Mit dem Namen ALLAHs, des Barmherzigen, des Allerbarmers, bismi ʾllāhi ʾr-raḥmāni ʾr-raḥīm

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  • Blogreihe: Die Terra Incognita der islamischen Psychologie – Woche 17

    Somatische Therapien und Psychotherapie in islamischen Krankenhäusern

    In unserem letzten Beitrag der Blogreihe zur Terra Incognita der islamischen Psychologie setzen wir uns mit der somatischen Therapie und Psychotherapie in der islamischen Blütezeit auseinander.

    Somatische Therapien

    In der Überzeugung, dass psychische Störungen physischer oder organischer Natur sind, neigten muslimische Ärzte dazu, somatische Behandlungen zu verschreiben, nachdem sie die Symptome ihrer Patienten analysiert hatten. Die Literatur zeigt zahlreiche Fallstudien, in denen Ärzte einen Großteil ihrer Behandlungsmethoden darstellten. Detaillierte Chroniken wurden aufgezeichnet, um physiologische und pathologische Informationen zu Einzelfällen und deren Behandlung zu beschreiben. Solche klinischen Erfahrungen wurden häufig zwischen Ärzten und Lehrern weitergegeben, was zu einer „Datenbank“ mit medizinischem Wissen und Referenzen führte. Medizinische Abhandlungen zeigen klar, dass jeder Arzt die Behandlungsmethoden anderer Ärzte auf ihrem Gebiet kannten.

    Für jede in den Texten beschriebene Krankheit gab es Aufzeichnungen zu verschriebenen Behandlungen sowie Dosierungsempfehlungen, Dauer und eine Liste der medizinischen Inhaltsstoffe. Die Medizin wurde in verschiedenen Formen wie Cremes, Kräutermischungen, festen Pillen und Flüssigkeiten zur Verfügung gestellt. Neben den pflanzlichen und organischen Medikamenten umfassten andere üblicherweise empfohlene somatische Therapien Übungsroutinen, entspannende Umgebungen (d.h. durch Musik und Spaziergänge im Garten angelegt) und Aktivitäten wie Geschichtenerzählen und Singen.

    Aus den Unterlagen geht auch hervor, dass es üblich war, eine Kombination von Therapien für eine ausgewogene und umfassende Behandlung zu verschreiben. Zum Beispiel gibt Ibn Sina detaillierte Anweisungen für die Durchführung der Phlebotomie zur Behandlung der Melancholie, während er gleichzeitig seine Patienten anweist, ein Bad zu nehmen oder heiße Öle zu verwenden und außerdem Übungen durchzuführen, die das Herz stärken. Hinweise auf eine solche Kombination von somatischer Therapie mit anderen Therapien (z. B. Verhaltens- und psychotherapeutische Praktiken) zeigen, wie umfassend sich die Ärzte der Behandlung ihrer Patienten mit psychischen Erkrankungen gewidmet haben (Awaad et al., 2019).

    Psychotherapie

    Ibn Hazm (2000) behauptet, dass das universelle Ziel, „frei von Angstzuständen“ zu sein, die Menschen zum Handeln im Leben antreibt. Al-Balkhi betonte auch, dass selbst „normale Menschen“ von psychischen Symptomen wie Angst, Ärger und Trauer geplagt werden. Das meiste davon sei erlerntes Verhalten und beziehe sich darauf, wie verschiedene Personen auf emotionalen Stress reagieren. Seine ausführlichen Diskussionen über die Veränderung des fehlerhaften Denkens und der irrationalen Überzeugungen, die für ihre emotionalen Zustände verantwortlich sind, standen vor elf Jahrhunderten im Mittelpunkt seiner Entwicklung einer kognitiven Therapie (Badri, 2013). Zahlreiche Texte muslimischer Gelehrter beschrieben kognitive Komponenten von Depression und Traurigkeit, Angst und Unwohlsein Angst, Obsessionen und Ärger im Detail und schlugen eine Vielzahl von Therapien und Behandlungen vor.

    Al Balkhis Grundlagenarbeit bei der Entwicklung der kognitiven Therapie umfasste eine Reihe von Merkmalen, die auch in der heutigen modernen Therapie anerkannt werden. Zum Beispiel wird sein präventiver Ansatz, der Menschen dazu anregt, gesunde Erkenntnisse für Notfälle zur Verfügung zu haben, mit der heutigen „rationalen kognitiven Therapie“ verglichen (Badri, 2013). Er und andere prominente muslimische Gelehrte wie Al Ghazali, Al Kindi, Ibn Hazm und Ibn Taymiyyah demonstrierten in ihren Behandlungen Praktiken der wechselseitigen Hemmung, die für die heutige Verhaltenstherapie grundlegend sind. Miskawayh, einer der ersten muslimischen Ethiker des 10. Jahrhunderts, entwickelte eine Theorie, in der die Wandlungsfähigkeit des menschlichen Verhaltens zur Förderung der Disziplin beschrieben wurde. Dies war für viele spätere Arbeiten von grundlegender Bedeutung, die darauf abzielten, Verhaltensweisen, Einstellungen und Verhaltensweisen durch Lernprozesse, Training und schrittweise Schritte der Verhaltensgestaltung zu verändern (Awaad et al., 2019).

    Die moralische Entwicklung war ein bedeutender Zweig der islamischen Psychotherapie. Viele Wissenschaftler widmeten sich Monographien, um sich mit Verhalten und ethischer Entwicklung auseinanderzusetzen. Dazu gehörten detaillierte Beschreibungen von Ethik und Methoden zum Erwerb höherer Moralität sowie von moralischen Erkrankungen wie Selbstsucht, Lust, Habsucht usw. und Methoden zu deren Behandlung. Gelehrte wie Al Ghazali definierten die moralische Entwicklung als ein Mittel, um nicht alle Formen von Wünschen und Bedürfnissen zu unterdrücken, sondern um Gleichgewicht und Selbstdisziplin zu üben. Es ist auch bekannt, dass religiöse Überzeugungen einen starken Einfluss auf die Emotionen und Verhaltensweisen einer Person haben (Awaad et al., 2019).

