Mit dem Namen ALLAHs, des Barmherzigen, des Allerbarmers, bismi ʾllāhi ʾr-raḥmāni ʾr-raḥīm

Author: Dr. Ibrahim Rüschoff

  • IASE Tagungsbeitrag 2000: Wie gehen die Moscheen mit dem Thema Gewalt um?

    Aus der Schatzkiste. Die Wenigsten wissen, dass die IASE seit den 1980er Jahren existiert. Wir haben alte Tagungsbeiträge ausgesucht, um sie wöchentlich hier zu posten. Viel Vergnügen beim Lesen.


    Wie gehen die Moscheen mit dem Thema Gewalt um?

    Celal Özcan

    Obwohl mich dieses Thema sehr interessiert, habe ich dennoch nicht viel in der Literatur dazu gefun­den, da es wohl eher ein praktisches Problem ist.

    Welcher Zusammenhang besteht zwischen dem Islam und Gewalt? Hierzu zitiere ich den bekannten Koranvers: „Es gibt keinen Zwang in der Religion“. Wie dieser Vers zeigt, darf keine Gewalt ange­wendet werden, jeder ist frei, er ist vor Gott frei, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden.

    Nun zu dem Begriff „Islam“: Der Begriff kommt von der Wortwurzel „Salam“, was Friede bedeutet. Wie kann es Gewalt in einer Religion geben, deren Name „Friede“ bedeutet? Theoretisch mag das klar sein, doch in der Praxis haben sich Muslime zu oft nicht an die Vorschriften der Religion gehalten. Das wird bei einem Blick in die heutige islamische Welt schnell klar. Wir Muslime haben angefangen, so zu glauben wie wir leben, obwohl es eigentlich anders sein müßte: wir müßten so leben wie wir glauben.

    In den 70er Jahren gab es einen schwarzamerikanischen Führer, Malcolm X. Er sagte in einer Veran­staltung: „Preis sei Allah, dass ich Muslim geworden bin, bevor ich die Muslime kennengelernt habe.“ Eine ähnliche Aussage machte Yusuf Islam, auch als Cat Stevens bekannt. Vielleicht wären sie keine Muslime geworden, wenn sie uns erlebt hätten, sie haben jedoch nach den Quellen geforscht und den wahren Islam kennengelernt.

    Die heutige Situation der Muslime und die Tatsache, dass sie Gewalt benutzen, ist historisch zu verste­hen: Durch die Kolonialisierung der meisten islamischen Länder nach dem ersten Weltkrieg hatten die Muslime kaum Gelegenheit, ihre Religion weiter zu studieren und zu lehren, wodurch viele lebens-praktische Dinge wie das islamische Verhalten gegenüber ihren Kindern oder den Nachbarn usw. zu­nehmend in Vergessenheit gerieten. Dazu kam, dass aus den Reihen der Muslime selbst Probleme ent­standen. So führte z.B. Atatürk eine Art Revolution durch: unter anderen Neuerungen, die gegen den Islam gerichtet waren, führte er die lateinische Schrift ein und machte damit über Nacht Millionen zu Analphabeten.

    Auch heute wird in den islamischen Ländern Gewalt angewendet, um die Muslime von ihrer Religion abzubringen. In der Türkei z.B. dürfen keine muslimischen Frauen mit Kopftuch studieren. Das gilt ebenso für Männer mit Bart. So haben bei genauerer Betrachtung die Muslime dort nur eingeschränkte Chancen, den Islam richtig und umfassend zu lernen und zu leben, so dass sich ein großer Teil unseres Volkes in der Religion nicht auskennt. Sie kennen oft nur die Schahada, wissen, dass man fünfmal am Tag betet, die Hadsch macht und Zakat zahlt. Und wer das nicht tut, kommt in die Hölle. Doch alles andere, was man normalerweise als Muslim ebenfalls wissen muß, kennen sie nicht oder haben es vergessen.

    Weiterhin ist die wirtschaftliche Lage der muslimischen Länder im Zusammenhang mit Gewalt zu nennen. Zum Unterhalt der Familie ist harte Arbeit notwendig. Ich habe in Ägypten einen Rechtsan­walt kennengelernt, der zusätzlich nachmittags arbeiten mußte um seine Familie zu ernähren.

    Viele Menschen glauben und praktizieren den Islam streng, auch wenn sie nicht viel darüber wissen. Das, was sie nicht gelernt haben, können sie natürlich auch nicht an die nachfolgenden Generationen weitergeben. Nun möchten sie ihren Kindern aber etwas vom Islam zukommen lassen. Sie können sie entweder in die Moschee zum Unterricht schicken oder sie zur Befolgung der Religion zwingen, also Gewalt anwenden. Deutlich wird das beim Kopftuch, für dessen Notwendigkeit keine Begründungen angegeben werden können, sondern einfach Zwang ausgeübt wird. Die Menschen haben keine Mög­lichkeit, die Tochter mit Argumenten von der Notwendigkeit zu überzeugen und sie selbst zu diesem Schluß gelangen zu lassen. So begünstigt also fehlendes Wissen über die Religion die Anwendung von Zwang und Gewalt.

    Gewalt in den Moscheen

    Durch den bedauerlichen Zeitmangel in den Familien besteht oft nur eine geringe Möglichkeit, die Kinder dort zu unterrichten. Nach der Schule müssen Hausaufgaben gemacht werden, dann gibt es ein wenig Fernsehen, dann geht es ins Bett.

    Die Kinder stehen zwischen zwei Kulturen und verhalten sich oft anders als ihre Umgebung. Wenn sie in die Moschee gehen wie in die Schule, ist der Lehrer beunruhigt, da er eine gewisse Disziplin benö­tigt, damit die Kinder etwas lernen. Dann wird er auch eher Gewalt anwenden, weil er sie nicht anders zur Ruhe bringen kann. Ich selbst habe als Kind in der Moschee oft Schläge bekommen.

    Was kann ich als Hodscha tun, um Gewalt in der Moschee zu verhindern?

    1. In der IGMG versuchen wir besonders junge Hodschas anzustellen, die noch voller Energie sind und noch mehr Geduld haben. Ältere Hodschas, die ihre Jugend und damit auch ihre Schulerfahrung in der Türkei verbracht haben, tun sich damit gegenüber Kindern schwer, die hier in Europa aufge­wachsen sind. Ich selbst verstehe die Hodschas zwar, versuche jedoch, sie von einigen Verhaltenswei­en abzubringen.
    2. Die Hodschas der IGMG kommen wenigstens einmal im Monat zusammen und diskutieren über wichtige Aspekte ihrer Tätigkeit. So haben wir bei unserer letzten Versammlung mit ca. 30 Kollegen über das Thema Gewalt gesprochen.
    3. Wir haben nur eingeschränkte Möglichkeiten, die Kinder in kleine Klassen oder Gruppen einzutei­len. Manchmal kommen 60-70 Kinder zum Unterricht. Wie soll ein Hodscha alle unterrichten? Mit einer strammen Disziplin wäre das vielleicht möglich. Daher versuchen wir, die Zahl der Kinder in den einzelnen Räumen zu verringern.
    4. Kinder werden nach Mtersgruppen eingeteilt. Praktisch bedeutet das für mich drei mal zwei Stun­den Unterricht für 60 Kinder in drei Klassen à 20 Kinder. Ich verbringe so den ganzen Tag mit ihnen. Die Unterrichtsdauer ist festgelegt und begrenzt, um die Kinder nicht zu überfordern. Eine Stunde dauert 45 Minuten, danach kommt eine Pause, dann folgt eine weitere Stunde.

    Ich versuche, mich mit den Kindern anzufreunden, mit ihnen kindgerecht umzugehen, damit sie keine Angst vor mir haben. Auch darf man nicht alles sehen, was die Kinder anstellen, das schont die Ner­ven. Manche Hodschas stehen allerdings mit einem Stock in der Hand in der Kiasse und schlagen an irgendeinem Punkt der Unruhe ein bestimmtes Kind, damit alle ruhig werden.

    1. Weiterhin versuchen wir die Kinder für gute Leistungen zu belohnen. Das steigert das Interesse der

    Kinder erheblich, zumal wir keine Möglichkeiten von Zeugnissen, Versetzungen oder Klassenwieder­holungen haben.

    1. Auch versuchen wir, mit den Eltern zusammenzuarbeiten.

    Frage:

    Wie gehen Moscheen mit dem Thema Gewalt um, das von Einzelnen an sie heran getragen wird. Werden sie irgendwo hingeschickt (Fachleute), sprechen die Hodschas selber mit ihnen usw.?

    Antwort:

    Ehepaare, einzeln oder zusammen, kommen nicht oft in die Moschee um mit dem Hodscha ihre Pro­bleme zu besprechen. Ein Grund dafür ist die islamische Haltung, dass man nicht über andere reden soll. Das wird in unserer Gemeinschaft leider oft zu wenig berücksichtigt. Dennoch bemühen wir uns natürlich, zu helfen. So hatte ich im vorigen Jahr einen jungen Mann, der aus der Türkei gekommen war und mit seiner Frau Probleme hatte, die hier in Deutschland groß geworden war. Der Mann hoffte, eine traditionelle Frau zu finden, die Frau erwartete ein Verhalten wie bei deutschen Männern.

