Mit dem Namen ALLAHs, des Barmherzigen, des Allerbarmers, bismi ʾllāhi ʾr-raḥmāni ʾr-raḥīm

Author: Paul Kaplick

  • Blogreihe: Institute und Vereinigungen muslimischer Psychologen – Woche 2

    Islamic Psychology Professional Association (IPPA) London

    In dieser Woche widmen wir uns der in 2015 von der systemischen Familientherapeutin Nasima Khanom begründeten regionalen Instanz Islamic Psychology Professional Association (IPPA) in London. Die Vereinigung soll Fachleuten aus dem Bereich Muslim

    Mental Health und anderen Gesundheits- und Sozialberufen erlauben, die klinischen Dimensionen einer islamischen Psychologie zu explorieren, weiterzuentwickeln und in der Praxis anzuwenden. Langfristig soll daraus eine Organisation hervorgehen, die entsprechende Modelle sowohl in muslimischen als auch gesamtgesellschaftlichen Kreisen auf einer regionalen Ebene repräsentiert.

    Sie soll darüber hinaus Fachkräfte unterschiedlicher Professionen auf regionaler Ebene zusammenbringen, Diskussionen mit dem Fokus auf die regionale Versorgungssituation muslimischer Patienten initiieren und ein Ansprechpartner für die muslimische Community, islamische Autoritäten und Fachkräfte der psychosozialen Versorgung von Muslimen sein. Dafür bietet die Vereinigung professionelle Fortbildung mit Supervision, Psychoedukation mit Trainingsmöglichkeiten und Workshops an und initiiert sowohl den Aufbau eines therapeutischen Dienstes als auch die Öffentlichkeitsarbeit vor allem in der muslimischen Community. Es findet regelmäßig soziale Events statt und die IPPA hat eine Whatsappgruppe mit ca. 100 Teilnehmern.

    www.ippa.org.uk

    Quelle der Originalveröffentlichung (siehe auch für Quellennachweise):

    Kaplick, P. M., & Rüschoff, I. (2018). Islam und Psychologie in Großbritannien, den USA und Deutschland. Wege zum Menschen70(1), 78-88. doi:10.13109/weme.2018.70.1.78

  • IASE Tagungsbeitrag 1989: Gesundheit und Krankheit der Seele

    Aus der Schatzkiste. Die Wenigsten wissen, dass die IASE seit den 1980er Jahren existiert. Wir haben alte Tagungsbeiträge ausgesucht, um sie wöchentlich hier zu posten. Viel Vergnügen beim Lesen.


    Gesundheit und Krankheit der Seele[1]

     A. Falaturi

    1   Einführung

    Gegenstand der Betrachtung soll zuerst die Gesundheit der Seele sein. Bei der Erwähnung von Stellen aus Koran und Sunna stehen diesmal nicht deren religiöse Dimensionen im Vordergrund. Auch wenn ich den Koran zitiere, zitiere ich ihn nicht als Gebot oder Verbot Gottes, sondern als Faktum, denn erst dann können wir begreifen, wie sehr er der Realität der menschlichen Seele entspricht.

    Ich werde also zunächst die Situation und die Bedingungen erläutern, die eine gesunde Seele charakterisieren, dann zweitens die Realität der menschlichen Seele nach dem Koran aufzeigen und hierbei der Frage nachgehen, wie weit der Mensch überhaupt in der Lage ist, das Ideal, welches der Koran aufzeigt, in sich zu vollziehen, was ich widrigen-falls als „gestörte Seele“ bezeichne. Drittens will ich Einiges zur „kranken Seele“ sagen, wobei ich unter Krankheit entsprechende seelische Störungen verstehe, die aus dem Un-vermögen entstehen, das zu verwirklichen, wozu Gott den Menschen befähigt hat. Als Letztes soll der Weg zu einer Besserung des Zustandes aufgezeigt werden.

    2   Die gesunde Seele

    Was charakterisiert also die gesunde menschliche Seele? Zur Erläuterung greife ich auf meinen Lieblingsvers zum Thema Menschenbild im Koran zurück, den Vers 30:30: „Richte nun dein Antlitz auf die (einzig wahre) Religion! (Verhalte dich so) als Hanif! (Das (d.h. ein solches Verhalten) ist) die natürliche Art, in der Gott die Menschen geschaffen hat.“ Es geht hier darum, dass der Mensch von seiner geschaffenen Natur her auf Gott ausgerichtet ist. Diese Ausrichtung auf Gott gehört, islamisch gesehen, zum Ur-grund der menschlichen Natur. Darauf baut die Gesandtschaft mit dem Ziel auf, diese menschliche Natur zu unterstützen. Der Inhalt der Gesandtschaft ist somit Rechtleitung („huda“), wobei diese nichts anderes als eine Entsprechung dessen ist, was Gott uns von unserer Geburt an gegeben hat. So entsprechen sich also die gesandte Botschaft und die menschliche Natur. Diese Entsprechung bedeutet, islamisch gesehen, dass dem Menschen von Natur aus etwas gegeben ist, dessen volle Verwirklichung jede Störung und alle Konflikte ausschließt. Dazu der Vers 33:72: „Wir vertrauten den Himmeln und der Erde und den Bergen das Unterpfand, und sie scheuten sich, ihm untreu zu werden, sondern waren ihm gegenüber ehrfürchtig. Aber der Mensch wurde ihm untreu; er war ja auch ein Ungerechter; ein Unwissender.“ Dieses von Gott dem Menschen anvertraute Gut kann nichts anderes sein als diese tiefe Verbindung des Menschen zu Gott, die Gott in den Menschen hineingelegt und durch die äußere Gesandtschaft unterstützt hat. Dieser Vers zeigt die völlig gesonderte Stellung des Menschen und seiner Natur in der Schöpfung: Alle Schöpfung außerhalb des Menschen einschließlich der Engel war nicht in der Lage, dieses anvertraute Gut zu tragen. Wenn wir das richtig begriffen haben, dann wird uns erst der Sinn und Grund dessen deutlich, was wir oft hören und auch überhören, dass der Mensch und nur er allein „Khalif“, also Stellvertreter Gottes ist, bzw. sein kann. Dies bedeutet eine ganz hohe Wertung des Menschen, sogar gegenüber den Engeln. Die Be-schreibung der Erschaffung des Menschen im Koran macht das deutlich (Sure 2:30): „Und (damals), als dein Herr zu den Engeln sagte: ‚Ich werde auf der Erde einen Nachfolger einsetzen‘! Sie sagten: ‚Willst du auf ihr jemand (vom Geschlecht der Menschen) einsetzen, der auf ihr Unheil anrichtet und Blut vergießt, wo wir (Engel) dir lobsingen und deine Heiligkeit preisen?‘ Er sagte: ‚Ich weiß (vieles), was ihr nicht wisst.’„ Darauf-hin erschuf Gott Adam und zeigte den Engeln das, was sie nicht vorher wissen konnten (Sure 2:31): „Und er lehrte Adam alle Namen (d.h. er lehrte ihn, jedes Ding mit seinem Namen zu bezeichnen). Hierauf legte er sie (d.h. die einzelnen Dinge) den Engeln vor und sagte: ‚Tut mit ihre Namen kund, wenn (anders) ihr die Wahrheit sagt.’„ Als aller-erster Lehrer bringt Gott Adam die grundlegendste Wissen als anvertrautes Gut („amana“) bei, wodurch er nicht nur rangmäßig über die Engel gesetzt wird, sondern unter der Schöpfung den absolut höchsten Rang einnimmt. Erst dadurch erhält der Mensch die Würde, von den Engeln geehrt zu werden (Sura 2:34): „Und als wir zu den Engeln sprachen: ‚Werft euch vor Adam nieder!’„ Es spricht für die Einmaligkeit des menschlichen Wesens, also des Trägers der „amana“, wenn das Nichtbefolgen dieses Gebotes zur ewigen Verdammnis der Abtrünnigen führt (Sura 2:34): „…da warfen sie (Engel) sich nieder bis auf Iblis; er weigerte sich und war hochmütig. Und damit wurde er einer der Ungläubigen.“ Damit fängt aber erst der Prozess der Verwirklichung des anvertrauten Gutes an: Adam und seine Gattin wurden auf die Probe gestellt (Sura 8:35): „…Jetzt bekommt ihr dafür, dass ihr ungläubig waret, die Strafe (der Hölle) zu spüren.“ Adam wird vor die freie Wahl gestellt. Er begeht das Vergehen freiwillig. Dies aber ist die angeborene Freiheit, die ihn zur Übernahme der Verantwortung, zur Übernahme der Amana befähigt und ihn zum Khalifa, Stellvertreter Gottes auf der Erde prädestiniert.

