden müssen: Was ist islamisch an der islamischen Psychologie? Welche Methodologie legen wir in der Theoriebildung und Integration von Disziplinen zugrunde? Welche islamischen Interventionen können wir in der Psychotherapie nutzbar machen, und kann die Wirkung dieser spirituell integrierten Psychotherapie in randomisierten klinischen Studien nachgewiesen werden?

    Hooman Keshavarzi vom Khalil Center in Chicago diskutierte anschließend das Potential der Texte früher muslimischer Gelehrter für die Verbesserung des Wohlbefindens aller Menschen. Dabei stellte er ein epistemologisches und ontologisches Paradigma vor, welches in den Ashʿari und Māturīdī Schulen gegründet ist und stellte Überlegungen an, wie eine islamisch-integrierte Psychotherapie innerhalb dieses Rahmens konstruiert werden kann. Dabei ging es um die objektiven Quellen des Wissens (sensorisches/hissi und empirisches Wissen, Vernunft/manṭiq und Offenbarungswissen), um zu verdeutlichen, dass empirisch-psychologisches und islamisches Wissen jeweils die gleiche Stärke in ihrer Beweiskraft haben, sich jedoch im Wert, d.h. im sakralen Charakter des islamischen Wissens unterscheiden. Darüber hinaus wurden die drei wesentlichen islamischen Quelldisziplinen für eine islamisch-integrierte Psychotherapie vorgestellt: al-Fiqh al-Akbar/ʿaqīda, al-Fiqh al-bāṭin/tasawwuf und al-Fiqh al-ẓāhir).

    Es wurde deutlich, dass die Rolle der dualen Ausbildung in den islamischen Disziplinen und der Psychologie und Psychotherapie ein brennendes Thema auf der Konferenz darstellt. Man konnte dabei eine weitgehende Übereinstimmung darin feststellen, dass die zukünftigen Ausbildenden in einer islamisch integrierten Psychotherapie über eine solide duale Ausbildung in den (traditionellen) islamischen Disziplinen und der Psychologie und Psychotherapie benötigen. Die angehenden Therapeuten benötigten zwar keine umfassende theoretische Ausbildung, jedoch tiefgehende Kenntnisse über die praktische Umsetzung, um nicht nur spirituell-sensible, sondern auch spirituell-kompetente Therapie anbieten zu können.

    Ein Beispiel für eine erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Theologen und Therapeuten bzw. Beratern lieferte Imam Magid. Er berichtete von seiner Zusammenarbeit mit dem Psychotherapeuten Abdallah Rothman. Bei der Beratung von muslimischen Ratsuchenden in seiner Gemeinde bot Imam Magid bei Themen wie Ehe und Partnerschaft nur in Ausnahmefällen ausschließlich eine auf der islamischen Jurisprudenz basierende Lösung für ein Problem an. Vielmehr verwies er die Ratsuchenden häufig zum Therapeuten, damit eine adäquate Analyse und gegebenenfalls Intervention für die gegebenen Probleme erarbeitet werden konnte. Dies geschah aufgrund seiner Überzeugung, dass ein Problem nur selten sofort durchschaubar ist und mit einer einfachen Antwort gelöst werden kann. Die Jurisprudenz kann wenig Lösungen für psychologische Konflikte anbieten kann. Imam Magids Aussage zufolge wäre eine solche Herangehensweise im Beratungsprozess sogar eine Ungerechtigkeit, die er im Dienste des Islam als beratender Imam begehen würde. Seine Überzeugung von der Wichtigkeit der Psychologie für das menschliche Wohlbefinden geht so weit, dass er eine Eheschließung in seiner Gemeinde nur unter der Bedingung durchführt, dass das Paar zuvor einige Sitzungen Eheberatung in Anspruch genommen hat, um feststellen zu können, ob sie den Anforderungen und Verantwortungen einer Ehe gewachsen sind.

    Um die Weisheiten, die im Koran verborgen sind, begreifen und in der Therapie aufgreifen zu können, ist es für Therapeuten und Berater von großer Bedeutung, sich mit den qur’anischen Texten auseinanderzusetzen. Ein mindestens auf den Grundlagen basierendes Islam-Studium stellt für alle Therapeuten und Berater, die islamische Inhalte in ihre Therapie und Beratungstätigkeit integrieren möchten, eine wichtige Komponente dar. Da ein umfassendes Studium nicht für alle möglich sein wird, stellt sich hier die Aufgabe der engen Zusammenarbeit von Therapeuten und Beratern mit islamischen Theologen. Dazu kann das Beispiel von Imam Magie und Abdallah Rothman als Vorbild dienen.

    Die systemische Psychotherapeutin Dr. Rabia Malik aus London stellte ihre Arbeit zur Integration von qur’anischen Geschichten in familientherapeutischen Settings vor. Sie schilderte ihre Zusammenarbeit mit Theologen in der Aufarbeitung und Interpretation von Geschichten aus dem Koran. Diese werden alltagsrelevant für die Patienten aufgearbeitet und die Lehren, die aus diesen Geschichten gezogen werden können, zu einem Beispiel und Hoffnungsträger für Ratsuchende herangezogen. Die Integration von islamischen Inhalten in die Therapie bzw. Beratung ist vielfältig möglich. Dies wird bereits deutlich, wenn man den Nutzen von „Dankbarkeit und Geduld, Demut und Sanftmut“ betrachtet, der aus den islamischen Lehren hervorgeht. Daher bleibt es offen und zu überlegen, ob neben dem Studium einer „islamischen Psychologie“ auch ein weiteres Curriculum für ein Studium einer „islamintegrierten Psychotherapie“ mit einem interdisziplinären Team von Theologen und Psychiatern, Psychologen und Psychotherapeuten konzeptioniert werden kann.

    https://www.islamicpsychology.org/iaip-conference

    Referenzen

    Awaad, R., & Ali, S. (2015). Obsessional Disorders in al-Balkhi′s 9th century treatise: Sustenance of the Body and Soul. Journal of Affective Disorders, 180, 185-189. doi:10.1016/j.jad.2015.03.003

    Awaad, R., & Ali, S. (2016). A modern conceptualization of phobia in al-Balkhi’s 9th century treatise: Sustenance of the Body and Soul. Journal of Anxiety Disorders, 37, 89-93. doi:10.1016/j.janxdis.2015.11.003

    Burton, R. (1621). The Anatomy of Melancholy. Oxford.

    El Shakry, S. O. (2018). The Arabic Freud: Psychoanalysis and Islam in modern Egypt. Woodstock, United Kingdom: Princeton University Press.

    Kaplick, P. M., & Rüschoff, I. (2018). Islam und Psychologie – Gegenstand und Historie. In I. Rüschoff & P. M. Kaplick (Eds.), Islam und Psychologie – Beiträge zu aktuellen Konzepten in Theorie und Praxis (pp. 25-84). Münster: Waxmann.