    Ich habe mich dergestalt verhalten, dass ich mit dem jungen Mann gesprochen und meine Frau zu sei­ner Frau geschickt habe. Wir versuchen, den beiden zu erklären, wie Allah und der Islam die Angele­genheit sehen und wie sie sich gegenüber dem jeweils anderen verhalten sollen.

    Zwischenbemerkung einer Teilnehmerin:

    In Aachen kann man den Imam anonym anrufen und sein Problem schildern, auf das er dann ebenso anonym in der nächsten Chutba eingeht.

    Antwort:

    In der Chutba gehe ich anonym auf diese Dinge ein, die mir vorgetragen wurden. Unabhängig davon versuche ich mindestens einmal im Monat das islamisch korrekte Verhalten in der Familie zum Thema der Chutba zu machen.

    Ähnlich verfahren wir im Falle von Problemen mit den Kindern. Wenn wir allein nicht weitet kom­men, haben wir in Dortmund einen psychologischen Berater, einen Türken, wohin wir dann die Men­schen schicken.

  • IASE Tagungsbeitrag 1999: Muslimische Familien zwischen Islam und Tradition

    Aus der Schatzkiste. Die Wenigsten wissen, dass die IASE seit den 1980er Jahren existiert. Wir haben alte Tagungsbeiträge ausgesucht, um sie wöchentlich hier zu posten. Viel Vergnügen beim Lesen.


    Muslimische Familien zwischen Islam und Tradition

    Malika Douallal

    Nicht nur in der westlichen, sondern auch in der islamischen Welt selbst herrschen viele Unklarheiten und Mißverständnisse über die Lebensweise des Islam. Viele Sitten und Bräuche, die für geheiligt und unverletzlich angesehen werden und für die Bevölkerung schon längst Teil ihres Glaubens geworden sind, haben beim genaueren Hinsehen nur wenig mit dem Islam zu tun und stehen oft sogar im Widerspruch zu islamischen Vorschriften. Dieser Widerspruch zwischen den Vorschriften der Religion und den Gepflogenheiten der Tradition fällt jedoch nur einem Kenner auf. Die Gläubigen selbst, die in einer bestimmten gesellschaftlichen Konstellation leben, können hier genauso wenig differenzieren wie ein außenstehender Betrachter.

    Für die Beschäftigung mit diesem Thema ist vorweg zu klären, was mit „Islam“ gemeint ist und beschrieben wird: Ist z.B. die Lehre der islamischen Religion gemeint oder eher die Sitten und Gewohnheiten der breiten und eher ungebildeten Bevölkerungsschichten sogenannter muslimischer Länder, die Lebensweise der muslimischen Migranten in Europa oder die Staatsideologie sog. islamischer Länder?

    Es soll am Typ der emigrierten muslimischen Familie versucht werden zu zeigen, wie unterschiedliche Faktoren das Bild des Islam verformen, ja oft sogar verfälschen. Das soll unter Berücksichtigung dreier Fragenkomplexe geschehen:

    1. Inwieweit beeinflußt die Familie selbst das Bild des Islam durch regionale und schichtspezifische Gewohnheiten?
    2. Wie wird die muslimische Familie von der nicht-islamischen Gesellschaft gesehen? Wird das, was die Außenwelt für islamisch hält, auch von der Familie selbst so gesehen?
    3. Inwiefern wird eine Vermischung von Tradition und Religion von der herrschenden Schicht eines Landes begünstigt oder gefördert, was auch die Lebensweise der ausgewanderten Familien beeinflußt?

    Zur Verdeutlichung der Situation seien einige kurze Beispiele genannt:

    Ein 17-jähriger türkischer Schüler erzählt seinen deutschen Mitschülern und Lehrern stolz, dass er jeden Jungen verprügele, der sich seiner Schwester auch nur annähere. Er selbst jedoch gibt ständig mit seinen Beziehungen zu Mädchen an. Für das Verständnis der Lehrer und Mitschüler handelt der Junge aus seiner islamischen Identität heraus. Dessen Verhalten stellt eine Bestätigung ihrer Ansichten über die Haltung des Islam zu Frauen dar: muslimische Mädchen werden abgeschirmt und eingeschränkt, während ihre Brüder alle Freiheiten in dieser Gesellschaft genießen dürfen. Dabei ist es unerheblich, ob der Junge selbst sein Verhalten mit Islam begründet oder nicht.

    Ein junges Ehepaar kommt in die Beratung, nachdem ihre Probleme in der Ehe schon zum zweiten Mal eskaliert sind. Sie ist eine praktizierende Muslima, die versucht, ihr Leben nach islamischen Regeln zu orientieren. Vor der Ehe war sie gesellschaftlich engagiert, leitete u.a. eine Studentengruppe und war im Ausländerbeirat aktiv. Nach der Heirat mußte sie alle ihre Aktivitäten aufgeben. Auch das Studium geriet in Gefahr, weil eine Frau in den Augen des Ehemannes nach islamischer Vorschrift in das Haus gehöre, ihre Stimme Bestandteil ihres Intimbereiches („Aura“) und der Umgang mit Fremden in gemischten Gruppen islamisch nicht erlaubt sei. Von seiner Mutter in Syrien, die für ihn das vollkommene Bild einer Muslima darstellt, hat er gelernt, wie eine muslimische Frau zu sein hat. Weil die Ehefrau sich nicht ohne weiteres in dieses Bild fügt, kommt es ständig zu Konflikten. Im Sinne unseres Themas können wir hier fragen, ob die traditionell syrische Frau wirklich dem Bild der muslimischen Frau, wie es die Lehre zeichnet oder ob der junge Mann eine regional-spezifische Lebensweise der Frau mit den islamischen Inhalten vermischt.

    Ein marokkanisches Mädchen kommt zum Jugendamt, weil der Vater es verprügelt hat. Im darauf fol-genden Gespräch mit dem Vater sagt dieser, als muslimischer Vater müsse er seine Tochter schlagen, damit sie gehorche. Die Sozialarbeiterin, die sonst nicht viel mit dem Islam zu tun hat, bekommt durch dieses Gespräch die Information, dass der Islam nicht nur dem Vater erlaube, seine Tochter zu schlagen, sondern ihn sogar dazu auffordere. Diese Information prägt ihr Bild von der muslimischen Familie. Dass dieser Familienvater eher eine traditionelle Lebensweise führt, die mit dem Islam in vieler Hinsicht unvereinbar ist, ist für die Sozialarbeiterin nicht ohne weiteres erkennbar.

    Ein 4-jähriges Kind läßt sich von seiner Erzieherin im Kindergarten auf einmal nichts mehr sagen. Es läßt sich nicht mehr von ihr anfassen und respektiert sie nicht. In einem langen Gespräch sagt das Kind endlich, der Vater habe ihm gesagt, seine Erzieherin sei eine Ungläubige und komme ins Höllenfeuer. Da müsse sie doch böse sein. In seiner Angst, sein Kind könne von einer nichtmuslimischen Erzieherin zu sehr beeinflußt oder sogar missioniert werden, wollte der Vater nur klare Grenzen für das Kind schaffen, wählte dazu jedoch völlig untaugliche Mittel.

    Betrachten wir diese Beispiele genau, so lassen sich aus dem Bedingungsgefüge einige grundlegende Faktoren herausarbeiten:

    Das Problem der Tradition

    Traditionen haben im Leben der Menschen durchaus ihren lebenspraktischen Wert und sind im Zusammenhang mit den jeweiligen Lebensumständen logisch nachvollziehbar. So ist verständlich, wenn sich ein Bauer mehr auf die Geburt eines Sohnes als auf die einer Tochter freut. Ein Sohn kann ihm bei der schweren Feldarbeit helfen, er bedeutet für ihn außerdem eine Stärkung in der oft rivalisierenden Männergesellschaft und, was noch wichtiger ist, seine Altersvorsorge. Ein Mädchen kann ihn erstens nicht so sehr entlasten und zweitens wird sie sowieso irgendwann heiraten und nicht mehr zur Familie gehören.

    Schwierigkeiten entstehen besonders dann, wenn diese Traditionen von ihrem Kontext losgelöst weitergelebt werden. Ein Bauer aus Zentralanatolien kann seine Sozialisation nicht einfach abstreifen, nur weil er plötzlich in einer Großstadt in Mitteleuropa lebt. Vergleicht man ihn außerdem mit vergleichbarer deutscher Landbevölkerung, wird man gerade in dieser Hinsicht manche Ähnlichkeiten finden. Das Problem liegt darin, dass der Anatolier für die nichtmuslimische Gesellschaft in erster Linie ein Muslim ist und seine Religion repräsentiert, auch wenn er nicht viel darüber weiß und in vieler Hinsicht sich ganz anders verhält als es die Religion fordert. Große Teile seines Verhaltens werden mit dem Islam assoziiert, viele Mißstände finden somit eine Erklärung.