    Soweit die positiven Fakten, die die eigentliche Grundlage der gesunden Seele aus-machen: die gottausgerichtete Anlage, die dem Menschen angeboren ist; die Leitung, die er von Gott erhält; die Fähigkeit, diese interne und externe göttliche Gabe, das anvertraute Gut, zu übernehmen; die Freiheit, dieser Verantwortung gerecht zu werden und ein ungestörtes Verhältnis zu Gott zu pflegen.

    2   Die gestörte Seele

    Es gibt aber auch andere reale Momente, worauf der o.g. Koranvers 33:72 hinweist, nämlich, dass der Mensch unwissend und ungerecht ist. Hierbei handelt es sich um eine Realität, die an verschiedenen Stellen im Koran immer wieder betont wird. Der Mensch wird hier regelrecht getadelt, wobei dieser Tadel stets Gründe hat. So in Sure 4:27, wo es heißt: „Gott will sich euch (seinerseits gnädig) wieder zuwenden. Diejenigen aber, die ihren Gelüsten folgen, wollen, dass ihr (vom rechten Weg) völlig abweicht.“ Hier wird eine andere Seite der menschlichen Natur, nämlich seine Schwäche, deutlich. Die Eigenschaft des Menschen, „als Schwacher“ erschaffen worden zu sein bedeutet, dass er nicht nur von einer großen Stärke, sondern auch von einer ebenso großen Schwäche bestimmt ist, sofern er sich mitten in der realen Welt befindet (Ehe, Kinder, Beruf und all die Dinge, die im Alltag zum Leben eines Jeden gehören). Mit dieser Schwäche, die im Koran immer wieder ausdrücklich betont wird, beginnt nun das gestörte Verhältnis zu Gott. Der Mensch ist von seiner materiellen Natur her von vielen Versuchungen umgeben, die für „amana“, das anvertraute Gut, eine Gefahr bilden können. Wenn also der Mensch Engel wäre, wäre es keine Kunst, seiner Verantwortung gerecht zu werden, weil er von keiner dieser Versuchungen heimgesucht wurde. Seine Schwäche ist also die Vor-aussetzung für seine Stärke. Und gerade dieses Behaftetsein mit so vielen Problemen und Hindernissen ist der Grund, warum der Mensch über die Engel gestellt ist.

    3   Die kranke Seele

    Es geht nun um eine ausgewogene Harmonie zwischen diesen divergierenden, jedoch in gleicher Weise mitgegebenen Stärken und Schwächen. Nur in diesem Falle können wir von einem ungestörten Verhältnis zu Gott, also einer ungestörten Seele des Menschen sprechen. In gleicher Weise bildet jegliche Disharmonie zwischen den grundlegenden Gegensätzen des Menschen – und das kann in unendlichen Variationen in jedem Menschen vorkommen – die Quelle eines gestörten Verhältnisses zu Gott, also eines gestörten seelischen Zustandes.

