Mit dem Namen ALLAHs, des Barmherzigen, des Allerbarmers, bismi ʾllāhi ʾr-raḥmāni ʾr-raḥīm

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  • IASE Tagungsbeitrag 1998: Aspekte psychosozialer Beratung von Muslimen in der Schule

    Aus der Schatzkiste. Die Wenigsten wissen, dass die IASE seit den 1980er Jahren existiert. Wir haben alte Tagungsbeiträge ausgesucht, um sie wöchentlich hier zu posten. Viel Vergnügen beim Lesen.


    Asiye Köhler

    1          Allgemeines

    Ich möchte mich zuerst kurz vorstellen: Ich bin türkischer Abstammung, habe jedoch die meiste Zeit meines Lebens in Deutschland gelebt. Nach dem Studium in Ankara kam ich auf Einladung des DAAD nach Deutschland und bin nach einer kurzen Zeit der Selbständigkeit seit vielen Jahren als Lehrerin an einer Grundschule und jetzt an einem Gymnasium tätig.

     

    2         Konfliktfelder in der Schule bzw. der Jugendlichen

    Die wichtigsten Konfliktfelder in der Schule liegen im Bereich der unterschiedlichen Nationalitäten sowie Religionen (z.B. Alewiten, Sunniten). Hier will ich beispielhaft auf einen weiteren Bereich eingehen, den der Begegnung der Geschlechter.

     

    2.1       Geschlechtliche Konfliktfelder

    Es kommt immer wieder vor, dass zwei muslimische Jugendliche eine Liebesbeziehung beginnen. Wenn die Eltern davon erfahren, bricht für diese zumeist eine Welt zusammen. Oft sind es die Mütter, die verzweifelt beim Lehrer erscheinen und ihn drängen, aktiv einzugreifen und die Beziehung zu beenden. Wenn der Mann davon erführe, gebe es ein Familiendrama. Diese Konflikte haben gelegentlich dramatische Entwicklungen bis hin zum Suizidversuch. Beratung im engeren Sinne erfolgt hier nicht, auch weil die beteiligten Jugendlichen nicht gesprächsbereit sind. Überhaupt scheint auf Seiten der Eltern als auch der Kinder oft wenig Bemühen um ein gegenseitiges Verständnis, die Differenzen zwischen den Lebenswelten der Jugendlichen und der Eltern scheinen unüberbrückbar. Verbote der Eltern ohne gleichzeitiges Angebot von Alternativen tragen zur Verschärfung der Situation bei.

    Besonders bei Beziehungen zwischen muslimische Jugendlichen aus strengen Elternhäusern fällt im Vergleich zu deutschen immer wieder eine gewisse Maßlosigkeit und übersteigerte Leidenschaft auf. Selbst Hausmeister und Reinigungskräfte in den Schulen berichten immer wieder von Vorkommnissen auf Toiletten und in leeren Klassenzimmern am Nachmittag, die selbst nach „deutschen“ Maßstäben problematisch sind. Die Gründe hierfür sind vielfältig und können hier nicht im einzelnen diskutiert werden.

     

    3          Möglichkeiten der Beratung

    Eine schnelle und erfolgreiche Beratung von Schülern und Eltern sehen sich großen Hindernissen gegenüber. So scheinen viele Eltern keinen besonderen Wert auf eine Beratung durch den Lehrer zu legen. Nehmen sie einmal Kontakt auf, so bestehen sie häufig auf einem unverrückbar vorgefaßten Lösungsweg, der zumeist nur die abrupte Beendigung der Beziehung ihres Kindes als einzige Maßnahme akzeptiert. Hierbei versuchen sie oft, den Lehrer in ihrem Sinne zu instrumentalisieren.

     

    4          Maßnahmen

    Die vordringlichste Maßnahme ist der Versuch, eine regelmäßige Elternarbeit aufzubauen. Hier bestehen neben einem weitreichenden Desinteresse der Eltern weitere Probleme: Türkische Lehrer an den Schulen sind sehr um ihr westliches Profil bemüht und zeigen häufig eine deutliche, teilweise sogar aggressive Ablehnung des Islam. Doch auch bei den nichtmuslimischen Kollegen fehlt die notwendige Sensibilität gegenüber islamischen Belangen. Dass Fragen des Kopftuches oder eines getrenntgeschlechtlichen Schwimm- und Sportunterrichtes immer wieder mühsam geklärt werden müssen, ist ein Zeichen dafür. Nur selten fragen Lehrer Kinder ihrer Klasse von sich aus nach ihren Bedürfnissen als Muslime und signalisieren damit eine grundsätzliche Akzeptanz von Anderssein.