    Nicht die durchdachte und bewußte Verbindung von Religion und Tradition an sich ist ein Problem, sondern die unreflektierte Vermischung beider. Da sich in vielen einzelnen traditionellen Praktiken oder Einstellungen oft ein kleines Fünkchen „islamischer Wahrheit“ findet, ist diese Vermischung so widerstandsfähig. Wenn wir z.B. dem gewalttätigen Ehemann entgegenhalten, dass er seine Frau nicht schlagen darf, so würde er uns auf die bekannte Stelle im Koran verweisen (4:35), die unter bestimmten Umständen in einer bestimmten Art und Weise dem Mann erlaubt, seine Frau zu schlagen. Dass er diese Stelle eigenmächtig und ohne jede Sachkenntnis (fehl-)interpretiert, ändert zunächst an dem Sachverhalt nichts, dass diese Stelle im Koran steht. Ebenso wird der junge Mann, dessen Frau nicht zusammen mit Männern studieren soll, aus dem Koran zitieren, dass auch die Frauen des Propheten (Friede mit ihm) nur hinter einem Vorhang von Männern angesprochen werden durften. Dass dieses Verhalten nur für die Frauen des Propheten galt und unzählige Gegenbeispiele existieren, ist für ihn ebenfalls ohne Belang.

    Trotz aller Kritik ist zu betonen, dass Traditionen und Volkssitten wichtige Funktionen haben und nicht grundsätzlich zu kritisieren sind. Der Islam ist nicht im luftleeren Raum entstanden. Die Völker, die ihn angenommen haben, hatten ihre Bräuche und Gewohnheiten, die der Islam nicht ersetzen wollte. Es entstand nicht etwas völlig Neues, sondern die jeweiligen Kulturen wurden durch den Islam lediglich überformt. Auch war der Prophet selbst nicht grundsätzlich gegen Praktiken aus vorislamischer Zeit. Es gab solche, zu denen er sich nicht geäußert hat oder denen er neutral gegenüber stand. Dann gab es welche, die er zu unterlassen empfohlen und wiederum andere, die er strikt verboten hat.

    Traditionen sind dann gefährlich, wenn sie andere benachteiligen oder gar menschenverachtenden Charakter erhalten, religiösen Charakter annehmen und dadurch unantastbar werden und mit religiösen Inhalten vermischt werden und somit das Bild des Islam verfälschen.

    Migration 

    Viele Verhaltensweisen und Gewohnheiten von Muslimen in der nichtislamischen Gesellschaft, die von dieser zwar als eigenartig und befremdend, jedoch typisch für den Islam angesehen werden, gelten selbst in der islamischen Heimat der Migranten als rückschrittlich, verkrustet und inflexibel. Während die Herkunftsgesellschaft sich weiter entwickelt und von bestimmten Traditionen entfernt hat, werden diese bei im Ausland lebenden Muslimen immer noch gepflegt und gleichsam konserviert. Unter Berücksichtigung der Lebensbedingungen der ersten muslimischen Gastarbeiter ist es nicht verwunderlich, dass diese den mitgebrachten Sitten und Traditionen weit größere Bedeutung beimaßen als diejenigen, die in der Heimat geblieben waren, stellten sie doch bei allen Unsicherheiten und Ängsten, die das Leben in der Fremde mit sich brachte, ein Stück Vertrautheit und Geborgenheit dar.

    Später wurden dann Frauen und Kinder nachgeholt, oft aus dem Dorf direkt in das westliche Stadtleben. Aus Sorge, die Kinder können von der westlichen Gesellschaft verdorben werden, wurde das Festhalten an althergebrachten Sitten und Dogmen ganz bewußt dazu benutzt, Grenzen zur Außenwelt zu schaffen. Hier liegt einer der Gründe, warum besonders muslimische Migranten der ersten Generation sich weigern, darüber zu reflektieren, welche Bestandteile ihres Handelns der islamischen Lehre entsprechen und welche nicht. Denn würde dabei deutlich, dass vieles eher mit Traditionen zu tun hat, verlören viele ihrer starren Grenzen ihre Legitimation. Das verunsicherte sie um so mehr, als es in Deutschland durch den geringen muslimischen Bevölkerungsanteil und die geringe öffentliche Präsenz des Islam wenig Modelle gibt, wie islamisches Leben hier aussehen kann, der Verlust von Traditionen also immer mit einem Verlust islamischer Identität assoziiert wird.

    Nur der Vollständigkeit halber soll an dieser Stelle erwähnt werden, dass natürlich nicht alle muslimische Familien nach diesem Muster leben. Vielen Familien bietet gerade das Leben in der Migration eine wichtige Chance, losgelöst von den Zwängen der heimatlichen Tradition den ursprünglichen Islam wieder zu entdecken und zu den Quellen selbst zurück zu gelangen.

    Schichtspezifisches Verhalten

    Es darf nicht außer Acht gelassen werden, dass es sich bei den in Deutschland und den westeuropäischen Ländern lebenden Muslime meistens um Arbeitsmigranten handelt, d.h. es geht hier um Menschen, die bereits in der Heimat eine niedrige gesellschaftliche Stellung innehatten oder ein geringes Bildungsniveau besaßen. Hätten sie über eine gesicherte wirtschaftliche und soziale Existenz verfügt, wären nur die wenigsten nach Europa gekommen, um unter oft menschenunwürdigen Arbeitsverhältnissen ihren Unterhalt zu verdienen. Fragen wir nach der Herkunft der Familien, die am meisten das Islam-Bild in der hiesigen Gesellschaft geprägt haben, so stellen wir fest, dass sie meistens aus ländlichen Regionen der Türkei, Marokkos oder Tunesiens kommen.

    In den ländliche Gegenden der ärmeren Ländern, sei es in den Ländern Südamerikas, im Süden Europas oder in sog. islamischen Ländern, hat besonders die Landbevölkerung keinen oder nur sehr begrenzten Zugang zum Bildungssystem. Deshalb sind viele aus der ersten Migrantengeneration Analphabeten. Diese Menschen kennen nur die innerhalb des Dorfes überlieferten Glaubensgebote und lebenspraktischen Regeln und wissen sonst nicht viel über den Islam. „Auch die auf dem Land tätigen Religionsgelehrten, unterbezahlt und selbst unwissend (von auswendig gelernten Suren abgesehen)“, (Naggar 1982) können an dieser Situation nichts ändern. Im Gegenteil, sie tragen zur Verkrustung der bestehenden Verhältnisse in hohem Maße bei. Die wirklichen Korangelehrten kommen meist mit den Massen der Bevölkerung nicht in Berührung, d.h. ihre Interpretationen bleiben unbekannt. Das Wissen, das den breiten Massen der Landbevölkerung vermittelt wird, dreht sich meistens um das Verbot des Alkohols, des Zinses, des Glücksspiels und die Anwendung des Erbrechts. Im gottesdienstlichen Bereich sind die Dorf-Imame zufrieden, wenn außer der Einhaltung des Gebets und des Fastens genügend Gläubige zum Freitagsgebet erscheinen. Da die Religion überhaupt im Alltagsleben der Menschen eine große Rolle spielt, gewinnen Traditionen und zufällige Erklärungen schnell religiösen Charakter. Es bleibt viel Raum für phantasievolle Auslegungen und Interpretationen von Ereignissen oder Zuständen, die oft von Aberglaube und magischem Denken geprägt sind.

    Eine andere große Gruppe der muslimischen Migranten kommt aus ärmeren Schichten der Stadtbevölkerung mit ebenfalls großen Defiziten an Schulbildung und allgemeiner Bildung überhaupt. Fehlende Bildung ist wiederum der Nährboden für die unreflektierte Übernahme von überlieferten Denkinhalten und Verhaltensmuster. Ein Mann schlägt seine Frau, weil es immer schon so war, dass Frauen geschlagen werden und nicht weil er denkt, dass er als Muslim seine Frau schlagen dürfe.

    Ohne diese oder ähnliche Verhaltensweisen zu verharmlosen oder zu rechtfertigen muß dennoch festgehalten werden, dass die Ursachen vieler abzulehnender Praktiken in den Lebensumständen dieser Menschen zu suchen sind, d.h. es geht hier um schichtspezifische Verhaltensmuster und weniger um die islamische Lehre. Dieselben Mißstände, die vorschnell auf den Islam zurückgeführt werden, finden sich beim genauen Hinsehen auch bei Menschen anderer Religionen und Glaubensrichtungen unter vergleichbaren gesellschaftlichen Lebensumständen.