    Die allererste Störung, die im Koran immer wieder betont wird, ist das gestörte Verhältnis zwischen Mensch und Gott in der Art, dass der Mensch das, was ihm Gott mit-gegeben hat, nicht wahrnimmt, nicht verwirklicht, denn er ist u.a. unwissend und un-gerecht. Da wir auf der Suche nach psychischen Vorgängen sind, ist in diesem Zusammenhang ist noch einmal zu betonen, diese koranischen Aussagen in diesem Fall nicht als moralische Vorschriften, sondern als Tatsachenaussagen zu verstehen, als eine Be-schreibung der Realität. So sagt der Koran in Sure 21:37: „Der Mensch ist aus Eilfertigkeit erschaffen.“ Das heißt, der Mensch bringt keinerlei Geduld, um sein Verhältnis zu Gott richtig zu gestalten. Dabei ist nicht einfach die Hast des täglichen Lebens gemeint, sondern das Fehlen der Kraft, sich mit den Ereignissen und dem Leben geduldig und nachdenklich auseinander zu setzen. So wird in Sure 89:15-16 gesagt: „Wenn der Mensch von seinem Herrn in der Weise auf die Probe gestellt wird, dass dieser freigiebig (w. großmütig) gegen ihn ist und ihm Wohltaten erweist, sagt er: ‚Mein Herr war freigiebig gegen mich.‘ Wenn das aber in der Weise geschieht, dass er ihm seinen Unterhalt begrenzt (w. abmisst), sagt er: ‚Mein Herr hat mich erniedrigt.’„ Die stete Eile des Menschen begründet also seine Unfähigkeit, die Prüfungen Gottes durchzustehen. Eine weitere Stelle dazu ist Sure 10:12: „Und wenn über den Menschen Not kommt, betet er zu uns im Liegen, Sitzen oder Stehen. Aber nachdem wir seine Not behoben haben, geht er dahin, wie wenn er (überhaupt) nicht zu uns deswegen gebetet hätte.“ Das gestörte Verhältnis ist ganz eindeutig: Der Mensch ist in dieser Welt vom Materiellen so behaftet, dass er nur dann Gott anruft und sich seiner bewusst wird, wenn er Probleme hat. Sind diese gelöst, hat er es nicht mehr nötig, sich mit Gott in Verbindung zusetzen. Das bedeutet islamisch-anthropologisch, dass sich der Mensch erst dann auf die Tiefe seiner Seele zurückverwiesen sieht, also auf das, was ihm von Natur aus mitgegeben wurde, wenn er durch materielle, also konkrete Ereignisse in eine Zwangslage kommt. Hierbei handelt es sich um eine allgemeine Charakterisierung, bei der wir alle auch an uns selbst denken können. Beten und Fasten allein drücken noch lange nicht die tiefe Verbindung mit Gott aus, die man vor allen Dingen immer dort wahrnimmt, wo Schwierigkeiten bestehen. Das Problem ist dabei nicht, dass man diese Verbindung zu Gott besonders in kritischen Lagen hat, dass Problem ist, dass man diese später wieder vergisst. Im Koran heißt es in Sure 10:21-23: „Und wenn wir die Menschen eine Barmherzigkeit kosten ließen, nachdem sie ein Leid berührt hatte, so schmiedeten sie sofort Pläne wider unsere Lehren. (die Engel) schreiben ja, was ihr plant, nieder. Er ist’s, der euch reisen lässt auf dem Festland und zu Meer. Wenn ihr zu Schiffe seid, und die Schiffe mit den Menschen bei guten Wind fahren, und die Menschen sich darüber freuen, so lässt er einen Sturm-wind sie erfassen und die Wogen sie von allen Seiten erreichen, und sie meinen, dass sie von diesen rettungslos eingeschlossen sind; dann rufen sie Gott an in echtem Glauben: Ach, wenn du uns (nur) hieraus erretten wolltest; dann werden wir ganz gewiss unter den Dankbaren sein!‘ Nachdem er sie aber gerettet, so üben sie wieder Gewalt auf Erden ohne Grund. O ihr Menschen, diese eure Vergewaltigung ist gegen euch selbe gerichtet. Habt Nießbrauch am irdischen Leben, alsdann wird eure Rückkehr zu Uns sein, und Wir werden euch verkünden, was ihr getan habt.“ Hierbei handelt es sich um die tiefste anthropologische Störung, die menschliche Seele überhaupt betreffen kann, dass nämlich der Mensch von dem, wofür er geschaffen ist, sich praktisch trennt und erst durch An-wendung von äußerer Gewalt wieder zu sich selbst zurück findet, bis er es dann wieder vergisst. So steht der Mensch zwischen zwei Polen, von denen einer durch die Realität seiner Natur, der andere durch das Herausgerissenwerden aus einem ruhigen, harmonischen Lebensstrom gekennzeichnet ist. Dieses Herausgerissenwerden bedeutet die Entstehung von Störungen, wobei der Mensch diese erst wahrnimmt, wenn äußere Ereignisse ihn bedrängen. Dabei ist dieses Zurückkehren zu sich selbst nichts anderes als ein Versuch, diesen Problemen zu begegnen und sie zu bewältigen. Diese Situation ist mit dem Vergleich einer ruhigen Bootsfahrt und dem plötzlich aufkommenden Sturm nicht treffender zu charakterisieren. Wenn diese tiefe Verbindung zu Gott besteht, bedeutet das, dass es dem Menschen gleich ist, ob das Schiff ruhig fährt oder vom Sturm geschüttelt wird. Hier liegt dann eine Identität des Willens Gottes und des menschlichen Willens vor. Im Koran finden sich viele Beispiele des gestörten Verhältnisses des Menschen zu Gott. In Sure 30:36-37 heißt es: „Und wenn Wir die Menschen Barmherzigkeit kosten lassen, werden sie übermütig, und wenn sie ein Übel trifft dafür, was ihre Hände bereits angerichtet haben, dann verzweifeln sie. Sehen sie denn nicht, dass Gott reichlich oder kärglich versorgt, wen er will? Hierin sind wahrlich Zeichen für solche Leute, die glauben.“