    Neben Selbstdisziplin wurden Konzepte der Verstärkung, Belohnung und Bestrafung beschrieben. Beispielsweise unterschied al-Razi zwischen den Erfahrungen der inneren positiven Verstärkung und der äußeren positiven Verstärkung, wenn er neue Verhaltensweisen und Verhaltensweisen erlernt. Das Verstehen und Verwenden von Verstärkungsmitteln ist für die modernen Theorien des Behaviorismus, die erst im späten 19. Jahrhundert entwickelt wurden, unerlässlich. Werke von Miskawayh und al-Ghazali beschreiben zum Beispiel eine Strategie, die den sogenannten „Antwortkosten“ ähnelt, um unerwünschte Verhaltensweisen zu beseitigen, wie Bestrafung / Reinigung durch psychologische, physische oder spirituelle Mittel, wie z. B. das Zahlen von Geld an die Armen, das Fasten. etc. Obwohl es nicht ungewöhnlich war, solche religiösen Rituale in therapeutische Behandlungen einzubeziehen, da sie sich direkt an den Qur’an halten, integrierten einige muslimische Gelehrte, Philosophen und Ärzte trotz einiger religiöser Kontroversen viele ihrer ererbten griechischen Lehren. Zum Beispiel beeinflusste die griechisch-musikalische Tradition muslimische Philosophen wie al-Kindi, die Musik zu einem Bestandteil des allopathischen Behandlungssystems zu machen, auch wenn dies von einigen Interpreten des islamischen Gesetzes nicht gern gesehen wurde. Diese Beispiele sind nur einige davon und veranschaulichen die Entstehung von Theorien und Praktiken der Psychotherapie, die von Intellektuellen dieser Zeit mit der Integration verschiedener Traditionen übernommen wurden (Awaad et al., 2019).

    Referenzen

    Awaad, R., Mohammad, A., Elzamzamy, K., Fereydooni, S., & Gamar, M. (2019). Mental Health in the Islamic Golden Era: The Historical Roots of Modern Psychiatry. In H. S. Moffic, J. Peteet, A. Z. Hankir, & R. Awaad (Eds.), Islamophobia and Psychiatry: Recognition, Prevention, and Treatment (pp. 3-18). Basingstoke, England: Springer.

    Badri, M. (2013). Translation and annotation of Abu Zayd al-Balkhi’s Sustenance of the Soul. Richmond, VA: International Institute of Islamic Thought.

    Ibn Hazm, A. A. (2000). Al-Akhlaq wa al-Siyar (Morals and Behavior). Beirut, Lebanon: Dar Ibn Hazm

  • IASE Tagungsbeitrag 2000: Gewalt in der Praxis der Beratung

    Aus der Schatzkiste. Die Wenigsten wissen, dass die IASE seit den 1980er Jahren existiert. Wir haben alte Tagungsbeiträge ausgesucht, um sie wöchentlich hier zu posten. Viel Vergnügen beim Lesen.


    Gewalt in der Praxis der Beratung

    Kesmat Gössinger

    Nach dem Theorieschwerpunkt des letzten Arbeitstreffens möchte das Thema heute aus praktischer Sicht angehen. Ich selbst habe viel zu tun mit Klienten aus islamisch-arabischen Ländern, zumeist arabisch sprechend. Ich habe drei Fälle aus meiner Praxis ausgewählt, die alle mit Gewalt zu tun ha­ben, und zwar in ganz unterschiedlichen, jedoch typischen Formen.

    Mein größtes Problem in der Begegnung mit solchen Fällen ist, dass ich manchmal islamischen Fami­lien begegne, deren gesamtes Handeln nur sehr wenig islamisch ist. Ich bin dann oft hilflos und frage mich, ob ich die Menschen etwa umerziehen soll oder die ganzen Therapiesitzungen damit zu verbringen, zu zei­gen, was islamisch und was nicht. Doch ich denke, dass unsere therapeutische Aufgabe auf einer ande­re Ebene liegt.

    Die ganze Sache ist äußerst komplex. Begegne ich einem Vater, der seine Tochter gegen ihren Willen verheiraten will, mit dem Hinweis auf einen Hadith und der Tatsache, dass das nicht ethisch ist, so kommt er mir mit anderen Hadithen und Texten, die sein Verhalten rechtfertigen. Und dann stecken wir in einem Streitgespräch von Meinungen und Glaubenssätzen. Ich sage mir irgendwann, das ist doch keine Therapie, was ich hier mache. Ich denke, dass viele von Euch, die in diesem Bereich arbei­ten, diese Situationen aus eigener Erfahrung kennen.

    Weiterhin stellt sich mir die Frage, was eine islamische Familie überhaupt ist. Eine Definition ist auch bei Rückgriff auf die Quellen schwierig, denn ich habe immer auch mein Verständnis eines islami­schen Familiensystems im Kopf. Ebenso geht es den anderen. Jeder Klient hat seine eigene Geschich­te, seine persönliche, seine ethnische, seine geographische Geschichte, und überall wird die Familie etwas anders definiert. Wir sind alles Individuen, die eine einheitliche Theorie leben wollen und diese dennoch alle einzeln prägen.

    Wenn ich also über die islamische Familie etwas sage, dann habe ich meine Vorstellung davon im Kopf, meine Vorstellung als eine in Kairo geborene und aufgewachsene Ägypterin.

    In allen drei folgenden Fällen wird ein Machtmißbrauch deutlich. Im ersten Fall geschieht der Miß­brauch durch einen Mann, im zweiten Fall durch jemanden mit einer Autorität in einer Gemeinde und im dritten Fall durch eine ganze Familie.

    Mein erstes Beispiel handelt von einem 20-jährigen Mädchen, das im 4. Monat schwanger zu mir in die Beratungsstelle kam. Die Eltern des Mädchens stammen aus Syrien, sie selbst ist hier in Deutsch­land geboren und in einer islamischen Familie aufgewachsen. Sie war auf einer deutschen Schule, und in ihrem Kopf war sie eine Mischung aus der islamischen Familie und dem deutschen Einfluß, den sie aus der Schule erhalten hat. Sie sagte mit Tränen in den Augen, dass sie nicht mehr wisse, was sie ma­chen solle. Die Ehe, in der sie lebe, sei eine falsche Entscheidung gewesen.

    Der Ehemann der Frau war erst mit 22 Jahren nach Deutschland gekommen, mit einer Identität als Syrer, einer Sozialisation als Araber. Die Frau hatte bei der ersten Begegnung mit ihm über ihre Vor­stellungen einer Ehe gesprochen und dabei sehr den partnerschaftlichen Umgang miteinander betont. Anfangs war er einverstanden und einer Meinung mit ihr. In den ersten drei, vier Monaten nach der

    Eheschließung war die Ehe perfekt, dann jedoch bemerkte die Frau täglich ein Stück Veränderung in seinem Verhalten. Schließlich eskalierte die Sache so, dass sie mit ihm kaum noch sprechen konnte. Er sei der Mann, er entscheide, sie müsse gehorchen. Er war sehr eifersüchtig auf ihren Vorsprung in der hiesigen Gesellschaft. Wenn dieser in bestimmten Situationen deutlich wurde, wurde er sehr gewalttä­tig, schlug sie und verbot ihr, in seiner Gegenwart anderen gegenüber ihre Meinung zu äußern. Oft holte er seine in Deutschland lebende Familie, Tanten und Schwestern dazu, die in einer Art Tribunal über sie zu Gericht saßen und stets auf seiner Seite gegen die Frau standen, die immer kleiner und kleiner wurde und ihre ganzen Vorstellungen von Partnerschaft zerstört sah.