    Regionalspezifisches Verhalten

    Bei vielen für islamisch gehaltene Lebenspraktiken handelt es sich in bei näherer Betrachtung um regionalspezifische Sitten und Gebräuche. Dieses gilt insbesondere für frauenunterdrückende Maßnahmen wie rigide soziale Kontrolle, Einstellung zur weiblichen Ehre oder benachteiligende Geschlechtsrollenverteilung. Diese und ähnliche Verhaltensmuster gelten für bestimmte Regionen und werden dort unabhängig von der Religionszugehörigkeit praktiziert. So unterscheidet sich z.B. die Einstellung zur weiblichen Ehre mit allen sich daraus ergebenden Folgen für die Lebenspraxis in den ländlichen Gegenden Siziliens oder Andalusiens mit katholischer Bevölkerung kaum von denen in Marokko oder Algerien, wo überwiegend Muslime leben.

    Die Praxis der Frauenbeschneidung ist ein weiteres Beispiel. In einigen afrikanischen Ländern wurde sie schon in vorislamischer Zeit durchgeführt und ist keinesfalls islamisch. Soweit sie heute vorkommt, wird sie nicht nur von Muslimen durchgeführt, sondern von allen in einer bestimmten Gegend lebenden Menschen, so z.B. auch von koptischen Christen in Ägypten. Angehörige beider Religionen unterscheiden sich bis auf rein religiöse Praktiken kaum in ihren Traditionen und Gewohnheiten.

    „Gastarbeiter-Islam“

    Eine andere Quelle der Vermischung von Glaubenssätzen und Traditionen, die falsche und irreführende Vorstellungen vom Islam erzeugt, stellt der sog. „Gastarbeiter-Islam“ dar, wie sie ihn Pinn und Wehner (1995) treffend nennen.

    Abgesehen von den Bedingungen ihrer regionalen Herkunft und Ängsten, sich von ihren Traditionen und Gewohnheiten in der Fremde zu trennen, bietet das Gastarbeitermilieu sicherlich „keinen günstigen Nährboden für die Entfaltung von Philosophie, Kunst und Wissenschaft einer islamischen Hochkultur“ (Pinn und Wehner 1995). Statt dessen orientieren sich die vom wirtschaftlichen Existenzkampf, schlechten Arbeitsbedingungen wie Schichtarbeit, extrem langen Arbeitszeiten und körperlichen Anstrengungen geprägten Migranten an einfachen Glaubensformeln und überkommenen Ansichten, die sie mit dem Islam vermischen. Hinzu kommen der trotz Fleiß und Mühe zumeist weiterhin niedrige Sozialstatus, die gesellschaftliche Diskriminierung und der zunehmende Rassismus. Es liegt auf der Hand, dass eine solche Lebenssituation keinen Raum für eine distanzierte und kritische Auseinandersetzung mit den eigenen Verhaltensweisen und Einstellungen bietet.

    Repressive Staatsideologien sogenannter islamischer Länder

    Überall in den muslimischen Ländern erleben wir, dass jedes Bemühen nach Wiederbelebung der ursprünglichen islamischen Lehre im Keim erstickt wird. Der jeweils „offizielle“ Islam ist geprägt von den Interessen und Ansprüchen der herrschenden Schichten, die die Religion dazu benutzt, ihre gesellschaftliche Machtstellung zu festigen. Dem Volk wird genau vorgeschrieben, was es als Islam verstehen darf und was nicht. Allein in Marokko, das sich als islamischer Staat mit dem König als Amir (Führer) der Gläubigen versteht, sitzen Tausende von Menschen aus politischen Gründen im Gefängnis, die nichts anderes begangen haben, als öffentlich abweichende Ansichten über den Islam zu vertreten. Dabei dient die Erhaltung traditioneller Denkinhalte und Ansichten nicht selten dazu, dass Volk in Unmündigkeit und Abhängigkeit zu halten. Das gilt besonders für die Unterdrückung der Frauen.

    Dieses Phänomen ist allerdings nicht nur für die sogenannten islamischen Länder typisch. Schon immer wurde in der Geschichte der Menschheit die Religion dazu mißbraucht, Völker zu beherrschen und unter Kontrolle zu halten. Die Geschichte der Staaten Europas bietet genügend Beispiele, wobei nach der Säkularisierung an die Stelle der Religion Staatsideologien wie z.B. der Kommunismus traten, die einen quasi-religiösen Charakter erhielten. Im Sinne des Marxschen Wortes, dass die Religion das Opium des Volkes sein, wird aus naheliegenden Gründen besonders in Zeiten sozialer, politischer und wirtschaftlicher Mißstände die Religion zur Stabilisierung bestehender Verhältnisse eingesetzt. Ein fehlendes oder defizitäres Bildungssystem tut ein Übriges, und so führen solche Situationen dazu, dass die Stärkeren Schwächere unterdrücken, sei es der König seine Untertanen, der Fabrikant seine Arbeiter, der Ehemann seine Frau oder der Bruder seine Schwester. Diese Tendenz macht deutlich, warum islamische Regeln, die der Frauen eher Pflichten auferlegen, herauskristallisiert und ausgebaut werden und Regeln, die Frauen Rechte einräumen und Männern Pflichten auferlegen, vergessen oder ignoriert werden. Hier liegt mit ein Grund dafür, warum der türkische Junge eine Freundin haben darf und seine Schwester keinen Freund, obwohl der Islam sowohl Männern wie auch Frauen außereheliche Beziehungen verbietet.

    Mangel an Ijtihad[1]

    Ein weiterer wichtiger Bedingung für die Mißstände in der islamischen Welt ist die Auffassung vieler Muslime, dass die zeit- und ortsgebundene Interpretation des Korans und der Sunna ohne weiteres auf beliebige Lebensumstände oder -situationen übertragbar sind. Bekanntlich ist die Sunna in einem geschichtlichen Kontext entstanden. Genauso hatten auch die Rechtsschulen einen bestimmten historischen Hintergrund. Die Rechtsgelehrten früherer Jahrhunderte brachten ohne Zweifel große Fortschritte für das Verständnis der islamischen Lehre, doch auch sie sind Kinder ihrer Zeitepoche. Auch sie haben die Kernquellen des Islam in einer bestimmten Art und Weise wahrgenommen. Daher läßt sich ihre Auslegung der islamischen Quellen nicht einfach ohne weiteres auf die heutigen Lebensverhältnisse muslimischer Familien in Mitteleuropa übertragen. Dinge, die in der damaligen Lebenssituation wichtig waren und daher im Vordergrund ihres Interesses standen, sind heute nicht mehr in dem Maße von Bedeutung oder sogar nur noch von historischem Interesse.

    Ein weiteres Problem heutiger Muslime ist, dass z.B. Lehren und Auslegungen ägyptischer und saudi-arabischer Gelehrter haargenau auf das Leben der Familien in Mitteleuropa übertragen werden, auch wenn klar ist, dass die Gelehrten die Lebenssituation dieser Familien überhaupt nicht kennen. So wird aus einem flexiblen, menschennahen Islam ein starres Gebilde, das den Menschen das Leben u. U. eher erschwert als erleichtert. Den Familien wäre dagegen viel geholfen, würden die Gelehrten zu den ursprünglichen Quellen zurückkehren und eine Auslegung betreiben, die den Anforderungen ihres tatsächlichen Lebens entspräche. Statt dessen wird oft der Ijtihad früherer Gelehrte mit den Kernquellen des Islam vermischt und deren Versuche, den Koran gemäß ihrer Lebensumstände zu interpretieren, zu unantastbaren Glaubensregeln gemacht. So mag das in Saudi-Arabien bestehende und mit dem Islam begründete Fahrverbot für Frauen zu einer Zeit, als es weder Handy noch Abschleppdienst gab, vielleicht einen Sinn gehabt haben, diesen Sachverhalt jedoch auf das Leben der muslimischen Frau in der heutigen Zeit zu übertragen ist nicht nur unsinnig, sondern für die Frau mit den Anforderungen, die das Leben an sie stellt, geradezu eine Schikane.

    Differenzierter Umgang mit der Erscheinungsform des Islam ist jedoch nicht nur auf Seiten der Muslime erforderlich, sondern ebenfalls auf der Seite der westlichen Gesellschaft. Denn erst wenn diese aufhört, eine Polarisierung zwischen der „abendländischen Zivilisation“ und dem „rückständigen Islam“ zu betreiben, erst wenn der Westen nicht mehr versucht, alle Ursachen für Mißstände in islamischen Familien auf den Islam selbst zurückzuführen, die Augen jedoch vor parallelen Fehlentwicklungen in der eigenen Gesellschaft verschließt, erst wenn zur eigenen psychischen Entlastung nicht mehr alles Negative auf den Islam projiziert und daher die Notwendigkeit übersehen wird, sich selbstkritisch zu betrachten, kann sich an den Mißverständnissen und Unklarheiten über den Islam und damit an der Haltung der Muslime gegenüber etwas ändern.

    Literatur

    El-Naggar, Ahmed: Zinslose Sparkassen. Ein Entwicklungsprojekt im Nildelta. Köln: Al-Kitab-Verlag 1982.