    Neben der bereits angesprochenen Eigenschaft der Undankbarkeit wird hier die menschliche Verzweiflung angesprochen. Es liegt also dann ein gestörtes Verhältnis zu Gott vor, wenn Probleme bestehen und der Mensch vergessen hat, dass er durch Gott Hilfe erfahren kann und daher in Verzweiflung gerät. Weiter heißt es im Koran Sure 39:49: „Und wenn den Menschen ein Leid berührt, so ruft er Uns an; aber wenn Wir ihm von Uns aus eine gute Gabe gewähren, sagt er: Es wurde mir nur gewährt auf Grund (meines) Wissens!‘ Nein! Sondern es ist ein Prüfung, doch die meisten von ihnen wissen es nicht.“ Hier kommt ein neues Moment ins Spiel in dem Sinne, dass sein Verhältnis zu Gott ständig einer Prüfung ausgesetzt ist. Weiter heißt es im Koran in Sure 96:1-7: „Lies im Namen deines Herrn, Der erschaffen aus einem Blutgerinnsel den Menschen! Lies, denn dein allgütiger Herr ist’s, Der durch die Feder lehrt, lehrt den Menschen, was er nicht weiß! Fürwahr! Der Mensch überschreitet die Schranken, wenn er sich für unbedürftig hält.“ In diesen kleinen Koranversen wird die Entstehung des Menschen und auch dessen geistige Ausbildung durch Gott direkt angesprochen. Dann kommt die Wende: Wahrlich, der Mensch überschreitet die Schranken, er ist frevelhaft…, wobei es hier besser „widerspenstig“ hieße, d.h. er leistet aktiv Widerstand. Der Mensch beherbergt einen Dualismus in sich, d.h. einmal eine Tiefe, die Konflikte nie aufkommen ließe, wenn der Mensch in der Lage wäre, dieser Tiefe zu entsprechen. Auf der anderen Seite besteht die Realität, dass der Mensch als einer Raum-Zeit-bedingten Existenz vielen Kräften ausgesetzt ist, die ihn von seiner hohen Natur entfernen. Darin liegt das Problem. Nun hat die Tiefe des Menschen und ihre Gefährdung eine Hilfe durch die Gesandtschaft bekommen, wie auch die andere Seite eine Unterstützung von außen, nämlich durch Satan erhält. So ist diese Seite des Dualismus nicht eigentlich eine böse Seite, sondern als Gegensatz geradezu nötig, um das anvertraute Gut überhaupt tragen zu können. Erst dieser gegenseitige Ergänzung macht ihn zum Menschen. Hier liegt die Stärke und die Gefahr des Menschen zugleich, wobei es von der Schöpfung her nicht um eine Polarisierung, sondern um eine Ergänzung handelt, die jedoch im Leben zu einer Polarisierung werden kann. Von der Gesandtschaft kommt „Huda“, die den schwachen Menschen unterstützt, dass er seiner schwachen Seite nicht unterworfen wird, sondern durch diese hindurch zu sich selbst findet. Auf der anderen Seite findet sich der Satan, der ihm immer wieder diese andere Seite schmackhaft macht. Das findet sich in mehreren Koranversen, so u.a. in Sure 6:43: „Da hätten sie sich doch demütigen sollen, als Unsere Strafe zu ihnen kam, aber ihre Herzen verhärteten sich, und der Satan zeigte ihnen als schön, was sie taten.“ Außerdem in Sure 15:30-42, wo Satan bei Gott schwört, die Menschen zu versuchen und die Antwort Gottes erhält, dass er diejenigen, die gutgläubig sind, nicht beherrschen könne: „Da wurden ihm (dem Menschen) die Engel untertänig; ihrer alle insgesamt, nur nicht Iblis; er weigerte sich, bei den Untertänigen zu sein. Der (Herr) sprach: O Iblis, was ist dir, dass du nicht niedergefallen bist?‘ Er antwortete: Niederfallen will ich nicht vor einem Menschen, den Du geschaffen hast aus trockenem Ton und dann aus geformtem Schlamm.‘ Er sprach: Hinaus von hier (aus dem Paradiese)! Denn Du sollst ausgewiesen sein, und gewiss wird auf dir der Fluch sein bis zum Tage des Gerichts!‘ Er sprach: O mein Herr, lass mir doch Zeit bis zum Tag, da sie erweckt werden!‘ Er erwiderte: Du seiest also einer, dem Verzug ist bis zum Tage der festgesetzten Zeit.‘ Er sprach: Mein Herr, da Du mich als Irrenden ansiehst, werde ich die Dinge auf Erden für sie verlockend machen, und verführen werde ich sie allzumal, außer Deinen lauteren Knechten unter ihnen.‘ Er sprach: Dieser (der Weg der lauteren Knechte) ist allerdings ein gera-der Weg zu Mir. Wahrlich, keine Gewalt sei dir über Meine Diener, nur wer dir folgt von den Verführten.“ Weiterhin in Sure 2:168-169: „O ihr Menschen, esset das Erlaubte, das Gute von dem, was auf Erden ist, und folget nicht den Fußstapfen des Teufels; er ist euch bestimmt ein offener Feind. Er heißt euch nur das Üble und das Schändliche und, dass ihr Gott zuschreibt, was ihr nicht wisst.“ Der Satan zwingt den Menschen also nicht mit seinen Händen, sondern er gebietet es. In Sure 2:268 handelt es sich um eine andere Seite des Satan, dass er nämlich dem Menschen Angst einflößt (Wenn du das nicht tust, dann wirst du arm usw.): „Der Teufel schreckt euch mit Furcht vor Verarmung durch Spenden und überredet euch zum Geiz, Gott aber verheißt euch Schutz vor der Armut und verheißt Überfluss; denn Gott ist freigiebig, allwissend.“ In der letzten Koransure 114:1-7 heißt es dann: „Sprich: Ich suche Zuflucht beim Herrn der Menschen, dem König der Menschen, dem Gott der Menschen, vor dem Übel des Einflüsterers, des Versteckten, welcher in die Herzen der Menschen einflüstert, aus den Dschinn und den Menschen.’„ Hier kommt dieser Prozess zwischen dem göttlichen und dem Menschlichen am besten zur Sprache: man nimmt Zuflucht vor Gott, d.h. Gott ist der einzige, der dich aus diesem Dilemma erretten kann.