    Einer wichtige Maßnahme von grundsätzlicher Bedeutung ist die Einführung eines islamischen Religionsunterrichtes als Beitrag zu einer ethischen Erziehung der Kinder, der identitätsstiftend wirkt und viele Probleme bereits im Ansatz verhindern hilft.

  • Blogreihe: Die Terra Incognita der islamischen Psychologie – Woche 10

    Spirituelle Psychologie, Persönlichkeitspsychologie

    Die psychologische Tradition des Islams gibt seinen Anhängern verschiedene Bewältigungsmechanismen für alltäglichen Stress und Anforderungen zur Hand, um Angst und andere negative mentale Zustände zu verringern. Einige dieser Mechanismen manifestieren sich in der Gebetswaschung, dem rituellen Gebet, der Rezitation des Qur’ans, dem Gedenken Gottes oder auch dem Fasten (Awaad, 2018). So lesen wir:

     

    O ihr, die ihr glaubt, sucht Hilfe in der Geduld und im Gebet; wahrlich Allah ist mit den Geduldigen. (Qur’an, 2:153)

    Es sind jene, die glauben und deren Herzen Trost finden im Gedenken an Allah. Wahrlich, im Gedenken Allahs werden die Herzen ruhig. (Qur’an, 13:28)

     

    Husain (1998) diskutiert die spirituellen, psychologischen, physischen und moralischen Rollen des islamischen rituellen Gebets (in: Awaad, 2018). So beschreibt er, dass die Konzentration während des Gebets den Geist von der Wahrnehmung von Schmerz ablenkt. Im Einklang damit haben verschiedene empirische Studien zu unterschiedlichen Religionen festgestellt, dass Menschen, die religiös sind – ausgeschlossen der Extremisten – dazu tendieren, bessere physische und mentale Gesundheit genießen (Meador & Koenig, 2000). Weitere Ergebnisse legen eine heilsame Beziehung zwischen religiöser Involvierung und dem Gesundheitsstatus nahe (Levin & Chatters, 1998).

    Zusammen mit Abū Zaid al-Balchī gehört Abū Hāmid Muhammad ibn Muhammad al-Ghazālī (lat. Algazel) zu den meist rezipierten muslimischen Gelehrten in der psychologischen Literatur (Abu-Raiya, 2012; Ali, A.H., 1995; Alter, 1928; Keshavarzi & Haque, 2013; Skinner, 1989, 2010). Er wurde im Norden des heutigen Iran geboren und ist vor allem für sein ihya‘ `ulum al-din (Die Erneuerung der religiösen Wissenschaften) berühmt geworden (Khalili, 2008). Darüber hinaus setzen sich muslimische Psychologen auch mit seinen Ma’arij al-Quds fi Madarij Ma’rifat al-Nafs und Kimya’s al-Sa’ada auseinander. Al-Ghazali soll eine der grundlegendsten und systematischsten Analysen der für die Psychologie relevanten Begriffe im Qur’an, wie z.B. ʿaql (arab. Verstand bzw. Kognition) oder rūḥ erarbeitet haben (Al-Daghistani, 2014; Düzünger & Şentepe, 2015). In der psychologischen Literatur werden ihm ein Persönlichkeitskonzept und die Grundlegung einer spirituellen Psychologie zugeschrieben: Sein Konzept, welches oft als Persönlichkeitskonzept (Abu-Raiya, 2012), Modell des Selbst (Skinner, 1989, 2010; Vahab, 1996) bzw. Modell seelischer Zusammenhänge (Keshavarzi & Haque, 2013) propagiert wird, gilt als bedeutendster Beitrag eines muslimischen Gelehrten zum Verständnis der menschlichen Natur. Quasem (1981) ist der Meinung, dass Al-Ghazali im Vergleich mit anderen Gelehrten psychologische Gegenstandsbereiche am weitläufigsten einbezogen hat. Bakhtiar (2002) beschreibt die traditionelle/spirituelle Psychologie Al-Ghazalis dahingehend, dass diese auf die Selbstentwicklung ausgerichtet ist und sich vor allem mit affektiven, kognitiven und behavioralen Inhalten beschäftigt. Er soll sich mit Emotionen, Motivation, lerntheoretischen Prinzipien und den Wahrnehmungsleistungen auseinandergesetzt haben (Vahab, 1996; Khalili et al., 2002). Alter (1928) und liefert außerdem eine psychologische Beschreibung des Konzepts der Ekstase und des Dhikrs,.