    Soweit die Situation. Sollte ich ihr sagen, dass das Verhalten des Mannes nicht islamisch sei? Was bringt das, wenn man bedenkt, dass der Mann es so gelernt hat und sich in dieser Phase seiner persönli­chen Entwicklung nicht anders verhalten kann? Ich habe verlangt, dass er mit seiner Frau zusammen in die Beratung kommt, er lehnte es ab, seine Probleme mit einer Fremden zu lösen, er haben seine Schwestern und Tanten. Sie kam stets alleine, weinte immer, ein paar Monate nach dem ersten Kind war sie wieder schwanger. Es war nicht klar, warum sie ihre Probleme mit einer weiteren Schwanger­schaft noch verschärfte, doch dann zeigte sich, dass sie im Gegensatz zu ihrer anfänglichen Lebendig­keit teilweise in erhebliche Apathie verfallen war. Sie fragte sich ständig, wie das, was sie als unisla­misch erkannte, ihm vermitteln könne. Der Mann selbst war anders sozialisiert, er sah seine Eltern ähnlich kommunizieren und hielt das für islamisch. Er selbst war in einer gewissen Weise ein Opfer.

    Wie gehen wir als Therapeuten und Berater mit solchen Situationen um?

    Mein zweiter Fall zeigt ein besonderes Problem der Vernetzung von Hilfsangeboten. Ich dachte, es sei ideal, wenn jemand in die Moschee geht und zu mir kommt. Der Imam und ich könnten vielleicht zu­sammenarbeiten und parallel etwas erreichen. In der Realität ist das allerdings nie passiert.

    Eine deutsche Erzieherin kam sehr verzweifelt zu mir, da sie ein Kind im Kindergarten hatte, mit dem sie nicht umgehen konnte. Das Kind spielte nicht mit anderen Kindern, ging mittags nicht essen ob­wohl es ganztags angemeldet war, es saß die ganz Zeit in einer Ecke und machte gar nichts, wirkte apathisch. Gelegentlich ging es zu einer bestimmten Erzieherin, setzte sich auf ihre Schoß und sagte:

    „Weißt du, ich mag dich sehr, aber du gehst in die Hölle, weil du eine Kafira und nicht verschleiert bist.“ Die Frau wußte natürlich nicht, was eine Kafira ist, sie erschrak, da sie so etwas nie von einem 7-jährigen Kind gehört hatte. Das Kind sagte daraufhin, dass es sich bemühe, ein guter Muslim zu sein, und weil es die Erzieherin liebe, wolle es sie jetzt leiten, den richtigen Weg zu gehen, genau wie es ihr Vater als Imam einer Moschee tue.

    Es stellte sich heraus, dass ich den Vater des Kindes aus den Berichten verschiedener Klienten kannte. Eine litt unter nächtlichen Angststörungen, war zu ihm gegangen, er befreite sie mit Hilfe von Koran­lektüre von ihren Problemen. In anderen Fällen handelte es sich um Familienprobleme, ein Kind war ausgerissen etc. und immer war dieser Mann beteiligt. Seine Interventionen haben eine Zeitlang funk­tioniert, doch irgendwann landeten die Klienten dann doch bei uns. Die Familien bemerkten, dass wir doch mehr in der Realität verankert waren, im Kontakt standen mit den Schulen, den Kindergärten und eine Menge praktische Hilfe leisten konnten. Ich denke in diesem Zusammenhang, dass die Lektüre des Koran sicherlich einen positiven Effekt hat, jedoch löst sie nicht automatisch die alltäglichen Proble­me, die das Kind mit seinen Eltern und Lehrern etc. hat. Wir dürfen nicht halt machen auf der Ebene der islamischen Mittel i.e.S., sondern müssen die Angebote verknüpfen.

    Mein Problem war, dass ich mit dem Mann, der seine islamische Ausbildung in Al Azhar genossen hatte, nicht reden konnte, da er mich in keiner Weise akzeptierte. Er kam nicht zu mir, weil ich kein Kopftuch trage. Ich habe mit ihm telefoniert und versucht, mit ihm zusammen eine Lösung für seinen Sohn zu finden, da die Erzieherinnen nahe daran waren, zum Jugendamt zu gehen, weil sie annahmen, dass das Kind gefährdet sei. Sie hatten die Eltern eingeladen, der Vater kam allein, da die Mutter kein Deutsch konnte und sagte im Gespräch, dass er sehr stolz auf seinen Sohn sei, wenn er sich so beneh­me. Er sei froh, dass sein Sohn nicht mit den anderen spiele, sie nicht zu seinem Glauben gehören.

    Der Widerspruch ist offensichtlich: der Vater, der nicht will, dass sein Kind Kontakt mit anderen Nichtmuslimen hat, schickt es in eine solche Einrichtung. Warum lebt der Mann mit seiner Familie in einem Land, von dessen Kultur und Identität er sich so bedroht fühlt? Warum geht er nicht weg, wenn hier alles so schlecht ist? In eine Kultur, die seine Identität nicht bedroht?

    Ich war als Beraterin in einer schwierigen Situation. Einerseits war der Mann Imam einer großen Ge­meinde in Frankfurt. In diese Gemeinde gehen viele Muslime, die auch zu mir kommen. Sie haben sehr viel Respekt vor ihm und glauben sehr an seine Interventionen, die ja auch oft helfen. Für mich jedoch mit einem großen „aber“: sie helfen momentan und für eine bestimmte Zeit. Insgesamt jedoch bleiben die Probleme unverändert. Was also tun? Ich kann meinen Klienten nicht sagen, dass ich mit ihm nichts zu tun haben möchte, da er einen großen Einfluß auf sie hat. Ich kann auch nicht zu meinen Klienten sagen, sie sollen nicht zur Moschee gehen oder sie vor dem Imam warnen, dass seine Inter­ventionen keine nachhaltige Wirkung auf ihre Probleme habe.

    Ich hatte ein Gefühl der Lähmung: Ich ließ sie einfach gehen, in die Moschee und zu mir. Ich konnte sie bis zu einem bestimmten Punkt beraten, den Rest überließ ich Allah, dennoch war ich frustriert.