    4   Lösungen

    Jetzt kommen wir zum letzten Punkt, und zwar zur Bekämpfung dieses gestörten Verhältnisses. Das gestörte Verhältnis zu Gott bewirkt, dass der Mensch auch ein gestörtes Verhältnis zu seinen Mitmenschen und zur Welt hat, und zwar insofern, dass der Mensch aus-schließlich an sich selbst denkt, denn da die Verbindung mit Gott zerstört ist, rückt er selbst in den Mittelpunkt. Es besteht die Gefahr, dass er alles für sich und zum eigenen Nutzen besitzen will, ob es nun Reichtum, Familie, Kinder oder Beruf sind. Gestört ist dieses Verhältnis zu seinen Mitmenschen vor allem deshalb, weil er diesen nicht das gleiche Recht einräumt wie sich selbst. Als natürliche Folge entsteht daraus eine Selbstbezogenheit des Men­schen. Andererseits entsteht durch die Verbindung zu Gott gleich-zeitig und automatisch eine gerechte Verbindung zu den anderen Menschen, denn auch diese sind wie er mit Gott verbunden. Als wichtigste Konsequenz aus dieser unterbrochenen Verbundenheit ist festzuhalten, dass sich diese in mannigfacher Weise auf den Alltag auswirkt. Der Koran nennt in diesem Zusammenhang immer wieder den Begriff „sabr“ – Geduld, eine seelische Grundhaltung, die der Mensch lernen muss. Hier wird deutlich, dass sich das Ganze in einem Prozess verwirklicht. Der Mensch setzt hier mit seinem Willen an, es liegt bei ihm selbst, ob er die genannten Störungen bekämpfen will. In der Sprache Al Ghazalis kann man dabei das Herz des Menschen als Kampffeld zwischen Gott und Teufel bzw. zwischen den Helfern Gottes und des Teufels, also dort wirkenden Kräften betrachten. Er gibt viele praktische Beispiele, wie der Mensch sich in diesem Kampf verhalten soll. Er benutzt dazu den Koran, der zeigt, mit welchen Eigenschaften der Mensch diesen Kampf bestehen kann. Neben „Sabr – Geduld“ (Sure 2:155-157) ist dies „Istiqama – Widerstand leisten“, sich standfest zeigen. Dann das allerwichtigste, nämlich „tawakul – Vertrauen“, also die Fähigkeit, alles Gott zu überlassen. Weiterhin, genauso wichtig, „ichlas – ganz und gar für Gott da sein“, alle anderen Kräfte auszu-schalten. Alle Handlungen, das ganze Leben gilt Gott, nicht den Menschen. Als Beispiel nennt der Koran das Gebet, das oft der Leute wegen verrichtet wird und nicht Gott zu-liebe. Weiterhin ist der Begriff „hassanah – das Gute“ wichtig. Hierunter kann man viele positive Werte fassen, denen gegenüber „sayya – das Böse“ steht. Dabei soll man das Böse mit Gutem vergelten und nicht mit Bösem, so Sure 13:22: „Und welche standhaft bleiben, das Gefallen ihres Herrn zu erstreben und die das Gebet verrichten und das, was Gott ihnen geschenkt hat, heimlich und „öffentlich spenden und das Böse durch das Gute verdrängen; diese, für sie ist die Belohnung jenes Aufenthaltes.“ Dieser Punkt ist deshalb so wichtig, weil man dem Islam stets vorwirft, diese Eigenschaften nicht zu kennen, denn es handelt sich hier um nichts anderes als um Nächstenliebe. Nach diesen positiven Werten oder Eigenschaften kennt der Koran auch eine andere Gruppe, nämlich die negativen Werte. An hoher Stelle steht „bochl – Geiz“ (Sure 3:180), dass man von dem, was man besitzt, dem anderen nichts abgibt. Das gilt sowohl für die obligatorischen Abgaben wie Zakat, jedoch auch für Dinge, die man anderen nicht gewährt, obwohl sie diesem von Gott gegeben sind. Weiterhin wäre der „Hochmut“ zu nennen (Sure 4:35 oder 7:145). Selbst ein gütiger Mensch kann böse sein, indem er den anderen zwar hilft, diesen aber dann vorhält, dass er derjenige gewesen sei, der geholfen habe: „Minna“ z.B. Sure 2:262. Alle diese negative Werte machen das gestörte Verhältnis zum Mitmenschen deutlich. Dazu gehört auch, den anderen zu verspotten. Dieses wird ausführlich in folgenden Ver-sen erläutert: Suren 49:11, 83:29-31, 104:1-5. Dann folgen die Stellen, die speziell die „Geringschätzung“ der anderen beinhalten: Sure 68:10-13. Zwischen diesen positiven und negativen Werten besteht im Menschen ein kämpferischer Prozess. Bewältigt man das Negative und verwirklicht man das Positive kann man von der „Bereinigung der Seele“ sprechen. Die gesamte Last von der Seele zu nehmen, ist praktisch das göttliche Ziel des Menschen, das, was der Koran mit „Tazkiya“ (Reinigung) bezeichnet: Sura 91:7-10: „Und bei der Seele – und wie hat Er sie vollendet, und ihr zur Einsicht gegeben, was Bosheit und was Gottesfurcht für sie ist! Glückselig ist gewiss der, der sie (die Seele) läutert, und unglücklich ist ja der, der sie verdirbt!“ Abschließen will ich mit Sure 89:27-30: „O du beruhigte Seele, kehre zurück zu deinem Herrn, befriedigt (mit ihm) und (Ihn) befriedigend! Und tritt denn ein unter Meine Knechte, und betritt mein Paradies!“ „Beruhigte Seele“ bedeutet hier „ausgeglichen“, „sich in einer sicheren Geborgenheit befinden“, „die, die du deine Laster einmal bewundert hast und es nun geschafft hast, zu sein, wie du von deiner Natur her geschaffen bist…“. Mit anderen Worten: will man den Menschen im Islam und sein Verhältnis zu Gott charakterisieren, so kann und muss man von zwei Worten ausgehen: von „rabb“ und „’abd“. Es handelt sich hier um zwei korrelierende Begriffe, die leider stets mit Herr und Sklave übersetzt werden und so den Zugang zum anthropologischen Gehalt dieser fundamentalen Begriffe verbauen. „Rabb“ gehört zu den Worten, die wir nicht übersetzen Kannen und bedeutet so viel wie „einer, der sich umfassend um einen kümmert und ihn umsorgend und fürsorglich erzieht“. „’Abd“ dagegen ist nicht Sklave oder Diener, sondern der, der sich dem „rabb“ vertrauensvoll zuwendet und sich ganz anvertraut. So ist es z.B. die größte Ehre für Jesus, Muhammad und andere bedeutsame Gestalten, „’Abdullah“ zu sein. „’Abd“ ist also jemand, der alles das, was der „rabb“ ihm hat zukommen lassen, nämlich „amana“, in sich verwirklicht und nur in diesem Falle ist von einer gesunden Seele zu sprechen.

    [1] Vortrag vom 4.11.89 in Köln, 3. Arbeitstagung der Islamischen Arbeitsgemeinschaft für Sozial- und Erziehungsberufe

  • Blogreihe: Institute und Vereinigungen muslimischer Psychologen – Woche 1

    Institute und Vereinigungen muslimischer Psychologen

    In dieser Blogreihe werden wir Euch über mehrere Wochen hinweg verschiedene Institute und Vereinigungen aus aller Welt vorstellen, in denen muslimische Psychologen glaubens- und kultursensible aber auch spirituell integrierte Beratung und Psychotherapie für muslimische Klienten und Patienten anbieten. Unser Schwerpunkt liegt auf Großbritannien und Amerika. Dies wird vor allem für die muslimischen Psychologiestudenten unter unseren Lesern interessant sein, da ein Großteil dieser Institute und Vereinigungen auch klinische Praktika anbieten.

    In der ersten Woche möchten wir Euch zunächst eine Einschätzung der momentanen Lage des britischen Netzwerks muslimischer Psychologen geben und die wichtigsten Institutionen vorstellen, bevor wir ein paar davon genauer betrachten möchten.

    Das Netzwerk muslimischer Psychologen profitiert personell von der 25 bis 30-jährigen Erfahrung einzelner Psychotherapeuten und Berater und ist sehr klinisch ausgerichtet. Malik Badri, ursprünglich aus dem Sudan und danach in Malaysia lehrend tätig, publizierte sein erstes Buch 1979, welches in Großbritannien im Rahmen einer Diskussion zwischen dem dortigen ersten muslimischen Psychotherapeuten Rasjid Skinner, muslimischen Gelehrten wie Muhtar Holland und Timothy Winter, den Psychotherapeuten Rabia Malik und Aliah Haeri und dem Naturmediziner Hakim Salim Khan über einen Zeitraum von zehn Jahren rezipiert wurde. Aus dieser langjährigen kritischen Diskussion bzw. der Kritik Badris resultiert der Ansatz Skinners von 1989.