    Pinn, Irmgard; Wehner, Marlies: EuroPhantasien. Die islamische Frau aus westlicher Sicht. Duisburg: DISS 1995.

    Ramadan, Said: Das islamische Recht. Theorie und Praxis., Wiesbaden: Otto Harrassowitz 1980.

    [1] Ijtihad bedeutet „sich mühen“ oder „sich anstrengen“. Es handelt sich um ein Prinzip der islamischen Rechtslehre, nach dem der Gelehrte durch selbständige Meinungsbildung zu einer Rechtsauffassung gelangt (Ramadan, 1980).

  • IASE Tagungsbeitrag 1999: Gewalt in islamischen Familien: Erfahrungen aus der therapeutischen Praxis

    Aus der Schatzkiste. Die Wenigsten wissen, dass die IASE seit den 1980er Jahren existiert. Wir haben alte Tagungsbeiträge ausgesucht, um sie wöchentlich hier zu posten. Viel Vergnügen beim Lesen.


    Gewalt in islamischen Familien – Erfahrungen aus der therapeutischen Praxis

    Maria Zepter

    Gewalt ist definiert als die Ausübung von psychischem und physischem Zwang zur Durchsetzung von Machtinteressen. Sie kann in Beziehungs-, familiären, strukturellen, politischen und kriegsbezogenen Kontexten entstehen.

    Der Täter ist real oder scheinbar in einer überlegenen Machtposition, aus der heraus er unberechtigt und gegen den Willen des unterlegenen, schwächeren, abhängigen Opfers diesem körperlichen oder seelischen Schaden zufügt. Bei Erfahrungen von körperlicher Mißhandlung, Folter oder sexueller Gewalt nimmt das Opfer immer auch Schaden an seiner Seele. Wie dauerhaft und tiefgreifend dieser Schaden wirkt, ist individuell unterschiedlich und hängt von verschiedenen Faktoren ab. Je näher der Täter im Verwandtschaftsverhältnis oder Vertrauensverhältnis zu dem Opfer steht und je komorbider die biographischen Vorerfahrungen des Opfers sind, desto schädigender ist der Gewalteinfluß. Gleiches gilt für erschwerende situative Faktoren wie z.B. fehlende oder zu späte Hilfe. Gewalttaten größeren Ausmaßes werden oft als Traumata erlebt.

    Ein Trauma ist ein Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung, die außerhalb der menschlichen Verarbeitung liegt und eine Überflutung des normalen Reizverarbeitungssystems darstellt. Traumatische Erlebnisse sind gekennzeichnet durch das Erleben extremer Angst und Hilflosigkeit sowie der Erfahrung, dass Handeln keinen Sinn macht. Weder Angriff noch Flucht sind möglich. Nicht in allen, doch in vielen Fällen kann die Gewalterfahrung zum Krankheitsbild einer sog. „Posttraumatischen Belastungsstörung“ (PTSD) führen. Nach der ICD 10[1] (F 43.1) beinhaltet sie Symptome wie häufiges Nacherleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen oder in Träumen, emotionaler Stumpfheit, Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Angst, Depressionen, Gefühlen von Sinnlosigkeit, ständige Alarmbereitschaft, innere Unruhe, gelegentliche Ausbrüche von Panik und Aggression, selbstdestruktives Verhalten, Vermeidungsverhalten und Psychosomatisierung. Wenn die PTSD nicht abklingt, sondern unverändert mit ihren Symptomen bestehen bleibt, kann es zu einer chronischen Veränderung der Persönlichkeit des Gewaltopfers kommen. Bei sexuellen Gewalterfahrungen in der Kindheit entstehen zusammen mit anderen Faktoren häufig sog. Borderline-Erkrankun-gen.

    Wir alle haben in unserer Arbeit wahrscheinlich schon oft mit Opfern von Gewalt oder Überlebenden von Gewalterfahrungen zu tun gehabt. Opfer sind meist Frauen und Kinder, der Tatort häufig die Familie. Auch in islamischen Familien kommt es zu körperlichen, psychischen und sexuellen Grenzüberschreitungen und Gewalttaten.

    Wenn wir von muslimischen Familien oder Muslimen sprechen, meine ich damit:

    • Muslime, die den Islam aus Überzeugung und in Befolgung von Gottes Geboten, also nach Koran und Sunna leben.
    • Muslime, die sich als solche definieren und einige Aspekte der islamischen Lebensweise praktizieren, andere jedoch vernachlässigen.
    • Gebürtige Muslime, die sich von ihrer Religion distanzieren und explizit abwenden

    In vielen muslimischen Gemeinden wie auch in den Moscheen sind Themen wie Gewalt in der Familie und vor allem sexuelle Gewalt stark tabuisiert. Auch die muslimischen Frauen sprechen nicht darüber. Selbst wenn das Geschehen ziemlich offenkundig ist, wird weggeschaut und eine ursprünglich gute islamische Eigenschaft, die Nichteinmischung in die Privatgelegenheiten anderer bzw. das Zudecken der Fehler der Geschwister, falsch verstanden und mißbräuchlich angewandt.

    Wir dürfen hier nichts beschönigen: Gewalttätigkeit gegenüber Frauen und Kindern besteht nicht nur aus körperlicher Gewalt, sondern beginnt bereits bei rigide angewandten Rollenzwängen, Zwang zu sexueller Verfügbarkeit und Ausbeutung von Emotionalität. Wer nicht darauf hinweist, dass der bekannte „Züchtigungsvers“ („Und jene, deren Widerspenstigkeit ihr befürchtet: ermahnt sie, meidet sie im Ehebett und schlagt sie! Wenn sie euch dann gehorchen, so sucht gegen sie keine Ausrede.“[2]) nur im Falle von „Nuschuz“ gilt, und wer nicht darauf hinweist, dass das sog. „Züchtigen“ nur ein „nicht schmerzender Schlag“ mit einem Gegenstand wie z.B. einer kleinen Zahnbürste sein darf, gehört in die Sympathisantenszene islamischer, frauenverachtender Gewalttäter. Dasselbe gilt für diejenigen, die das Schlagen auf den Kopf, das Treten mit den Füßen und das Mißhandeln aus dem Affekt heraus für eine gute Erziehungsmethode halten. Psychische Gewalt beginnt bereits dort, wo Frauen ausgegrenzt, vornehmlich zu Hause gehalten oder gar eingesperrt werden, wo die Freiheit der Bildungswahl eingeschränkt ist und der Frau sonstige normale Freiheiten genommen werden. Sie beginnt auch dort, wo Väter und Ehemänner als Despoten und „Machos“ auftreten und den Frauen und Kindern eine liebevolle Zuwendung vorenthalten.

    Wie Gewalt entsteht

    Eine ausführliche Darstellung der psychologischen oder soziologischen Theorien würden den Rahmen dieses Vortrages sprengen. Je nach Anschauung werden entweder

    • die (böse) menschliche Natur,
    • soziale Gegebenheiten (Armut, Randständigkeit),
    • Krankheiten
    • Entwurzelungs- und Immigrationsphänomene
    • wirtschaftliche Bedingungen,
    • bestimmte negative Lernerfahrungen (z.B. häufiger Verlust von Bezugspersonen bei Kindern, die zwischen der Türkei und Deutschland pendeln) oder
    • die Medien

    verantwortlich gemacht.

    Gewalt kann als eine Folge unangemessener Konfliktlösung beschrieben werden, wobei der Täter den Konflikt nicht nach gesellschaftlich akzeptierten und/oder religiös vorgegebenen Normen lösen kann. Gewalt entsteht da, wo Konflikte kein anderes Ventil (wie z.B. Rückzug oder verbales Austragen) mehr haben. Psychische Erkrankungen, aus der Kindheit resultierende individuelle Störungen wie auch systemische Verstrickungen spielen eine Rolle. Gewalttäter, so die Erkenntnis der Familientherapeuten, waren selbst immer auch Opfer von Gewalttaten in ihrer Kindheit (manche sprechen hier von 100%). Diese Tatsache mindert zwar in keiner Weise Schuld und Verantwortung des Täters, schafft jedoch eine andere Perspektive. „Keiner trage des anderen Last“[3] kann in diesem Zusammenhang auch so verstanden werden, dass jeder seine eigenen Konflikte oder seine „Opfer-Last“ bearbeiten kann und soll, um diese nicht systemisch an seine die Kinder und Nachkommen weiterzugeben.   Ideologien, religiöse Fanatismen und nationale Einstellungen sind oft ebenso der Nährboden für Gewalt wie gesellschaftliche Tabuisierungen (z.B. die Ausgrenzung des Themas sexuellen Mißbrauchs) oder das Tolerieren von sexueller Gewalt im Krieg als Belohnung. Judith Herman (1994) spricht in ihrem Standardwerk „Narben der Gewalt“ von periodisch wiederkehrenden Amnesien, die sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene funktionieren, wenn es um Themen wie sexuelle Gewalt oder andere traumatische Erfahrungen geht.