     

    Referenzen

    Abu-Raiya, H. (2012). Towards a systematic Qura’nic theory of personality. Mental Health, Religion & Culture15(3), 217-233. doi:10.1080/13674676.2011.640622

    Al-Daghistani, R. (2014). Al-Ghazzali und die transzendentale Anthropologie. In M. Karimi & M. Khorchide (Eds.), Jahrbuch für islamische Theologie und Religionspädagogik Band 3: Muslimische Gelehrte neu gelesen (pp. 135-171). Freiburg: Kalam Verlag.

    Ali, A. H. (1995). The Nature of Human Disposition: al-Ghazali’s Contribution to an Islamic Concept of Personality. Intellectual Discourse3(1), 51-64.

    Alter, S. N. (1928). Studies in the Psychology of Islam (Doctoral dissertation). Retrieved from Kennedy School of Missions at the Hartford Seminary Foundation.

    Awaad, R. (2018, October). Historical Perspectives and Modern Clinical Implications for the development of Islamic Psychology. Paper presented at the conference of the International Association of Islamic Psychology, Istanbul, Turkey.

    Bakhtiar, L. (2002). Al-Ghazzali: His psychology of the greater struggle. Chicago, IL: ABC International Group.

    Düzgüner, S., & Şentepe, A. (2015). Characteristic Themes in Psychology of Religion in Turkey: Muslim Thinkers’ Views on Human Psychology and Psychology of Sufism. In Z. Ağilkaya-Şahin, H. Streib, A. Ayten, & R. W. Hood (Eds.), Psychology of Religion in Turkey (pp. 31-50). Leiden, Niederlande: Brill.

    Keshavarzi, H. & Haque, A. (2013). Outlining a Psychotherapy Model for Enhancing Muslim Mental Health Within an Islamic Context. International Journal for the Psychology of Religion, 23(3), 230-249. doi:10.1080/10508619.2012.712000

    Khalili, S., Murken, S., Reich, K. H., Shah, A. A., & Vahabzadeh, A. (2002). Religion and Mental Health in Cultural Perspective: Observations and Reflections After The First International Congress on Religion and Mental Health, Tehran, 16–19 April 2001. The International Journal for the Psychology of Religion, 12(4), 217–237.

    Khalili, S. (2008). Psychologie, Psychotherapie und Islam – Erste Entstehungsphasen einer Theorie aus islamischer Psychologie. VDM Verlag.

    Levin, J. S., & Chatters, L. M. (1998). Research on religion and mental health. Handbook of Religion and Mental Health, 33-50. doi:10.1016/b978-012417645-4/50070-5
    Meador, K. G., & Koenig, H. G. (2000). Spirituality and Religion in Psychiatric Practice: Parameters and Implications. Psychiatric Annals30(8), 549-555. doi:10.3928/0048-5713-20000801-10

    Quasem, M. A. (1981). Psychology in Islamic ethics. The Muslim World71(3-4), 213-227.

    Skinner, R. (1989, Juli). Traditions, paradigms and basic concepts in Islamic psychology. Paper vorgestellt auf Theory and Practice of Islamic Psychology, London.

    Skinner, R. (2010). An Islamic approach to psychology and mental health. Mental Health, Religion & Culture, 13(6), 547-551. doi:10.1080/13674676.2010.488441

    Vahab, A. A. (1996). Section I: An Introduction to Islamic Psychology. In An Introduction to Islamic Psychology. New Delhi: Institute of Objective Studies.