    Die Situation ist immer noch offen, ich habe mich zurückgezogen, als die Erzieherinnen forderten, ich solle mit dieser Familie reden. Sie waren enttäuscht und fragten, was wir denn als Beratungsstelle machten, doch ich denke, hier setzt der Elternwille wie bei jeder deutschen Familie einfach Grenzen. Ich habe mich zurückgezogen, als die Reaktion des Imam kam: „Ach ja, sie sind die Frau Psychologin. Wir kümmern uns um unsere eigenen Probleme. Halten sie sich da bitte heraus.“

    Darüber hinaus habe ich allerdings die Erfahrung gemacht, dass eine Zusammenarbeit durchaus mög­lich ist, wie im Falle eines türkischen Imams. Ich denke, dass hier die Persönlichkeitsstruktur des ein­zelnen Menschen eine große Rolle spielt.

    Im dritten Fall wurde ich von einem Frauenhaus wegen einer jungen Palästinenserin aus dem Libanon angerufen, die sich dort befand und kein Wort Deutsch sprach. Sie erzählte mir, dass sie vor drei Jahren geheiratet hatte. Einmal, um eine Familie zu gründen und zweitens, um ihrer schwierigen Situation im Elternhaus zu entgehen. So erschien ihr der junge Mann mit dem deutschen Paß wie ein Tor zum Himmel. Zu Beginn der Ehe war die Welt in Ordnung, er verwöhnte sie, sagte zu, dass sie deutsch lernen könne, wozu es allerdings nie kam, da er immer wieder Geldprobleme angab. Langsam bekam die Frau das Gefühl, von allem ferngehalten zu werden. Sie durfte keinen Schritt ohne die Erlaubnis der Schwiegermutter tun, die in der Wohnung gegenüber wohnte. Die Schwiegermutter kontrollierte wirklich nahezu jeden Schritt, vom Zeitpunkt des Aufstehens bis zum Abend. Nach der Geburt des ersten Kindes war dieses sofort in die Obhut der Schwiegermutter genommen worden, die der 20-jährigen Frau erklärte, dass sie nicht in der Lage sei, Kinder zu erziehen. Sie sei aus Mitleid aus der Armut ihrer Familie gerettet worden und hätte keinerlei Ansprüche zu stellen.

    Als die Frau eines Tages ein Glas zerbrochen hatte, holte der Mann wie schon oft zuvor seinc Familie, die in einer Art Tribunal über die Frau zu Gericht saß und ihr verbal massiv zusetzte. Sie forderten sie auf, heute noch nach dem Libanon zu gehen, dass Kind bleibe allerdings in der Familie. Die Klientin reagierte mit einem hysterischen Schreianfall, worauf die deutschen Nachbarn die Polizei holten, die die Frau ins Frauenhaus brachte. Das Kind blieb erst bei der Schwiegermutter, bis ein Richter das Sor­gerecht der Mutter übertrug.

    Auch in diesem Beispiel wird der Mißbrauch von Macht deutlich. Der eine hat das Geld, das Wissen, der andere eben nicht. Und wenn in dieser Situation keine Ethik vorhanden ist, eskaliert sie. Die Frau bekam schließlich Hilfe vom Frauenhaus in Form von Geld, sie bekam ihr Kind zurück. Sie wollte sich nicht scheiden lassen konnte, sondern ihren Beitrag zur Wiederherstellung der Familie leisten und fragte mich, ob ich mit ihrem Mann reden könne. Bedingung sei allerdings, dass die Schwiegermutter eine größere Distanz einhalte. Die Familie konnte nicht glauben, dass dieses zwanzigjährige Mädchen in der Lage war, so viele Leute zu mobilisieren, war in ihrem Stolz sehr verletzt und blockierte jede Hilfe und jedes Gespräch auch mit mir. Sie solle das Kind behalten und aus ihrem Leben verschwin­den. Zur Zeit befindet sich dieses Mädchen in einem Frauenhaus, sie kann nicht zurück, da das Kind deutsch ist und sie sich Zuhause in einer schwierigen politischen Situation befände. Das Beste für sie wäre, in unserem deutschen Umfeld weiter zu leben.

  • Blogreihe: Die Terra Incognita der islamischen Psychologie – Woche 16

    Das islamische psychiatrische Krankenhaus

    Die Antwort auf die Frage, wie viel wir über die psychologische, psychotherapeutische und psychiatrische Ideengeschichte muslimischer Gelehrter wissen, ist kurz und prägnant: noch nicht viel. Daher ist es nicht verwunderlich, dass der Prozentsatz bisher nicht gesichteter Arbeiten muslimischer Gelehrter zur Psychologie, Psychotherapie und Psychiatrie auf über 90% geschätzt wird. Berichte über die Beiträge der einzelnen Gelehrten sind teilweise noch sehr anekdotisch gehalten, nur wenige wie al-Balchī oder al-Ghazālī wurden einer ausführlicheren psychologischen Rezeption unterzogen und haben transhistorische Ergebnisse zu Tage befördert.

    Es kann eine Verdichtung von Arbeiten muslimischer Gelehrter im 9. und 10. Jahrhundert im heutigen Iran und Afghanistan festgestellt werden, während Texte im 11., 12. und 13. Jahrhundert vermehrt aus dem muslimischen Spanien kamen. Ein Blick auf die Werke muslimischer Gelehrter kann uns dabei helfen, unsere eigene wissenschaftliche Historie als Psychologen, Psychotherapeuten und Psychiater besser zu verstehen. Zukünftig gilt es außerdem zu klären, ob und inwieweit uns die Texte muslimischer Gelehrter dabei helfen können, Lösungen für die Probleme und Fragestellungen der gegenwärtigen Psychologie, Psychotherapie und Psychiatrie zu finden bzw. diese aus neuen Blickwinkeln zu betrachten. Einen interessanten Bereich dafür stellt z.B. die Rolle der Spiritualität in der Psychologie und Therapie oder die Klassifikation von Störungsbildern, welche im Kontext des kürzlich vorgeschlagenen RDoC-Systems weiter an Aktualität gewinnt, dar.

    Jenseits der theoretischen Durchdringung der Texte früher muslimischer Gelehrter lohnt sich auch ein Blick auf deren Behandlungspraxis, dies insbesondere in Hinblick auf Krankenhausstrukturen, somatische Therapien und die Psychotherapie. Bezüglich der Krankenhausstrukturen lässt sich die institutionelle Unterbringung psychischer Kranker in zwei Bereiche aufgliedern: Nervenheilanstalten (insane asylums) und psychiatrische Krankenhäuser (psychiatric hospitals). Während Erstere aus guten Gründen in der modernen Medizin nicht mehr anzutreffen sind, können wir historisch festhalten, dass die ersten psychiatrischen Krankenhäuser im 8. Jahrhundert durch muslimische Ärzte gegründet wurden. Dies wurde explizit durch die muslimischen Gesellschaften der Zeit gefördert. Als spezialisierte Institutionen beheimateten psychiatrische Abteilungen und Krankenhäuser Forschung zu psychiatrischen Krankheiten, die direkt in die Klinik übersetzt werden konnte, inspiriert durch den qur’anischen Vers: „Und gebt nicht den Schwachsinnigen euer Gut, das Allah euch zum Unterhalt gegeben hat. Versorgt sie davon und kleidet sie und sprecht zu ihnen mit freundlichen Worten“ (Qur’an, 4:5) (Awaad et al., 2019).