    Eine meiner tiefsten Erkenntnisse und Erfahrungen aus der Arbeit mit bosnischen Überlebenden von Massakern und Todeslagern ist die Einsicht, dass jeder Mensch die Fähigkeit zu Gutem und Bösen in sich hat. „Der Mensch ist ein Abgrund“ war häufig meine einzige innere Antwort, die ich finden konnte angesichts der schrecklichen Greueltaten. Erschreckend aber wahr ist es in diesem Zusammenhang aber auch, dass jeder in bestimmten Situationen zum Täter werden kann.

    Einige Empfehlungen für den Umgang mit Gewaltopfern in Beratung und Therapie

    Allgemein in der Beratung ist es hilfreich

    • das Gewaltopfer spüren zu lassen, dass es voll angenommen wird,
    • ihm Glauben zu schenken, aber auch diagnostisch kritisch zu sein, z.B. im Fall von Borderline-Erkrankungen,
    • für Sicherheit des Opfers zu sorgen (Täter ausschalten, Anzeige, Herausnahme des Opfers aus der Gewaltsituation, Weggehen unterstützen)
    • innere Kräfte, die das Überleben ermöglicht haben, aufzuzeigen und zu stärken,
    • rationalen Zugang zu schaffen, d.h. bei Traumatisierungen und PTSD erklären, dass die Symptome ganz normale Reaktion auf unnormale Gegebenheiten sind.

    In der Therapie ist es wichtig,

    • ein Vertrauensverhältnis und eine gute Beziehung aufzubauen, so dass es möglich wird, Zugang zu den verdrängten Emotionen (Schmerz, Angst, Trauer, Hilflosigkeit, Wut, Haß) zu schaffen,
    • die Gewalterfahrung bzw. das Trauma zu bearbeiten und in die individuelle Biographie oder die Familiengeschichte zu integrieren (Vorsicht bei PTSD: bloßes Erzählen lassen führt oft zum „Antriggern“),
    • dem Täter die volle Schuld wie auch dem Mittäter (z.B. bei Mißbrauch der Mutter) die Teilschuld zu geben. Auch im islamischen Sinne muß der Täter zuerst angeklagt werden (auch innerlich) und erst dann kann das Opfer von der „Rache“ bzw. Vergeltung absehen und mit Barmherzigkeit reagieren, d.h. auch in sich wieder Ruhe und Frieden finden. Ein voreiliges, falsch verstandenes Verzeihen ist hier unangebracht und schädlich,
    • sich als Therapeut wieder von der Ankläger- und Richterposition lösen, in die man vielleicht zu Beginn der Therapie hineingeraten ist,
    • die letztendliche Gerechtigkeit bei Gott belassen,
    • sich der Barmherzigkeit Gottes erinnern.

    Zur Entlastung der Berater und Therapeuten muß erwähnt werden, dass nicht alle Bemühungen und In-tentionen bei allen Patienten gelingen. Sich der Grenzen, vor allem auch der eigenen, bewußt zu bleiben ist wichtig für jeden, der mit Opfern und Überlebenden von Gewalt zu tun hat.

    Einige persönliche Erfahrungen aus meiner Arbeit

    Die folgenden Ausführungen stellen keine allgemeingültigen Aussagen dar, sondern basieren in erster Linie auf der persönlichen Erfahrung vieler Jahre therapeutischer Arbeit mit Muslimen in meiner Praxis, als Leiterin der Psychologischen Beratungsstelle für Muslime und ihre deutschen Angehörigen in München sowie als Leiterin des Projekts „Frauen aus Omarska“, einem psychosozialen Projekt mit Überlebenden des serbischen Todeslagers Omarska.

    • Familiäre Gewalt scheint sich unter nach Deutschland gekommener Orientalen bestimmter Länder wie z.B. Marokko, Tunesien, Ägypten häufiger zu finden als bei anderen.
    • Ehen mit Asylbewerbern entwickeln sich oft problematisch und sind von Gewalt gefärbt, da hier häufig Entwurzelungsphänomene und Bindungsstörungen vorliegen. Häufige Gewalttaten zeigen auch bei den stark national orientierten und eher wenig ihren Glauben Praktizierenden wie auch bei den sog. islamistischen, blind-fanatischen Muslimen.
    • Gewalttätigkeiten der verschiedensten Art finden sich unter den Folgen der Migration, insbesondere auch bei türkischen Jugendlichen.
    • Gewalt im Zusammenhang mit rigiden islamistischen Strukturen hat oft zur Folge, dass ein Kind für die nicht stattgefundene Integration in der Familie „geopfert“ wird, sozusagen diesen „deutschen“ Teil extrem vertritt und so an irgendeine „Szene“ (z.B. Drogenszene) verlorengeht.
    • Viele, vor allem türkische Frauen berichten häufig von sexueller Gewalt, die sie in Form von erzwungenen (und im Islam verbotenen) Analverkehrs gegen ihren Willen erdulden müssen.
    • Türkischen Mädchen erleben häufig sexuelle Grenzüberschreitungen durch Verwandte und Nachbarn in der türkischen Heimat, wohin sie der besorgte Vater gerade zum Schutz und Erhalt der Jungfernschaft gebracht hatte. Folgen davon zeigen sich häufig im Vorfeld der Hochzeitsvorbereitungen in Form von Panikattacken und Angstanfällen und sind dann ein Grund für die Aufnahme eine Psychotherapie.

    Insgesamt ist der Anteil körperlicher, psychischer und sexueller Gewalt in muslimischen Familien zwar geringer als von manchen Medien und Statistiken dargestellt, jedoch weitaus höher als in der islamischen Gesellschaft angenommen und zugelassen wird.

    Einige Verhaltensregeln, die hilfreich für die Arbeit mit Traumatisierten sind 

    • Sich auf die Seite der Opfer stellen,
    • Eindeutig Position beziehen gegen Täter und Gewalttat,
    • Sicherheit schaffen (äußere und innere Sicherheit),
    • Alle Gefühle der Opfer zulassen und bearbeiten, aber als Therapeut nicht selbst Anklage und Haß gegen den Täter übernehmen. Das verhindert das Durcharbeiten der Problematik beim Patienten,
    • kann dem Therapeuten schaden und steht ihm letzen Endes auch nicht zu.
    • die innere Haltung einnehmen, dass ein sexueller Mißbrauch oder eine schlimme Gewalterfahrung zwar ein weitreichendes Ereignis mit Symptomfolgen sein kann, aber die Seele nicht für
    • immer schädigen muß.
    • Die Integration des Traumas gelingt leichter, wenn ein religiöser Glaube vorhanden ist und gelebt wird. Das kann der Therapeut einfühlsam nutzen und sich dabei auf Erfahrungen und vielfältige Untersuchungen beziehen.

    Literatur:

    Herman, Judith Lewis, Narben der Gewalt. Traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden. München: Kindler 1994.

    Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme 10. Revision, München, Wien, Baltimore: Urban & Schwarzenberg 1998.

    [1] Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme 10. Revision, München, Wien, Baltimore: Urban & Schwarzenberg 1994.

    [2] Koran 4:34

    [3] Koran 35:18

  • IASE Tagungsbeitrag 1999: Gewalt im Islam

    Aus der Schatzkiste. Die Wenigsten wissen, dass die IASE seit den 1980er Jahren existiert. Wir haben alte Tagungsbeiträge ausgesucht, um sie wöchentlich hier zu posten. Viel Vergnügen beim Lesen.


    Gewalt im Islam

    Nigar Yardim

    Über die Bedeutung dieses Thematik brauche ich sicherlich nicht viel zu sagen. Wenn sich jemand in Deutschland mit dem Islam beschäftigt, gerät er früher oder später zu diesem Thema.

    Gewalt wird in Zusammenhang mit dem Islam unter verschiedenen Aspekten thematisiert:

    • Einmal ist es die Gewalt durch die Religion Schlagwörter wie „Türken vor Wien“ oder Mission mit Feuer und Schwert“ unterstellen dem Islam als Religion Gewalt in jeder Form als Mittel für seine Expansion. Für viele Betrachter ist die rasche Verbreitung des Islam nach dem Tode des Propheten nur auf diese Weise erklärbar.
    • Gewalt wird stets auch mit dem Rechtssystem des Islam, der Scharia, in Verbindung gebracht, die nur unter dem Aspekt des Strafrechts betrachtet wird. Schlagworte sind hier „Handabhacken“ bei Dieben oder Schläge als Strafe für verschiedene Vergehen.
    • Als weiterer Aspekt ist die Gewalt gegenüber Frauen. Diese geht von Ehemännern, Vätern uns Brüdern aus. Gewalt fungiert als Mittel der sozialen Kontrolle und Zeichen der Macht der Männer gegenüber Frauen und Mädchen. Auch hier wird eine Legitimation seitens des Islam nicht zuletzt durch den Koranvers 4:34 für selbstverständlich gehalten.
    • Gewalt gegen Kinder als Erziehungsmethode ist ebenfalls ein herausragendes Thema. Erstaunlicherweise spielt bei deren Begründung die Religion nicht eine vordergründige Rolle, obwohl gerade das zu erwarten wäre. In den siebziger Jahren machten in der Öffentlichkeit insbesondere schlagende Koranschullehrer von sich reden.