    Die klinische Ausrichtung der britischen Strukturen zeigt sich insbesondere in langjährig etablierten, postgradualen Weiterbildungsprogrammen. Hakim Salim Khans Arbeit ist auf die Entwicklung eines naturmedizinischen bzw. -heilkundlichen Modells und dessen klinischer Anwendung ausgerichtet. Er gründete 1978 die Mohsin Clinic of Natural Medicine und etablierte das College of Medicine and Healing Arts in Leicester. Dieses bietet ein Programm in naturheilkundlicher Beratung und Psychotherapie an und brachte jüngst seine ersten Absolventen hervor. Diesem folgte 1989 ein Kurs in Islamischer Beratung von Stephen Maynard & Associates in London.

    Kurz nach der Jahrtausendwende fanden sich die wichtigsten Vertreter der Strömung in London zusammen, um das Institute of Islamic Counselling ins Leben zu rufen. Dieser Versuch scheiterte jedoch in seinem Ziel, sich zu einer nationalen Organisation zu entwickeln, da grundlegende Konzepte bzw. theoretische Vorstellungen kaum diskutiert wurden und man sich nur schwierig organisieren konnte. 2014 kam es nach langjähriger Vorbereitungsarbeit durch Rasjid Skinner und Abdul-Wali Wardak in Bradford zur Gründung des Ihsaan-Dienstes, der ein Angebot an islamisch-orientierter professioneller Beratung und Therapie vorhält. Die Vorbereitungsarbeiten umfassten dabei vor allem das Training von Psychotherapeuten in einem islamischen Ansatz, der sich an einem islamischen Verständnis des Selbst und seinen Dynamiken orientiert. In der Therapie werden z. B. Faktoren wie die natürliche Ausrichtung des Menschen auf Gott (Fitra) sowie kulturelle, religiöse und spirituelle Bedingungen berücksichtigt, die die psychische Gesundheit beeinflussen können. Ebenfalls 2014 fand der erste Kurs Islamic Approaches to Psychology and Psychotherapy am Cambridge Muslim College statt, der seitdem regelmäßig von Rasjid Skinner geleitet wird. Skinner selbst ist Gastprofessor an der Fakultät für klinische Psychologie der Universität Karachi in Pakistan.

    In jüngster Zeit kam es durch Penny Appeal zur Gründung des Alif-Institutes, welches auch eine Abteilung für islamische Psychologie beherbergt. Diese wird von einer Reihe von Imamen und Theologen geführt und strebt an, eine zentrale Stelle für die Akkreditierung von islamischen Beratern zu werden. Es kam im Frühjahr 2018 zu harten inhaltlichen und politischen Auseinandersetzungen zwischen den „etablierten“ muslimischen Psychologen und den Imamen vom Alif Institute. Auf der einen Seite argumentieren viele muslimische Psychologen, dass eine weitere Akkreditierungsstelle neben dem Institute of Islamic Counselling nicht notwendig ist und nur zu unnötiger Verwirrung führt. Auf der anderen Seite kritisieren jedoch die Imame und Theologen, dass die islamisch theologische Fundierung der soweit entwickelten islamischen Psychologie und Beratung durch muslimische Psychologen qualitativ minderwertig ist und die Imame und Theologen somit Abstand wahren. In der Konsequenz gibt es nun zwei Ausbildungsstellen für islamische Berater in London, die langfristig wohl mehr oder weniger friedlich nebeneinander existieren werden.

    Quelle der Originalveröffentlichung (siehe auch für Quellennachweise):

    Kaplick, P. M., & Rüschoff, I. (2018). Islam und Psychologie in Großbritannien, den USA und Deutschland. Wege zum Menschen70(1), 78-88. doi:10.13109/weme.2018.70.1.78

  • Blogreihe: Die Terra Incognita der islamischen Psychologie – Woche 17

    Somatische Therapien und Psychotherapie in islamischen Krankenhäusern

    In unserem letzten Beitrag der Blogreihe zur Terra Incognita der islamischen Psychologie setzen wir uns mit der somatischen Therapie und Psychotherapie in der islamischen Blütezeit auseinander.

    Somatische Therapien

    In der Überzeugung, dass psychische Störungen physischer oder organischer Natur sind, neigten muslimische Ärzte dazu, somatische Behandlungen zu verschreiben, nachdem sie die Symptome ihrer Patienten analysiert hatten. Die Literatur zeigt zahlreiche Fallstudien, in denen Ärzte einen Großteil ihrer Behandlungsmethoden darstellten. Detaillierte Chroniken wurden aufgezeichnet, um physiologische und pathologische Informationen zu Einzelfällen und deren Behandlung zu beschreiben. Solche klinischen Erfahrungen wurden häufig zwischen Ärzten und Lehrern weitergegeben, was zu einer „Datenbank“ mit medizinischem Wissen und Referenzen führte. Medizinische Abhandlungen zeigen klar, dass jeder Arzt die Behandlungsmethoden anderer Ärzte auf ihrem Gebiet kannten.

    Für jede in den Texten beschriebene Krankheit gab es Aufzeichnungen zu verschriebenen Behandlungen sowie Dosierungsempfehlungen, Dauer und eine Liste der medizinischen Inhaltsstoffe. Die Medizin wurde in verschiedenen Formen wie Cremes, Kräutermischungen, festen Pillen und Flüssigkeiten zur Verfügung gestellt. Neben den pflanzlichen und organischen Medikamenten umfassten andere üblicherweise empfohlene somatische Therapien Übungsroutinen, entspannende Umgebungen (d.h. durch Musik und Spaziergänge im Garten angelegt) und Aktivitäten wie Geschichtenerzählen und Singen.

    Aus den Unterlagen geht auch hervor, dass es üblich war, eine Kombination von Therapien für eine ausgewogene und umfassende Behandlung zu verschreiben. Zum Beispiel gibt Ibn Sina detaillierte Anweisungen für die Durchführung der Phlebotomie zur Behandlung der Melancholie, während er gleichzeitig seine Patienten anweist, ein Bad zu nehmen oder heiße Öle zu verwenden und außerdem Übungen durchzuführen, die das Herz stärken. Hinweise auf eine solche Kombination von somatischer Therapie mit anderen Therapien (z. B. Verhaltens- und psychotherapeutische Praktiken) zeigen, wie umfassend sich die Ärzte der Behandlung ihrer Patienten mit psychischen Erkrankungen gewidmet haben (Awaad et al., 2019).