    Die Gründung des ersten islamischen, psychiatrischen Krankenhauses – des Bimaristan – wurde ebenfalls in Bagdad im 9. Jahrhundert durch den abbasidischen Kalifen Harun al-Rashid vollzogen (Al-Issa, 2000; Khaleel, 2003). Dieses hat nicht nur im Rahmen der Inklusion von psychisch Kranken Geschichte geschrieben, sondern auch das Konzept des psychiatrischen Milieus geprägt: Patienten wurden mit sauberer Kleidung, täglichem Bad, sinnvoller Alltagsgestaltung und gesunder Ernährung versorgt (Awaad & Ali, 2015). Es kamen innovative musik- und massagetherapeutische Ansätze zum Einsatz, die die medizinische und psychotherapeutische Behandlung komplementierten – eingebettet in eine interdisziplinäre Behandlung durch Krankenschwestern, Sozialarbeiter, Seelsorger und Pharmazeuten, die den gesamten Patienten und nicht nur die Krankheit behandelten. Weiterhin wurde darauf Wert gelegt, dass die Krankenhäuser im Herzen der Städte lagen, um die Krankenbesuche zu erleichtern. Die Behandlungskosten wurden dabei vollständig durch das islamische Spendensystem (Zakat) organisiert (Awaad et al., 2018).

    Krankenhäuser nach diesem Vorbild fanden sich ebenfalls in Damaskus, Alexandria und Kairo (Youssef & Youssef, 1996). Das Qalawun Hospital in Kairo zum Beispiel wurde um 1280 eröffnet und war Teil eines größeren Komplexes, der eine Schule, ein Krankenhaus und ein Mausoleum umfasste (Torkey, 2018). Die Idee der Inklusion psychisch kranker Menschen wurde sowohl durch die psychiatrischen Abteilungen in größeren Krankenhäusern als auch eigenständige psychiatrische Krankenhäuser, die Teil eines größeren Gebäudekomplexes waren, vorangetrieben. Dies wirkte Vorstellungen von Besessenheit und der Dämonisierung psychischer Krankheiten entgegen – Vorstellungen, die wir auch heute noch in einer Vielzahl in der muslimischen Community antreffen (Awaad et al., 2018).

    Ein weiteres Merkmal islamischer Krankenhäuser dieser Zeit war, dass Patienten einen Murafiqeen zur Seite gestellt bekamen. So wurde ein „Gefährte“ eines Patienten genannt, der diesen während der Behandlungsphase begleitete und in Fragen der Hygiene, des Essens und des emotionalen Beistands stets zur Seite stand. Dieses Konzept ist in der Idee begründet, dass menschliche Interaktion für eine effektive Behandlung unabdingbar ist. Die Murafiqeen fungierten nicht als Betreuer, sondern explizit als Fürsorger eines Patienten. Murafiqeen wurden weiterhin ergänzt durch Geschichtenerzähler und Musiker, deren Aktivitäten an und für sich therapeutisch waren,eine angenehme Umgebung schufen und die frühen Stadien der modernen Musik und Psychotherapie darstellen (Awaad et al., 2018).

    Referenzen:

    Awaad, R., & Ali, S. (2015). Obsessional Disorders in al-Balkhi′s 9th century treatise: Sustenance of the Body and Soul. Journal of Affective Disorders180, 185-189. doi:10.1016/j.jad.2015.03.003

    Awaad, R., Mohammad, A., Elzamzamy, K., Fereydooni, S., & Gamar, M. (2019). Mental Health in the Islamic Golden Era: The Historical Roots of Modern Psychiatry. In H. S. Moffic, J. Peteet, A. Z. Hankir, & R. Awaad (Eds.), Islamophobia and Psychiatry: Recognition, Prevention, and Treatment (pp. 3-18). Basingstoke, England: Springer.

    Al-Issa, I. (Ed.). (2000). Al-Junūn: Mental illness in the Islamic world. Madison, CT, US: International Universities Press, Inc.

    Khaleel, K. (2003). Science in the name of God: How men of God originated the sciences. Buffalo Grove, IL: Knowledge House.

    Youssef, H. A., & Youssef, F. A. (1996). Evidence for the existence of schizophrenia in medieval Islamic society. History of Psychiatry.

    Torky, T. (2018). Complex of Sultan al-Mansur Qalawun (Mausoleum, Madrasa and Hospital). Web: Discover Islamic Art.

  • IASE Tagungsbeitrag 2000: Wie gehen die Moscheen mit dem Thema Gewalt um?

    Aus der Schatzkiste. Die Wenigsten wissen, dass die IASE seit den 1980er Jahren existiert. Wir haben alte Tagungsbeiträge ausgesucht, um sie wöchentlich hier zu posten. Viel Vergnügen beim Lesen.


    Wie gehen die Moscheen mit dem Thema Gewalt um?

    Mehmet Ünal Tosun

    Liebe Schwestern und Brüder, ich habe zwar die Ausbildung hier beim VIKZ genossen und bin seit zehn Jahren ehrenamtlich tätig, bin jedoch kein hauptamtlicher Imam. Ich habe zur Vorbereitung dieses Themas versucht, praktisch vorzugehen und sowohl Mitglieder der Gemeinden als auch Hodschas befragt.

    Wie gehen die Moscheen mit dem Thema Gewalt um?

    Ich möchte hier keine islamisch-rechtliche Begutachtung durchführen, dennoch müssen wir Islam und die Gewalt in den Familien voneinander trenne, denn der Islam unterstützt Gewalt, vor allem nicht innerhalb der Familie. Es gibt diesbezüglich einen Vers im Koran, der das Schlagen der Frau betrifft. Einige Kommentatoren sind der Ansicht, dass man die Frau ganz leicht berühren darf, andere meinen, dass hier eher ein zudringliches Einreden/Ermahnen gemeint ist.

    Gewalt in der Familie möchte ich in drei Bereiche aufteilen:

    1. Gewalt seitens des Mannes gegenüber der Frau
    2. Gewalt seitens des Mannes gegenüber den Kindern
    3. Gewalt seitens der Frau gegenüber den Kindern (und auch gegen den Mann, was es auch gibt)

    Diese Trennung sollte man schon unternehmen, obwohl in den meisten Fällen, in denen man über Gewalt in islamischen Familien spricht, der böse Mann gemeint ist, der nicht nur schlägt, sondern auch psychische Gewalt ausübt, die m.E. eine noch größere Nachwirkung im Leben der Menschen haben kann. Noch schlimmer ist physische mit psychischer Gewalt gepaart, doch das wissen Sie als Psychologen und Pädagogen sicherlich noch besser als ich.