    Da der Islam in allen genannten Bereichen als der Hauptverantwortliche für solche Vorgehensweisen bzw. Mißstände bezeichnet wird, ist es von großer Bedeutung, die Situation aus religiös-theologischer Sicht zu analysieren. Es stellen sich Fragen vom grundsätzlichen Verhältnis von Religion und Gewalt im Islam bis hin zu kulturell begründeter Legitimierung von Gewalt gegen Andere. Dabei haben wir es in islamisch geprägten Gesellschaften mit allen bekannten Positionen zu tun, wobei diese von religiös motivierter grundsätzlichen Ablehnung von Gewalt bis zu deren Rechtfertigung durch die Religion reichen.

    Religionen erheben den Anspruch, den Menschen in allen seinen Lebensbereichen anzusprechen, seine Bedürfnisse zu befriedigen und seine geistigen wie weltlichen Angelegenheiten zu regeln. Während z.B. die christlichen Kirchen einen großen Teil des öffentlichen Bereiches den staatlichen Institutionen überlassen haben, ist dem Islam dies vor dem Hintergrund seines Verständnisses von Religion nicht ohne weiteres möglich. Für Muslime in nichtislamischen Gesellschaften, in denen das islamische Recht nicht gilt und damit auch staatlich nicht durchsetzbar ist, stellt sich für Muslime das Problem, wie sie trotzdem ein Mindestmaß an islamischen Rechtsvorschriften (z.B. im Familienrecht) sicherstellen. So erleben wir die Situation, dass ein Muslim in Deutschland bei Ehestreitigkeiten nicht den üblichen islamischen Weg geht bzw. nicht gehen kann und daher versucht, selbst Lösungen zu finden, die allerdings je nach Stand der religiösen Bildung unterschiedlich qualifiziert ausfallen.

    Es erscheint als Widerspruch, dass sich der Islam einerseits eine Religion des Friedens und der Harmonie zwischen den Menschen versteht und andererseits Gewalt zur Regelung gesellschaftlicher Belange nicht grundsätzlich ablehnt. Dabei sind radikale Forderungen sowohl nach absoluter Gerechtigkeit und Frieden einerseits als auch die Anwendung strengster Strafen andererseits typisch für den Islam. Aus beiden Forderungen entsteht ein System zur Vermeidung von Ungerechtigkeiten unter den Menschen. Es ist auch festzustellen, dass der Islam dort, wo in der westlichen Rechtsprechung die Anwendung von Gewalt (z.B. körperliche Züchtigung) als völlig inakzeptabel erscheint, diese vorsieht und da, wo westliche Gesellschaften u.U. die Todesstrafe anwenden, diese ablehnt.[1]

    Eines ist jedoch deutlich: Obwohl der Islam Gewalt gegen andere Menschen ablehnt, kommt sie in unterschiedlicher Weise in vielen Bereichen vor.[2] Wegen der Vielfalt des Themas soll hier nur auf die Bereiche eingegangen werden, die in unserem Kontext von Bedeutung sind.

    „Zwangsbekehrung“

    Grundsätzlich gilt, dass der Islam jeden Zwang im Glauben ablehnt. Die Zugehörigkeit zu einer Religion oder auch zu keiner Religion ist eine freie Entscheidung des einzelnen Menschen. Sie ist eine Angelegenheit allein zwischen ihm und Gott unterliegt nicht dem Einfluß von dritten.

    Dies wird insbesondere aus dem Koranvers 2:256 ersichtlich, dem zufolge jeglicher Zwang in der Religion verboten ist. Die Unterscheidung der Menschen in Glaubende, Ungläubige und Heuchler, wie sie in 2:1-7 getroffen wird, verdeutlicht die Unmöglichkeit einer Einflußnahme des Menschen auf den Glauben eines anderen. „Es ist gleich, ob du sie warnst, oder nicht warnst, sie glauben nicht.“

    Im Falle der Apostasie sieht die klassisch-islamische Rechtsprechung die Hinrichtung vor. Jedoch geht sie dabei von den Fallbeispielen des Frühislam aus, bei denen Apostasie immer in Verbindung mit Hochverrat oder Desertion vorkam, wo nicht nur der Islam, sondern auch das Kriegsrecht moderner Staaten die Todesstrafe vorsieht. In der Frage der Apostasie aus „Überzeugung“ sind sich heutige Gelehrte nicht immer einig.[3]

    Das auszuführende Organ bei der Anwendung der Strafe ist in jedem Fall der islamische Staat und sonst keine Institution. Das bedeutet, dass im Falle des Fehlens eines solchen Organs die Anwendung der Strafe verschoben werden muß.

    Das islamische Strafrecht

    So wie andere (Staats-) Systeme und Religionen auch den rechtlichen Bereich umfassen, besitzt der Islam ebenfalls ein sehr umfangreiches und detailliertes Rechtssystem, das entgegen den üblichen Annahmen durchaus flexibel ist und den jeweiligen Anforderungen der Zeit angepaßt werden kann.
    Sein Ziel ist es, den Menschen die besten Voraussetzungen zu geben, mit seinem Umfeld, seinen Mitmenschen und mit Gott in Frieden zu leben. Der Begriff „Islam“ selbst bedeutet „Frieden“ und hat denselben Wortstamm wie das hebräische Wort für den Friedensgruß „Schalom“.

    Für die Gewährleistung dieses Friedens auf Erden sind alle Menschen verpflichtet, das Gute zu gebieten und das Verwerfliche zu verbieten, kurzum sich für Gerechtigkeit einzusetzen. Der Koran betont, dass letztlich Gott allein der Gerechte ist, der Mensch jedoch versuchen muß, mit seinen begrenzten Möglichkeiten ein Höchstmaß an Gerechtigkeit auf Erden zu verwirklichen.

    Es wäre völlig falsch, von einem ungerechten und nicht zeitgemäßen System der Scharia zu reden, da dieses System sich sowohl in der Zeit seiner Entstehung, im Verlaufe seiner Geschichte als auch heute noch als ein besonders gerechtes System erwiesen hat. Zudem ist es falsch, die Scharia ausschließlich mit dem Strafrecht zu identifizieren, welches nur einen kleinen Teil der gesamten Scharia ausmacht.

    Der Islam hat durch die Institutionalisierung des Khalifats dem Staat das Gewaltmonopol übertragen. Dies schließt jegliche Selbstjustiz aus. Bei Strafhandlungen ist es erforderlich, alle möglichen Umstände zu untersuchen, die den Täter dazu veranlaßt haben, die Tat zu begehen. Hierzu gehört die Frage nach dem Bildungsstand (d.h. wußte der Betroffene um das Verbot seiner Tat?) ebenso wie die sozialen Hintergründe der Täterpersönlichkeit. Hier unterscheidet die Scharia sich kaum von anderen Rechtssystemen.

    Ein hoher Stellenwert kommt auch dem Prinzip der Wiedergutmachung zu. So wird z. B bei Mord im Gegensatz zu westlichen Rechtssystemen Anklage auf Antrag der Geschädigten, d.h. der Angehörigen des Opfers, erhoben. Weiterhin hat die Vorbeugung große Priorität. Alles, was zum Verbotenen führt, ist ebenfalls verboten, so z.B. die Werbung für alkoholhaltige Getränke. Auch kommen strengere Strafmaßnahmen erst in der fortgeschrittenen Phasen bzw. bei Wiederholungstätern in Betracht.

    Im islamischen Strafrecht tauchen körperliche Züchtigungen ebenfalls als Methode auf. Nur hier, das heißt in einem Rechtssystem, in dem der Staat Ausführender ist, wird körperliche Züchtigung auch als solche verstanden und angewendet. Eine für westliche Augen wohl ungewohnte Art, von seiner Wirkung her m.E. allerdings unbestritten.[4]

    In seinem System gestufter Strafen sieht der Islam sogenannte „Tasir-Strafen“ vor, die der Wiederholung einer Straftat vorbeugen soll. Es handelt sich um insgesamt 17 Stufen von der Ermahnung bis zur Durchführung harter Maßnahmen, die zur Erziehung des Täters führen sollen oder ihn und potentielle Opfer vor Wiederholungen schützen sollen. Es ist nicht legitim, eine Stufe zu überspringen oder gar mehrere ganz auszulassen. Hier wird noch einmal deutlich, dass durch gutes Zureden, Ermahnung, usw. eine Einigung und Einsicht bezweckt wird. Nur für den Fall, dass alles nichts nützt, darf auch zu härteren Methoden gegriffen werden.