  • Blogreihe: Die Terra Incognita der islamischen Psychologie – Woche 9

    Seelenlehre, Wahrnehmung, psychiatrische Diagnostik und Behandlungsmethoden

    Die sogenannte Blütezeit des Islams, welches sich laut einiger Autoren von 622 bis 1492 n.Chr. erstreckte, erfuhr eine Expansion wissenschaftlicher Erkenntnis (Mohmammad et al., 2018). Das islamische Reich erstreckte sich dabei von Nordafrika und Spanien bis nach Zentralasien. Das Interesse der muslimischen Gelehrten Glaube und Verstand durch eigenständige Urteilsbemühung – Idschtihād – zu kombinieren, eröffnete viele Bereiche der wissenschaftlichen Untersuchung (Mohammad et al., 2018). Schulen waren mit Moscheen verbunden und die Bildung in Medizin, Pharmakologie, Botanik, Geologie, Geographie, Soziologie, Chemie, Physik, Mathematik, Astronomie, Literatur und Philosohophie wurde institutionalisiert. Die Großstädte des islamischen Reichs fungierten als internationale Zentren der Kultur und Bildung und nahmen eine Schlüsselrolle in der Verbreitung der Wissenschaften und der Weiterentwicklung der Zivilisation ein. Muslime, Christen und Juden aus allen Bereichen der Welt strömten zu diesen Zentren mit gleichem Recht an der Zivilisation und der Wissenschaft. Arabisch war die offizielle Sprache der Wissenschaft für fünf Jahrhunderte – mit vielen nicht-arabischstämmigen Wissenschaftlern, die entscheidend zum Wissensfortschritt beigetragen haben (Khaleel, 2003; Mohammad et al., 2018).

    Abū Alī al-Husain ibn Abd Allāh ibn Sīnā wurde im Süden des heutigen Usbekistan geboren. Er ist insbesondere für sein Werk al-Qānūn fī ṭ-Ṭibb (lat. Canon medicinae) bekannt, ein medizinisches Standardwerk, das über Jahrhunderte in Europa unterrichtet wurde und welches ein Kapitel zu neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen enthält (Payk, 2005). Weitere psychologisch relevante Schriften sind al-Shifa‘ und dessen verkürzte Version Kitāb al-Najāt (Attar, 2014; Rahman, 1952). Darüber hinaus findet sich von ihm eine Abhandlung über die Seele (Übersetzung bei: Bakhtiar, 2013). Er beschäftigte sich mit der Wahrnehmung, lerntheoretischen Prinzipien (insbesondere der Konditionierung) und sensorischen Fähigkeiten, neuropsychiatrischen Phänomenen, der Psychophysiologie und Psychosomatik (Haque, 2004; Husain, 2017; Ibrahim, 2012; Khalili et al., 2002; Vahab, 1996). Syed (2002) beschreibt spezifischer, dass Ibn Sina sich intensiv mit den physiologischen Grundlagen affektiver Störungen auseinandersetzte. Baibai (1999) liefert eine umfangreiche Beschreibungen der Hauptklassen der Seelenkräfte Ibn Sinas, seine Vorstellungen über die Krankheitsursachen unter spezifischer Berücksichtigung der Erkrankungen des Geistes und psychiatrischer Krankheitsbilder und eine Beschreibung der diagnostischen Verfahren Ibn Sinas.

     

    Referenzen

    Attar, M. F. (2014). Faḫr al-Dīn al-Rāzī on the Human Soul: A Study of the Psychology Section of al-Mabāḥiṯ al-mašriqiyya fī ʿilm al-ilāhiyyāt wa-l-ṭabīʿiyyāt (Doctoral dissertation, McGill University, Montreal, Kanada). Geladen von: http://digitool.library.mcgill.ca/webclient/StreamGate?folder_id=0&dvs=1508178326200~439

    Bakhtiar, L. (2013). Avicenna – on the science of the soul. Chicago, IL: Great Books of the Islamic World.

    Haque, A. (2004). Psychology from Islamic Perspective: Contributions of Early Muslim Scholars and Challenges to Contemporary Muslim Psychologists. Journal of Religion and Health, 43(4), 357-377. doi:10.1007/s10943-004-4302-z

    Husain, A. (2017). Contributions of Arab Muslim Scholars to Psychology. In A. Husain (Ed.), Contemporary Trends in Islamic Psychology (pp. 13-25). Hdyerabad, Indien: Centre for Study and Research.