    Psychotherapie

    Ibn Hazm (2000) behauptet, dass das universelle Ziel, „frei von Angstzuständen“ zu sein, die Menschen zum Handeln im Leben antreibt. Al-Balkhi betonte auch, dass selbst „normale Menschen“ von psychischen Symptomen wie Angst, Ärger und Trauer geplagt werden. Das meiste davon sei erlerntes Verhalten und beziehe sich darauf, wie verschiedene Personen auf emotionalen Stress reagieren. Seine ausführlichen Diskussionen über die Veränderung des fehlerhaften Denkens und der irrationalen Überzeugungen, die für ihre emotionalen Zustände verantwortlich sind, standen vor elf Jahrhunderten im Mittelpunkt seiner Entwicklung einer kognitiven Therapie (Badri, 2013). Zahlreiche Texte muslimischer Gelehrter beschrieben kognitive Komponenten von Depression und Traurigkeit, Angst und Unwohlsein Angst, Obsessionen und Ärger im Detail und schlugen eine Vielzahl von Therapien und Behandlungen vor.

    Al Balkhis Grundlagenarbeit bei der Entwicklung der kognitiven Therapie umfasste eine Reihe von Merkmalen, die auch in der heutigen modernen Therapie anerkannt werden. Zum Beispiel wird sein präventiver Ansatz, der Menschen dazu anregt, gesunde Erkenntnisse für Notfälle zur Verfügung zu haben, mit der heutigen „rationalen kognitiven Therapie“ verglichen (Badri, 2013). Er und andere prominente muslimische Gelehrte wie Al Ghazali, Al Kindi, Ibn Hazm und Ibn Taymiyyah demonstrierten in ihren Behandlungen Praktiken der wechselseitigen Hemmung, die für die heutige Verhaltenstherapie grundlegend sind. Miskawayh, einer der ersten muslimischen Ethiker des 10. Jahrhunderts, entwickelte eine Theorie, in der die Wandlungsfähigkeit des menschlichen Verhaltens zur Förderung der Disziplin beschrieben wurde. Dies war für viele spätere Arbeiten von grundlegender Bedeutung, die darauf abzielten, Verhaltensweisen, Einstellungen und Verhaltensweisen durch Lernprozesse, Training und schrittweise Schritte der Verhaltensgestaltung zu verändern (Awaad et al., 2019).

    Die moralische Entwicklung war ein bedeutender Zweig der islamischen Psychotherapie. Viele Wissenschaftler widmeten sich Monographien, um sich mit Verhalten und ethischer Entwicklung auseinanderzusetzen. Dazu gehörten detaillierte Beschreibungen von Ethik und Methoden zum Erwerb höherer Moralität sowie von moralischen Erkrankungen wie Selbstsucht, Lust, Habsucht usw. und Methoden zu deren Behandlung. Gelehrte wie Al Ghazali definierten die moralische Entwicklung als ein Mittel, um nicht alle Formen von Wünschen und Bedürfnissen zu unterdrücken, sondern um Gleichgewicht und Selbstdisziplin zu üben. Es ist auch bekannt, dass religiöse Überzeugungen einen starken Einfluss auf die Emotionen und Verhaltensweisen einer Person haben (Awaad et al., 2019).

    Neben Selbstdisziplin wurden Konzepte der Verstärkung, Belohnung und Bestrafung beschrieben. Beispielsweise unterschied al-Razi zwischen den Erfahrungen der inneren positiven Verstärkung und der äußeren positiven Verstärkung, wenn er neue Verhaltensweisen und Verhaltensweisen erlernt. Das Verstehen und Verwenden von Verstärkungsmitteln ist für die modernen Theorien des Behaviorismus, die erst im späten 19. Jahrhundert entwickelt wurden, unerlässlich. Werke von Miskawayh und al-Ghazali beschreiben zum Beispiel eine Strategie, die den sogenannten „Antwortkosten“ ähnelt, um unerwünschte Verhaltensweisen zu beseitigen, wie Bestrafung / Reinigung durch psychologische, physische oder spirituelle Mittel, wie z. B. das Zahlen von Geld an die Armen, das Fasten. etc. Obwohl es nicht ungewöhnlich war, solche religiösen Rituale in therapeutische Behandlungen einzubeziehen, da sie sich direkt an den Qur’an halten, integrierten einige muslimische Gelehrte, Philosophen und Ärzte trotz einiger religiöser Kontroversen viele ihrer ererbten griechischen Lehren. Zum Beispiel beeinflusste die griechisch-musikalische Tradition muslimische Philosophen wie al-Kindi, die Musik zu einem Bestandteil des allopathischen Behandlungssystems zu machen, auch wenn dies von einigen Interpreten des islamischen Gesetzes nicht gern gesehen wurde. Diese Beispiele sind nur einige davon und veranschaulichen die Entstehung von Theorien und Praktiken der Psychotherapie, die von Intellektuellen dieser Zeit mit der Integration verschiedener Traditionen übernommen wurden (Awaad et al., 2019).

    Referenzen

    Awaad, R., Mohammad, A., Elzamzamy, K., Fereydooni, S., & Gamar, M. (2019). Mental Health in the Islamic Golden Era: The Historical Roots of Modern Psychiatry. In H. S. Moffic, J. Peteet, A. Z. Hankir, & R. Awaad (Eds.), Islamophobia and Psychiatry: Recognition, Prevention, and Treatment (pp. 3-18). Basingstoke, England: Springer.

    Badri, M. (2013). Translation and annotation of Abu Zayd al-Balkhi’s Sustenance of the Soul. Richmond, VA: International Institute of Islamic Thought.

    Ibn Hazm, A. A. (2000). Al-Akhlaq wa al-Siyar (Morals and Behavior). Beirut, Lebanon: Dar Ibn Hazm

  • Blogreihe: Die Terra Incognita der islamischen Psychologie – Woche 16

    Das islamische psychiatrische Krankenhaus

    Die Antwort auf die Frage, wie viel wir über die psychologische, psychotherapeutische und psychiatrische Ideengeschichte muslimischer Gelehrter wissen, ist kurz und prägnant: noch nicht viel. Daher ist es nicht verwunderlich, dass der Prozentsatz bisher nicht gesichteter Arbeiten muslimischer Gelehrter zur Psychologie, Psychotherapie und Psychiatrie auf über 90% geschätzt wird. Berichte über die Beiträge der einzelnen Gelehrten sind teilweise noch sehr anekdotisch gehalten, nur wenige wie al-Balchī oder al-Ghazālī wurden einer ausführlicheren psychologischen Rezeption unterzogen und haben transhistorische Ergebnisse zu Tage befördert.