    Beispiel: Ein ca. 17-18-jähriger jugendlicher Rollstuhlfahret kam mehrfach zu mir, da er seine Pro-bleme in seiner Moschee nicht ansprechen könne. Er berichtete schluchzend, dass er von seinem Vater das Verbot bekommen habe, nach 23 Uhr abends an der Haustür zu klopfen oder zu klingeln, da er vor dieser Zeit zuhause sein müsse. Als er nun gestern gegen 23:30 Uhr nach hause kam und klopfte, wur­de er nicht hereingelassen. Auch die Mutter durfte nichts sagen, und so habe er die Nacht draußen ver­bracht.

    Wenn es sich hier nicht um einen behinderten Jugendlichen gehandelt hätte, wäre ich nicht so bestürzt gewesen. Der Junge hat versucht, sich in einem Imbiß zu wärmen, es war im Winter 1999.

    Nach einiger Zeit fragte ich ihn, wie es gehe und bot ihm an, mich über einige Bekannte „einzumi­schen“. Täte ich es direkt, würde ich wahrscheinlich mit Verachtung und Hohn überschüttet oder wäre sogar mit Handgreiflichkeiten konfrontiert. Der Junge wollte das nicht und zog es vor, die Situation auszuhalten, bis er dann irgendwann ausziehen könne.

    Die Situation in den Moscheen 

    Nicht nur die Hodschas, sondern auch die Gemeindevorstände sehen die Gewalt in den Familien als feststehende Tatsache an. Diese Gewalt gibt es natürlich auch bei Familien, deren Väter und Ehemän­ner zum Freitagsgebet kommen. Dies gilt sowohl für die Türken als auch alle anderen ethnischen Gruppierungen. Mir wurde in den Moscheen gesagt, dass das Themas Gewalt allerdings nicht tabuisiert werde. Diese Meinung wird durchgehend vertreten, wobei hier vor dem Hintergrund eigener anderer Erfahrungen ein unterschiedliches Verständnis des Begriffes „Tabu“ zu bestehen scheint. Tabuisie­rung bedeutet nach meinem Verständnis, dass man nicht darüber spricht, sich nicht darum kümmert, dass man Initiative erst entwickelt, wenn man gefragt wird. Gewalt werde in den Moscheen nicht ta­buisiert, sondern „gemäß den Traditionen in der türkischen Kultur gehandhabt“. Ein makabres Zitat, wie ich meine. Was das bedeutet, ist je nach Auffassung ganz unterschiedlich. Dabei ist Diskretion die wichtigsten Sache. Es darf nichts herauskommen, es darf der Ruf des Ehemannes, des Vaters der Fa­milie nicht beschädigt werden. In diesem Fall, so die Auffassung, ist auch der Ruf der Frau und der ganzen Familie beschädigt, man lacht auch über sie. Das bedeutet in der Praxis, dass die Gemeindelei­tung oder der Hodscha nur dann aktiv werden, wenn der Fall an sie heran getragen wird. Und zwar durch einen der Eheleute oder die Kinder, die sagen „mischt euch ein, sonst wird es schlimm“. Wenn es jemand Außenstehender tut und sich die Gemeindeleitung dem Problem vorsichtig nähert, um viel­leicht einen versteckten Hilferuf aus der Familie wahrzunehmen und dann nichts geschieht, zieht man sich wieder zurück. In ganz akuten und schlimmen Fällen wird auch Anzeige erstattet. Hier waren sich eigentlich alle einig, mit denen ich gesprochen habe. Die ordnungspolitische Macht steht dem Staat zu, die Gemeinden können nicht einfach eingreifen und bestrafen, hierüber besteht Konsens.

    Exkurs:

    Die Moscheegemeinden in Deutschland stecken in Fragen des sozialen Zusammenlebens tatsächlich noch in den Kinderschuhen. Sie sind der Kern des religiösen Zusammenlebens der Muslime. Eine eigenständige Ausweitung der Kompetenzen auf weitere gesellschaftliche Felder (Seelsorge, Diakoni­sehe Einrichtungen etc.), so wie es christliche Kirchen mit ihren Organisationen tun, wäre eine An­gleichung der hierarchischen Strukturen der hiesigen Kirchen, eine solche Institutionalisierung wird meiner Erfahrung nach von den Gemeinden abgelehnt. Wir wollen keine Kirchenstrukturen, sondern solche, die uns ermöglichen, uns zum Gebet und zum Gespräch zu treffen usw. Spezielle seelsorgeri-sehe Strukturen gibt es zwar hier und dort, doch besonders die erste Generation steht dem skeptisch gegenüber. Die Muslime sind es eher gewohnt, in den Moscheen zu beten, Armenhäuser in Eigeni­nitiative zu errichten und gesellschaftliche Probleme nicht mit Hilfe einer kirchlich-hierarchischen Struktur zu lösen. So ist vor 150 Jahren (!) ein Altenheim in Istanbul nicht von einer Moschee oder einem Moscheeverband gegründet worden, sondern von verschiedenen engagierten Einzelpersonen. Dies ist der von vielen Muslime bevorzugte Lösungsweg. Ein Frauenhaus z.B. sollte nicht von einem Moscheeverband, sondern einem sozialen Verband, der von Muslimen betrieben wird, eingerichtet und betrieben werden.

    Gewalt herrscht vor allem in den muslimischen Familien, in denen der Bildungsgrad niedrig ist. Wei­terhin kommt sie in Familien vor, in denen die Affinität zu religiösem, rechtschaffenem Leben gering ist. Hierzu zählen vor allem das Bewußtsein, Muslim zu sein, den Islam auch über die fünf täglichen Gebete hinaus zu praktizieren und das „Brennen“ der Liebe Gottes im Herzen zu haben. Dabei müssen wir besonders für die türkischen Muslime in Deutschland feststellen, dass sehr an Beidem mangelt. Dazu ist wichtig zu wissen, dass die meisten türkischen Muslime aus ländlichen Regionen nach Deutschland gekommen sind, wo das traditionelle Mann-Frau-Kind-Verhältnis oft sehr viel stärker ist als das, was der Islam zu diesen Dingen lehrt. Ich denke, dass wir hier in Deutschland die Chance ha­ben, die Religion auf die eine und die Tradition auf die andere Seite zu stellen und dazwischen eine Mitte zu finden. Dabei möchte ich nicht Tradition und Kultur der muslimischen Familien negativ be­werten. Ich erinnere mich an eine schöne Formulierung eines Predigers in der Türkei, der sagte: „Tra­ditionen machen die Grenzen des sozialen Lebens aus.“ Dies gilt insofern, dass zwar viele Muslime nicht praktizieren, sich aber durch gewisse Traditionen wie z.B. Fasten oder das Schlachten am Op­ferfest zum Islam bekennen.