    Ibrahim, A. A. (2012). Saudi Arabia. In D. B. Baker (Ed.), The Oxford Handbook of the History of Psychology: Global Perspectives (pp. 1-20). New York: Oxford University Press.

    Khaleel, K. (2003). Science in the name of God: How men of God originated the sciences. Buffalo Grove, IL: Knowledge House.

    Khalili, S., Murken, S., Reich, K. H., Shah, A. A., & Vahabzadeh, A. (2002). Religion and Mental Health in Cultural Perspective: Observations and Reflections After The First International Congress on Religion and Mental Health, Tehran, 16–19 April 2001. The International Journal for the Psychology of Religion, 12(4), 217–237.

    Mohammad, A., Elzamzamy, K., Fereydooni, S., Gamar, M., & Awaad, R. (2018). Mental Health in the Islamic Golden Era: The Historical Roots of Modern Psychiatry, in H. S. Moffic, J. Peteet, A. Hankir, R. Awaad, Islamophobia & Psychiatry: Recognition, Prevention, and Treatment (in press).

    Payk, T. (2005). Psychiatrie im frühen Islam. In H. J. Assion (Ed.), Migration und seelische Gesundheit (pp. 21-28). Heidelberg, Deutschland: Springer, 21-28.

    Rahman, F. (1952). Avicenna’s Psychology. London: Oxford University Press.

    Syed, I. B. (2002). Islamic Medicine: 1000 years ahead of its time. Journal of Islamic Medical Association2, 2-9.

    Vahab, A. A. (1996). Section I: An Introduction to Islamic Psychology. In An Introduction to Islamic Psychology. New Delhi: Institute of Objective Studies.

  • IASE Tagungsbeitrag 1998: Psychologische Beratung für Muslime und ihre Angehörigen

    Aus der Schatzkiste. Die Wenigsten wissen, dass die IASE seit den 1980er Jahren existiert. Wir haben alte Tagungsbeiträge ausgesucht, um sie wöchentlich hier zu posten. Viel Vergnügen beim Lesen.


    Malika Laabdallaoui

    Vor etwa einem Jahr habe ich angefangen, im Islamischen Bildungs- und Informationszentrum (Ibiz) in Mainz psychologische Beratung für Muslime und ihre Angehörige anzubieten. Ich mußte die verantwortlichen Geschwister erst davon überzeugen, dass ich für dieses Angebot keine Gegenleistung verlange und dass sie keinen Schaden davon haben. Ich selbst habe dadurch Gelegenheit, praktische Erfahrungen in der Beratung und Therapie von Muslimen zu sammeln.

    Die Nachfrage ist groß. Den Muslimen fällt es leichter, in eine islamische Einrichtung zu kommen, wenn sie wissen, dass es jemand gibt, der sie in ihrer religiösen und traditionellen Erlebniswelt verstehen kann. Einige sagen, sie seien froh, nicht viel von ihrem Glauben erzählen zu müssen, um verstanden zu werden.

    Es ist mir wichtig, dass das Zentrum relativ unabhängig ist, also keiner Moschee und auch keiner deutschen Institution angeschlossen ist.

    Als ich diese Arbeit begann, dachte ich eher an alltägliche Probleme wie Erziehungsprobleme, Schwierigkeiten in der Ehe, Schulprobleme usw. Ich mußte jedoch feststellen, dass sich Muslime wegen solcher Schwierigkeiten, mit denen deutsche Familien oft in die Beratungsstelle kommen, kaum Hilfe holen. Es scheint, dass bei Muslimen die Probleme schon sehr groß sein müssen, bevor sie mit Dritten darüber sprechen können. Diese Arbeit hat mir erst bewußt gemacht, wie belastet unsere muslimischen Familien oft sind und wie groß die Ausweglosigkeit dort sein kann. Es kommen Menschen, vor allem Frauen und junge Mädchen, mit Schwierigkeiten und Schicksalen, mit denen ich erst lernen mußte umzugehen. Sie reichen von Selbstmordversuchen, sexuellem Mißbrauch durch Familienangehörige und nichtehelichen Intimbeziehungen bis hin zu Mordversuchen durch den Ehemann. Zur Verdeutlichung möchte ich drei Beispiele aus unterschiedlichen Problembereichen bringen:

     

    Fallbeispiel 1:

    So erzählte eine junge Frau, Tunesierin:

    „Als wir geheiratet haben, hat mein Mann gesagt, wenn du nicht gleich schwanger wirst, bringe ich dich um und heirate eine andere. Er sagte, er würde mich zerstückeln, in blaue Säcke verpacken und in den Müll werfen. Er schlug mich jeden Tag. Als ich schwanger wurde, wollte er, dass ich das Kind ab-treiben lasse, da er sich nicht durch ein Kind an mich binden lassen wolle. Da meine Furcht vor Allah größer ist, weigerte ich mich. Er schlug jeden Tag auf mich ein. Manchmal kam er in der Pause von der Arbeit, verprügelte mich und ging wieder. Außer seiner Familie kenne ich niemanden hier in Deutschland. Ich lebe seit einem Jahr hier, durfte aber nie aus der Wohnung gehen. Er schließt immer die Tür ab, wenn er geht. Ein Telefon haben wir nicht. Als ich schwanger wurde, brachten sie mich zum Arzt. Zu Hause zerriß er den Mutterpaß und sagte, ich brauche ihn sowieso nicht, denn ich würde vorher sterben. Ein mal kam er wieder in der Pause von der Arbeit und sagte: „Du wirst heute sterben! Ich bringe dich um.“ Er schlug mich zu Boden, trat mit den Füßen in meinen Bauch und schlug auf mich so lang ein, bis ich glaubte, keine Luft mehr zu bekommen. Nach einiger Zeit hörte er auf mit der Begründung, dass er wieder zur Arbeit gehen müsse, sonst wurde er mich gleich erledigen. Aber er werde zurück kommen. Als er weg war sprang ich aus dem Fenster und ging zu einer Nachbarin, die ich vorher aus dem Fenster als Tunesierin erkannt habe und bat sie, mich telefonieren zu lassen. Ich rief meine Schwiegermutter an und erzählte ihr, was passiert war und dass ich nicht bei ihrem Sohn bleiben kann. Ich hatte unheimliche Angst. Als sie kam, schlug sie mich vor der Nachbarin ins Gesicht. Sie regte sich darüber auf, dass ich zu einer fremden Frau gegangen war, aber ich hatte keine andere Wahl. Anschließend brachte mich die Familie in eine Wohnung, die meine Schwägerin wohl angemietet, aber nicht renoviert und eingerichtet hatte. Ich bekam dort eine Matratze, Decke und Kissen. Zum Essen brachten sie mir alle zwei Tage einen Fladen Brot. Ich wurde immer schwächer und wurde dann so krank, dass mich die Schwiegermutter doch zum Arzt brachte. Als sich der Arzt darüber aufregte, dass ich nicht zu den Untersuchungen kam, sagte sie, ich wäre die ganze Zeit in Tunesien gewesen. Da das Kind sich nicht altersgemäß entwickelt hatte, sollte ich viel liegen und mich schonen. Sie (die Schwiegermutter) nahm mich dann mit in ihre Wohnung und ließ mich dort ununterbrochen arbeiten. Obwohl sie bis dahin mit der Waschmaschine gewaschen hatte, mußte ich mit der Hand für die ganze Familie waschen. Oft nahm sie saubere Wäsche aus dem Schrank und zwang mich, sie noch mal waschen und zu bügeln.