    Es kann eine Verdichtung von Arbeiten muslimischer Gelehrter im 9. und 10. Jahrhundert im heutigen Iran und Afghanistan festgestellt werden, während Texte im 11., 12. und 13. Jahrhundert vermehrt aus dem muslimischen Spanien kamen. Ein Blick auf die Werke muslimischer Gelehrter kann uns dabei helfen, unsere eigene wissenschaftliche Historie als Psychologen, Psychotherapeuten und Psychiater besser zu verstehen. Zukünftig gilt es außerdem zu klären, ob und inwieweit uns die Texte muslimischer Gelehrter dabei helfen können, Lösungen für die Probleme und Fragestellungen der gegenwärtigen Psychologie, Psychotherapie und Psychiatrie zu finden bzw. diese aus neuen Blickwinkeln zu betrachten. Einen interessanten Bereich dafür stellt z.B. die Rolle der Spiritualität in der Psychologie und Therapie oder die Klassifikation von Störungsbildern, welche im Kontext des kürzlich vorgeschlagenen RDoC-Systems weiter an Aktualität gewinnt, dar.

    Jenseits der theoretischen Durchdringung der Texte früher muslimischer Gelehrter lohnt sich auch ein Blick auf deren Behandlungspraxis, dies insbesondere in Hinblick auf Krankenhausstrukturen, somatische Therapien und die Psychotherapie. Bezüglich der Krankenhausstrukturen lässt sich die institutionelle Unterbringung psychischer Kranker in zwei Bereiche aufgliedern: Nervenheilanstalten (insane asylums) und psychiatrische Krankenhäuser (psychiatric hospitals). Während Erstere aus guten Gründen in der modernen Medizin nicht mehr anzutreffen sind, können wir historisch festhalten, dass die ersten psychiatrischen Krankenhäuser im 8. Jahrhundert durch muslimische Ärzte gegründet wurden. Dies wurde explizit durch die muslimischen Gesellschaften der Zeit gefördert. Als spezialisierte Institutionen beheimateten psychiatrische Abteilungen und Krankenhäuser Forschung zu psychiatrischen Krankheiten, die direkt in die Klinik übersetzt werden konnte, inspiriert durch den qur’anischen Vers: „Und gebt nicht den Schwachsinnigen euer Gut, das Allah euch zum Unterhalt gegeben hat. Versorgt sie davon und kleidet sie und sprecht zu ihnen mit freundlichen Worten“ (Qur’an, 4:5) (Awaad et al., 2019).

    Die Gründung des ersten islamischen, psychiatrischen Krankenhauses – des Bimaristan – wurde ebenfalls in Bagdad im 9. Jahrhundert durch den abbasidischen Kalifen Harun al-Rashid vollzogen (Al-Issa, 2000; Khaleel, 2003). Dieses hat nicht nur im Rahmen der Inklusion von psychisch Kranken Geschichte geschrieben, sondern auch das Konzept des psychiatrischen Milieus geprägt: Patienten wurden mit sauberer Kleidung, täglichem Bad, sinnvoller Alltagsgestaltung und gesunder Ernährung versorgt (Awaad & Ali, 2015). Es kamen innovative musik- und massagetherapeutische Ansätze zum Einsatz, die die medizinische und psychotherapeutische Behandlung komplementierten – eingebettet in eine interdisziplinäre Behandlung durch Krankenschwestern, Sozialarbeiter, Seelsorger und Pharmazeuten, die den gesamten Patienten und nicht nur die Krankheit behandelten. Weiterhin wurde darauf Wert gelegt, dass die Krankenhäuser im Herzen der Städte lagen, um die Krankenbesuche zu erleichtern. Die Behandlungskosten wurden dabei vollständig durch das islamische Spendensystem (Zakat) organisiert (Awaad et al., 2018).

    Krankenhäuser nach diesem Vorbild fanden sich ebenfalls in Damaskus, Alexandria und Kairo (Youssef & Youssef, 1996). Das Qalawun Hospital in Kairo zum Beispiel wurde um 1280 eröffnet und war Teil eines größeren Komplexes, der eine Schule, ein Krankenhaus und ein Mausoleum umfasste (Torkey, 2018). Die Idee der Inklusion psychisch kranker Menschen wurde sowohl durch die psychiatrischen Abteilungen in größeren Krankenhäusern als auch eigenständige psychiatrische Krankenhäuser, die Teil eines größeren Gebäudekomplexes waren, vorangetrieben. Dies wirkte Vorstellungen von Besessenheit und der Dämonisierung psychischer Krankheiten entgegen – Vorstellungen, die wir auch heute noch in einer Vielzahl in der muslimischen Community antreffen (Awaad et al., 2018).

    Ein weiteres Merkmal islamischer Krankenhäuser dieser Zeit war, dass Patienten einen Murafiqeen zur Seite gestellt bekamen. So wurde ein „Gefährte“ eines Patienten genannt, der diesen während der Behandlungsphase begleitete und in Fragen der Hygiene, des Essens und des emotionalen Beistands stets zur Seite stand. Dieses Konzept ist in der Idee begründet, dass menschliche Interaktion für eine effektive Behandlung unabdingbar ist. Die Murafiqeen fungierten nicht als Betreuer, sondern explizit als Fürsorger eines Patienten. Murafiqeen wurden weiterhin ergänzt durch Geschichtenerzähler und Musiker, deren Aktivitäten an und für sich therapeutisch waren,eine angenehme Umgebung schufen und die frühen Stadien der modernen Musik und Psychotherapie darstellen (Awaad et al., 2018).

    Referenzen:

    Awaad, R., & Ali, S. (2015). Obsessional Disorders in al-Balkhi′s 9th century treatise: Sustenance of the Body and Soul. Journal of Affective Disorders180, 185-189. doi:10.1016/j.jad.2015.03.003

    Awaad, R., Mohammad, A., Elzamzamy, K., Fereydooni, S., & Gamar, M. (2019). Mental Health in the Islamic Golden Era: The Historical Roots of Modern Psychiatry. In H. S. Moffic, J. Peteet, A. Z. Hankir, & R. Awaad (Eds.), Islamophobia and Psychiatry: Recognition, Prevention, and Treatment (pp. 3-18). Basingstoke, England: Springer.

    Al-Issa, I. (Ed.). (2000). Al-Junūn: Mental illness in the Islamic world. Madison, CT, US: International Universities Press, Inc.

    Khaleel, K. (2003). Science in the name of God: How men of God originated the sciences. Buffalo Grove, IL: Knowledge House.

    Youssef, H. A., & Youssef, F. A. (1996). Evidence for the existence of schizophrenia in medieval Islamic society. History of Psychiatry.

    Torky, T. (2018). Complex of Sultan al-Mansur Qalawun (Mausoleum, Madrasa and Hospital). Web: Discover Islamic Art.