    Wie bereits erwähnt, ist man sich in den Gemeindeleitungen der Gewaltproblematik bewußt. Deswe­gen wird sie sowohl in den normalen Predigten als auch in Zweiergesprächen immer wieder zum Thema gemacht.

    So kommt vielleicht jemand zum Hodscha und berichtet über seinen Nachbarn, der jeden Tag seine Frau schlägt. Man eruiert dann gemeinsam ob es möglich ist, die Situation mit der Familie zu themati­sieren. Wenn nicht, wird es zum allgemeinen Thema in der Gemeinde gemacht, z.B. in der Freitags-predigt oder in kleineren Gesprächsrunden ohne die Person direkt anzusprechen. Noch effektiver ist es, dass man Vertrauenspersonen wie z.B. Verwandte findet, der die Familie anspricht und Lösungen sucht.

    So erinnere ich mich an einen Fall, in dem nach vielen Gerüchten und Beschuldigungen in der Mo­schee die Gemeindeleitung zu dieser Familie fuhr und den Ehemann auf sein Verhalten ansprach. Sie drohten auch klar mit Konsequenzen wie dem Gang zur Polizei oder damit, die Frau aus der Familie zu holen und ins Krankenhaus zu bringen.

    Üblich dagegen ist es nicht, dass eine Frau zum Hodscha kommt und ihm berichtet, dass sie geschlagen wird. Meist geschieht es um fünf Ecken, und bis der Hodscha davon erfährt, hat oft die Großfamilie schon eine Lösung gefunden. Die meisten waren sich einig, dass man auf jeden Fall die staatlichen Stellen wie das Jugendamt, ein Frauenhaus usw. einschalten müsse, wenn die Mittel der Gemeinde nicht ausreichten. In der Praxis sind dieses aber Ausnahmefälle.

    Nadja El Ammarine:

    Mir fehlte als Pädagogin heute bisher die andere Seite. Hier wurde nur betont, was Kindern angetan wurde und wird, aber andererseits existiert auch die Notwendigkeit einer Grenzsetzung. Hierzu zählt das Beispiel mit dem Rollstuhlfahrer. Die Eltern waren zumindest so „fair“, eine Vereinbarung zu treffen, nämlich dass der Junge bis 23 Uhr zuhause sein mußte. Insofern verstehe ich die Gewalt nicht ganz. Natürlich ist es schlimm, die Nacht draußen zu verbringen, doch ein 17-jähriger hat auch die Option, um 23 Uhr noch Hause zu kommen. Ich brauche als Erzieher auch die Möglichkeiten, Gren­zen zu setzen und Konsequenzen folgen zu lassen, auch wenn diese in dem geschilderten Fall vielleicht unsinnig gewesen sind.

    Antwort:

    Ohne Einzelheiten zu berichten war in diesem Fall das Aussetzen sozusagen die Spitze des Eisberges. Schläge waren an der Tagesordnung, die Frau war gebrochen und konnte keinerlei Widerstand gegen

    den Vater leisten usw.

    Malika Douallal:

    Wie weit sind die Hodschas in den Moscheen über die psychosozialen Beratungsangebote in der Um­gebung informiert? Man muß ja nicht gleich zum Frauenhaus oder Jugendamt gehen. Es gibt Informa­tionen über Beratungsstellen bei der Stadtverwaltung usw.

    Antwort:

    Ein Wissen über die Angebote gibt es nicht, das muß man ganz klar sagen. Man weiß auch über die herausstechenden Angebote der Frauenhäuser und des Jugendamtes nur durch besondere Ereignisse in den Familien und deren Erfahrungen. Eine systematische Information der Hodschas und der Gemein­den ist bisher nicht erfolgt, da diese Arbeit in den Bereich eines seelsorgerisch ausgebildeten Psycho­logen oder Sozialarbeiters hinein reicht. Dazu sind wir doch in einer gewissen Weise noch zu sehr abgeschieden mit unserer Kultur. Ich denke, dass sich das in Zukunft ändern wird. Die Vermittlung von Informationen dieser Art wären z.B. eine wichtige Aufgabe für Eure Arbeitsgemeinschaft. Ihr seid versiert und kennt Euch mit einer solchen Problematik aus. Eine Möglichkeit wäre z.B. in Zusammen­arbeit mit verschiedenen Moscheen oder Verbänden dergestalt, dass jemand von Euch kommt und die Hodschas auf ihren Fortbildungstreffen informiert.

    In Dortmund haben wir jemanden, der sowohl Hodscha als auch ausgebildeter Therapeut ist, zu dem schicken wir schon in Einzelfällen.

    Amina Theißen:

    Tatsache ist, dass es Gewalt in muslimischen Familien gibt. Tatsache ist auch, dass das bestehende An­gebot an Beratungsmöglichkeiten für Muslime nicht zufriedenstellend ist. Ich glaube auch nicht, dass von islamischer Seite aus das Jugendamt eingeschaltet wird, da hinterher die Probleme manchmal noch größer sind als zuvor und das Kind ganz entwurzelt ist. Von den Moscheen selbst wird auch nichts unternommen, so dass die Frauen und Kinder in ihrer Not alleine sind. Es brennt uns unter den Nägeln, dass wir dringend eigene Angebote schaffen müssen, und zwar in Zusammenarbeit. Du hast zwar gesagt, dass der Auftrag der Moscheen eher ein religiöser im engeren Sinne sei, doch wer soll es denn anders tun? Wir müssen uns als Muslime dieser Verantwortung stellen, vor allem, wenn wir wis­sen, dass es diese Probleme gibt.

    Antwort:

    Diese Aufgabe müsste eigentlich von den Moscheen durchgeführt werden, doch ich fürchte, dass die Muslime noch nicht so weit sind. Wir erleben hier in Europa einen Umgang mit derartigen Problemen, den wir aus unseren Heimatländern nicht kennen. Es wird noch eine Menge Erziehungsarbeit im isla­mischen Sinne erforderlich sein, dann ist es auch Zeit für Beratungsstellen etc.

    Dr. Hamdani:

    Ich habe den Eindruck, dass die Wahrnehmung für die Probleme zwar vorhanden ist, doch sehr indivi- i­duell erfolgt. Es gibt m.E. kein Konzept, keine Idee. Das Problem wird in der Familie eher verheim­licht, diese Verheimlichung geht weiter auf der Ebene der Moschee, auch wenn in Einzelfällen Dritte eingeschaltet werden. So haben die Imame vor 200 Jahren praktiziert und so praktizieren sie heute, in Anatolien und in Nippes. Wo ist unsere Antwort an die Herausforderung der Zeit? Wir sind dieser Herausforderung bisher nicht gewachsen und leben immer defensiv.