    Als ich zur Entbindung ins Krankenhaus kam, besuchte mich mein Mann ein einziges mal. Er sprach kein Wort mit mir, sah sich das Kind an, redete mit der Krankenschwester und ging. Ich schämte mich sehr vor meinen Zimmernachbarinnen. Nach der Entbindung kam ich wieder zur Schwiegermutter, wo ich wieder die ganze Hausarbeit übernehmen mußte. Ich hätte so gerne mein Kind gestillt, aber ich durfte nicht, denn es sollte sich nicht an meine Milch gewöhnen. Essen durfte ich außer Brot und Kaffee nichts, damit sich die Milch nicht entwickelt. Einmal mußte ich einen schlecht gewordenen Eintopf essen. Sie haben mich dazu gezwungen. Ich habe heute noch Magenschmerzen davon. Einmal hatte ich gekocht. Wie so oft nahmen sie auch diesmal das Essen und gingen in meine Wohnung. Mir ließen sie wie immer nichts zurück und schlossen die Tür ab. Später kam dann mein Schwiegervater von der Arbeit und vergaß die Tür hinter sich abzuschließen. Als er ins Bad ging, nahm ich das Kind und rannte raus.“

    Draußen klingelte die junge Frau bei Nachbarn, die die Polizei holten, die sie anschließend in ein Frauenhaus brachte. Weil sie kaum Deutsch spricht, war ich die erste Person, der sie sich anvertrauen konnte. Ich bewundere an diese Frau ihren starken Glauben, den sie in dieser ganzen Misere nie verloren hat und der ihr geholfen hat, nicht den Verstand zu verlieren.

    Dieser Fall ist sicherlich nicht die Regel, doch kommt Gewalt sehr oft in muslimischen Familien vor. Häufig nutzen die Männer die hilflose Situation der Frauen schamlos aus.

     

    Fallbeispiel 2:

    Ein junges türkisches Mädchen erzählt, dass sie und ihre Schwester als Kinder jahrelang von ihrem Onkel sexuell mißbraucht wurden. Sie durften nichts davon sagen. Als sie mit 15 Jahren doch den Mut aufbrachte, es der Mutter zu erzählen, glaubte diese ihr nicht und bestrafte sie für ihre Lüge. Seitdem hat sie das Vertrauen in die Mutter ganz verloren, und die Sache mit dem Onkel wurde vergessen.

    Das Mädchen hat jetzt ein gestörtes Verhältnis zu sich selber und würde am liebsten sterben. Einen Selbstmordversuch mit Tabletten hat sie bereits unternommen. Obwohl sie, wie sie erzählt, betet und fastet, ist ihr Glaube zutiefst erschüttert.

    Zu Beginn meiner Arbeit war es für mich unvorstellbar, dass regelmäßig betende und fastende Muslime Ehebruch begehen, aber auch das kommt vor.

     

    Fallbeispiel 3:

    Eine Frau, die ganz normal mit ihrem Mann und ihren 2 Kindern lebt, hatte über 5 Jahre eine Beziehung zu dem  Freund ihres Mannes. Die beiden Männer wiederum gehen regelmäßig zusammen in die Moschee um zu beten. Weil sie dieses Doppelleben nicht mehr ertragen konnte und sich dies auf ihre psychische Gesundheit auswirkte, kam sie in die Beratung.

    Die Beispiele können beliebig fortgeführt werden. Ich habe absichtlich die schwierigeren Beispiele gewählt, um zu zeigen, was sich in muslimischen Familien abspielen kann und wie groß der Bedarf an fachlicher Unterstützung ist. Da ich die psychischen Belastungen der Sitzungen noch in deutlicher Erinnerung habe, möchte ich hier die Notwendigkeit von begleitender Supervision oder Balintgruppen für die Berater betonen.

    Zum Teil auf dieser Arbeit basierend hat sich ein Projekt in der städtischen Erziehungsberatungsstelle entwickelt. Dort besteht zwar die Möglichkeit eines fachlichen Austausches mit Kollegen, jedoch ersetzt diese nicht die Zusammenarbeit mit muslimischen Fachleuten. Ich muß klären, wie ich als Muslimin und meinen Wertvorstellungen mit dem Erlebten aus den Sitzungen umgehe.

    Wichtig ist, dass wir als Muslime irgendwo anfangen, in der Moschee, in einem Verein oder an anderen, vielleicht auch nichtmuslimischen Stellen. Mit unserer Arbeit können wir deutlich machen, dass Muslime muslimische Berater brauchen und dass sie mit ihren Problemen eher zu Glaubensgeschwistern gehen. Ist die Arbeit erfolgreich, gelingt es vielleicht, das Interesse eines Vereins oder der Stadtverwaltung zu wecken und eine Beratung für Muslime vielleicht in einen bestehenden sozialen Dienst zu integrieren.