    Antwort:

    Ich denke, es handelt sich hier um ein gesellschaftliches Problem und betrifft uns Muslime in der Ge­samtheit. Wenn ich das Verständnis von Erziehung aus der Zeit des Propheten betrachte, ist Erziehung in erster Linie eine Angelegenheit der Familien. Es wird eine Zeit brauchen, bis ein Bewusstsein dafür geschaffen ist, dass auch die islamische Öffentlichkeit Hilfen bereitstellt.

  • Blogreihe: Die Terra Incognita der islamischen Psychologie – Woche 15

    Weitere Gelehrte

    Neben den vorgestellten Gelehrten, die sich relativ breiter Beliebtheit erfreut, gibt es weitere, die in psychologischen, psychotherapeutischen und psychiatrischen Schriften nur am Rande genannt werden. Dazu gehören im 8. und 9. Jahrhundert ʿAmr ibn Bahr al-Dschāhiz (766-868), der die sozialen Organisationsstrukturen von Ameisen und die Kommunikation von Tieren studiert hat, Abu Zakariya Yahya Ibn Masawayh (777-857) und Georgues Ibn Bakhtaishou, die sich zur Psychiatrie geäußert haben, Al-Muḥāsibī (781-847), der sich mit der Struktur des Bewusstseins und dem Unbewussten auseinandersetzte und laut Düzgüner und Şentepe (2015) den Begriff al-nafs als erster Gelehrter in seiner psychologischen Bedeutung benutzt sowie Ibn Al-Dschazzar (898-1009), der sich zur Psychosomatik geäußert haben. Für das 10. und 11. Jahrhundert sind Hassan Ibn Mohammed Naishaboury (953-1014), der ein Buch Zu den gesunden Kranken schrieb, Ibn Al-Haytham (965-1040), der laut Khaleefa (1999) einen entscheidenden Beitrag zur experimentellen Psychologie und Psychophysik geleistet hat (siehe auch: Aaen-Stockdale, 2008), die Ikhwan al-Safa‘ (Die Brüder der Reinheit), ein Gelehrtenkollektiv in Basra (Irak), welches in ihren rasāʼil, Briefen, über die Zusammensetzung der Seele, das Gehirn und das Denken geschrieben haben, Abū r-Raiḥān Muḥammad b. Aḥmad al-Bīrūnī (973-1048), der das Konzept der Reaktionszeitmessung beschrieben haben und der spanische Gelehrte Ibn Hazm (994-1064) mit seinem Werk al-Akhlaq wal-Siyar (Moral und Verhalten) nennen. Zum 12. und 13. Jahrhundert lassen sich Ibn Al-Ayn Zarbi (gest. 1153), der in seinem Werk über die Heilkunst al-kafi fil-tibb körperliche und mentale Krankheiten und ihre Behandlungen beschreibt und im Kapitel zum Gehirn und der Geistesschwäche die körperliche Grundlage für mentale Krankheitsbilder aufführt, Muhyī d-Dīn Ibn ʿArabī (1165-1240), der sich mit der Theorie der Seele, die Wahrnehmung, die Natur der Bedürfnisse, Phantasien und Träume beschäftigte (Haque, 1998, 2004), Abū Yahyā Zakariyā‘ ibn Muhammad al-Qazwīnī (1203–1283; Taeschner, 1912), Najeeb Al-Din Al-Samarqandi (gest. 1222), ein Zeitgenosse Rhazes, der in seinem Buch Zu den Ursachen und Symptomen psychische Krankheiten beschrieb und kategorisierte und Ibn Al-Qayyim Al-Jawziyya (1292-1350) der sich in seinem Text Kitab Al-Shifa Fil-Tibb Al-Nabawi zur spirituellen Medizin und seiner Arbeit Al-Fawaid zu Denkprozessen äußerte, anführen (Awaad, 2019; Haque, 2004; Husain, 2017; Khalili et al., 2002; Payk, 2005; Syed, 2002).

    Referenzen

    Aaen-Stockdale, C. (2008). Ibn Al-Haytham and Psychophysics. Perception37(4), 636-638. doi:10.1068/p5940

    Awaad, R., Mohammad, A., Elzamzamy, K., Fereydooni, S., & Gamar, M. (2019). Mental Health in the Islamic Golden Era: The Historical Roots of Modern Psychiatry. In H. S. Moffic, J. Peteet, A. Z. Hankir, & R. Awaad (Eds.), Islamophobia and Psychiatry: Recognition, Prevention, and Treatment (pp. 3-18). Basingstoke, England: Springer.

    Düzgüner, S., & Şentepe, A. (2015). Characteristic Themes in Psychology of Religion in Turkey: Muslim Thinkers’ Views on Human Psychology and Psychology of Sufism. In Z. Ağilkaya-Şahin, H. Streib, A. Ayten, & R. W. Hood (Eds.), Psychology of Religion in Turkey (pp. 31-50). Leiden, Niederlande: Brill.

    Haque, A. (1998). Psychology and Religion: Their Relationship and Integration from Islamic Perspective. The American Journal of Islamic Social Sciences15, 97–116.

    Haque, A. (2004). Psychology from Islamic Perspective: Contributions of Early Muslim Scholars and Challenges to Contemporary Muslim Psychologists. Journal of Religion and Health, 43(4), 357-377. doi:10.1007/s10943-004-4302-z

    Husain, A. (2017). Contributions of Arab Muslim Scholars to Psychology. In A. Husain (Ed.), Contemporary Trends in Islamic Psychology (pp. 13-25). Hyderabad, Indien: Centre for Study and Research.

    Khaleefa, O. (1999). Who is the Founder of Psychophysics and Experimental Psychology.

    The American Journal of Islamic Social Sciences, 16(2), 1-25.

    Khalili, S., Murken, S., Reich, K. H., Shah, A. A., & Vahabzadeh, A. (2002). Religion and Mental Health in Cultural Perspective: Observations and Reflections After The First International Congress on Religion and Mental Health, Tehran, 16–19 April 2001. The International Journal for the Psychology of Religion, 12(4), 217–237.

    Payk, T. (2005). Psychiatrie im frühen Islam. In H. J. Assion (Ed.), Migration und seelische Gesundheit (pp. 21-28). Heidelberg, Deutschland: Springer, 21-28.

    Syed, I. B. (2002). Islamic Medicine: 1000 years ahead of its time. Journal of Islamic Medical Association2, 2-9.

    Taeschner, F. (1912). Die Psychologie Qazwînis. Tübingen: Druck von G. Schnürlen.