    Das Ziel muß sein, dass wir als Muslime sichtbare, qualifizierte psychosoziale Arbeit leisten, die öffentliche und evtl. finanzielle Anerkennung bekommt.

  • Blogreihe: Die Terra Incognita der islamischen Psychologie – Woche 8

    Moralphilosophie und Seele, Anlage-Umwelt-Diskussion

    Mohammad und Kollegen (2018) legen dar, dass die Bewahrung der griechischen Medizintradition während des 9. und 19. Jahrhundert griechisch-philosophische Ideen in vielen Bereichen beförderte, wodurch auch muslimische Gelehrte griechisches Wissen in ihre medizinischen Schriften integrierten. So wurden die Lehren des berühmten griechischen Arztes Galen, die die physiologischen Gründe für Krankheiten und ihre physischen Behandlungen betonten, in das islamische Curriculum aufgenommen worden. In klarem Unterschied zur griechischen Tradition, die durch Beobachtung und Theoretisierung gekennzeichnet ist, überprüften die Muslime jedoch die antiken Theorien mit ihren eigenen Vorstellungen und Ideen und, so argumentieren Mohammad und Kollegen (2018) weiter, hätten sie erstmals die wissenschaftliche Methode des Experiments in ihrer Theoriebildung zugrunde gelegt (Briffault, 1938). Im neunten Jahrhundert, als die Zusammentragung und Authentifizierung des Ahadith in Baghdad kulminierte, näherten sich muslimische Gelehrte der Medizin durch die Berücksichtigung des griechisch-philosophischen und wissenschaftlichen Gedankenguts und kombinierten dieses mit dem theologischen Prinzip, dass Gott der letztendliche Schaffende aller Dinge ist. Dadurch wurde die islamische Interpretation der göttliche Begründung von Ursache und Wirkung übernommen und die Methoden der Forschung und medizinischen Intervention auf solche beschränkt, die physikalischen Prinzipien und dem islamischen Recht nicht widersprechen (Dols & Immisch, 1992).

    Abū ʿAlī Aḥmad ibn Muḥammad ibn Yaʿqūb ibn Miskawayh lebte im Gebiet des heutigen Iran. Er befasste sich in seinem Kitāb Tahdhīb al-akhlāq (Reinheit der Dispositionen bzw. Kultivierung der Sitten) und Al-Fawz al-Asghar (Der kleinere Sieg) mit einem System der Ethik und Moralphilosophie, stellte eine enge Verbindung zwischen Fragestellungen der Moral, Seele und dem psychologischen Wohlbefinden her und beschrieb dabei die Natur der Seele in ihrer Orientierung zum Guten (Husain, 2017). Er soll sich auch zur den Konzepten der Selbstverstärkung und Response-Cost-System (Haque, 2004) und zur psychospirituellen Behandlung von Angst und Depression geäußert haben (Mohammed et al., 2018). Wie später auch Al-Ghazali, führte Ibn Miskawayah eine Anlage-Umwelt-Diskussion (Mohammad et al., 2018).

    Referenzen

    Briffault, R. (1938). The Making of Humanity. London: George Allen & Unwin Ltd.

    Dols, M. W., & Immisch, D. E. (1992). Majnūn: The madman in medieval Islamic society. Oxford: Clarendon Press.

    Haque, A. (2004). Psychology from Islamic Perspective: Contributions of Early Muslim Scholars and Challenges to Contemporary Muslim Psychologists. Journal of Religion and Health, 43(4), 357-377. doi:10.1007/s10943-004-4302-z

    Husain, A. (2017). Contributions of Arab Muslim Scholars to Psychology. In A. Husain (Ed.), Contemporary Trends in Islamic Psychology (pp. 13-25). Hyderabad, Indien: Centre for Study and Research.

    Mohammad, A., Elzamzamy, K., Fereydooni, S., Gamar, M., & Awaad, R. (2018). Mental Health in the Islamic Golden Era: The Historical Roots of Modern Psychiatry, in H. S. Moffic,, J. Peteet, A. Hankir, R. Awaad, Islamophobia & Psychiatry: Recognition, Prevention, and Treatment (in press).