    Ein weiteres wichtiges Prinzip des islamischen Strafrechts ist, dass die Tat bekannt sein muß. Es ist nicht die Aufgabe des Richters, nach Taten zu suchen, sondern die Strafe bei bekannten Taten anzuwenden. So fragte der Prophet nicht nach der Straftat eines Mannes, der gegen sich selbst Zeugnis ablegte. Sie blieb verborgen, so dass der Prophet nach dem Gebet dem Mann sagte, dass Allah ihm seine Sünde vergeben habe.

    Gewalt als Methode der Erziehung

    Der Islam erlaubt verschiedene Formen von Druckausübung und „Gewalt“ als Methode der Erziehung in verschiedenen Bereichen. Während in der Scharia körperliche Gewalt tatsächlich angewendet wird, ist die „Gewalt“ in der Familie nur in ganz seltenen Situationen bildlicher oder symbolischer Art. Das bedeutet, dass es hier nicht darum geht, jemandem weh zu tun, sondern um die Demonstration erzieherischer Macht beziehungsweise darum zu zeigen, wie ernst die Lage ist.

    Gewalt gegen Frauen

    Das harmonische Zusammenleben in der Ehe stützt sich auf

    • die Verpflichtung des Mannes, seine Frau gut zu behandeln und für Versöhnung einzustehen[5],
    • die Verpflichtung der Frau, dem Mann in Angelegenheiten zu folgen, die den Islam betreffen.[6]

    Obwohl die gegenseitige Erziehung von Mann und Frau Bestandteil des Zusammenlebens in der Ehe ist, sei in diesem Zusammenhang nur die Erziehung der Frauen durch ihren Mann erwähnt. Nur in diesem Fall erwähnt der Koran, dass bei Aufsässigkeit die Frau „geschlagen“ werden kann.

    Zum rechten Verständnis des Zusammenhanges ist es wichtig, sich die Situation und die historischen Hintergründe zu vergegenwärtigen, in welcher der Vers 4:34, von dem hier die Rede ist, herab gesandt wurden: Eine Reihe von Problemen zwischen den damaligen Gefährten des Propheten führte dazu, dass einige Männer Rat beim Propheten suchten. Dieser erlaubte ihnen daraufhin, ihre Macht und Männlichkeit im Hause zu demonstrieren. Daraufhin kamen die Frauen zum Propheten und beschwerten sich über ihre Männer. Der Prophet verurteilte ihre Handlungen. Die Klärung der Vorfälle wurde durch den Koranvers herbeigeführt: Nur im Falle von Nuschuz (Aufsässigkeit, Streitsucht und Angriff[7]) der Frauen gegen ihre Männer erlaubte der Koran sie zu schlagen.

    Die Gelehrten äußern sich zu diesem Vers in sehr vielfältiger Weise. Jedoch sind sich alle darüber einig, dass es sich hier nicht um körperliche Züchtigung handelt, sondern lediglich um eine Art symbolisches Schlagen, vielleicht mit einer Zahnbürste (Miswak) oder ähnlichem. Auf keinen Fall erlaubt der Islam das Schlagen in das Gesicht, was ausdrücklich vom Propheten auch im Falle der Sklaven verboten wird. Von vielen Muslimen wird jedoch weder der historische Hintergrund des Verses noch die dazu gemachten Äußerungen des Propheten beachtet. Die Sunna, die sonst von den Muslimen so geachtet wird, gerät dann schnell in Vergessenheit.

    Der Prophet selbst hat seine Frauen niemals geschlagen. Es ist lediglich bekannt, dass er sich von seinen Frauen einen Monat lang zurückzog, weil diese ihn mit ihrem Verhalten verletzt hatten.[8] Muhammad sagte von sich selbst, das der Beste seiner Gefährten derjenige ist, der auch gut zu seiner Frau ist. Ich behandle meine Frauen liebevoll, sagte er von sich. Zahlreiche Überlieferungen belegen dies auch. So hat seine Frau Aischa zum Beispiel eine Tasse mit Essen gefüllt zerschlagen, weil sie eifersüchtig auf die andere Frau des Propheten war, die dem Propheten das Essen geschickt hatte. Der Prophet verhielt sich geduldig und bat seine Gäste mit der Bemerkung zu essen, Aischa habe sich durch ihre Eifersucht übernommen.

    Erziehung von Kindern

    Weder der Koran noch der Prophet erlauben das Schlagen als Erziehungsmethode. Das darf jedoch nicht falsch verstanden werden. In der islamischen Erziehung spielt das Vorbild der Eltern eine wichtige Rolle. Manche Gelehrten neigen sogar dazu, für Kinder im späteren Erwachsenenalter mildernde Umstände bei Verfehlungen zu fordern, wenn sie in ihren Eltern ein schlechtes Vorbild hatten und ihre religiösen Verpflichtungen nicht einhalten.

    Die islamische Erziehungspflicht der Eltern reicht bis zum Erwachsenwerden ihrer Kinder, also bis sie mit der Pubertät ihre Religionsmündigkeit erreicht haben. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie künftig zum Verhalten der Kinder keine Stellung mehr beziehen sollen, jedoch sind sie von Gott dazu nicht mehr verpflichtet und können nicht dafür belangt werden.

    Von unserem Propheten wissen wir, dass er sehr liebevoll mit seinen Kindern und Enkelkindern umgegangen ist. Das belegen Überlieferungen wie, dass er es während des Gebetes zuließ, wenn ihm die Kinder auf den Rücken stiegen, oder er sich nicht beklagte, dass sein kleiner Enkelsohn auf seinem Schoß ein „kleines Geschäft“ erledigte. Dies wurde von einem Mann beobachtet, den der Prophet beabsichtigte, als Statthalter einzusetzen. Die erstaunte Reaktion des Mannes und seine Aussage, dass er seine eigenen Kinder nie auf den Arm nehme, veranlaßte den Propheten, ihn nicht einzusetzen mit der Begründung: „Jemand, der den Kindern gegenüber nicht barmherzig ist, kann den (anderen) Menschen gegenüber auch nicht barmherzig sein.“

    Nur im Falle des Gebets erfahren wir eine Ausnahme: Entgegen seinem sonstigen Verhalten empfiehlt der Prophet hier, die Kinder leicht zu schlagen, wenn sie nach vorherigen Ermahnungen und etlichen Versprechungen das Gebet nicht einhalten, obwohl sie schon 10 Jahre alt geworden sind. Es geht hier jedoch nicht um „Schlagen“, gemeint ist allenfalls ein leichter Klaps auf den Po um den Ernst der Lage im Falle des Gebetes klarzumachen. Der Prophet ertrug alles, was ihm die Mekkaner an Leid zugefügt hatten, ohne Rache zu nehmen nach dem Einzug in Mekka. Auch als ihm im Krieg ein Zahn ausgeschlagen wurde, sagte er den berühmten Satz, den wir auch von Jesus kennen: „Mein Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“. Als er jedoch wegen zahlreicher Angriffe der Mekkaner das Nachmittagsgebet nicht verrichten konnte, verfluchte er sie und wünschte Ihnen Gottes Strafe.

    Die Ausführungen zeigen, dass der Islam zur Erziehung der Gesellschaft und ihrer Mitglieder, der Erziehung der Kinder in der Familie und zur gegenseitigen Erziehung der Familienangehörigen verschiedene Methoden gestuft einsetzt. Dazu gehört auch die Ausübung von Druck in verschiedenen Formen, die u.U. auch Gewalt einschließt. Diese ist im Islam jedoch streng reglementiert und soll möglichst vermieden werden. Indem er für die Ausübung von Gewalt in jeder Form nicht nur im staatlichen und öffentlichen Bereich, sondern auch im privaten und familiären Rahmen Regelungen schafft, zeigt der Islam tiefe Einsicht in die Begrenztheit der menschlichen Natur, die Gewalt trotz bester Absichten wohl nicht ganz vermeiden kann.

    [1] Beispiel: Hinrichtungen von jugendlichen oder psychisch kranken Mördern in den USA.

    [2] Ein wichtiger Hinweis: Es geht mir nicht darum, ein Thema zu beschönigen, das für uns Muslime unangenehm ist, sondern ich möchte das Thema so darzustellen, wie ich es den islamischen Quellen entnehmen konnte. Auch möchte ich hier an einen wichtigen Grundsatz des Islam erinnern: Gott warnt uns davor, etwas vorschnell als gut oder schlecht zu beurteilen und sagt: „Es könnte sein, dass ihr eine Sache verabscheut, und diese Sache ist in Wirklichkeit gut für euch. Und genauso könnte es sein, dass ihr eine Sache für gut erklärt, und es könnte in Wirklichkeit schlecht für euch sein. Nur Gott ist derjenige, der das Gute und das Böse kennt.“

    Bei den Vorbereitungen zu diesem Referat wurde mir deutlich, wie tabuisiert dieses Thema auch unter uns Hod-schas ist. Viel fiel mir bei dem Stichwort Gewalt nicht ein. In den Quellen gehört es eher zu den Randthemen.

    [3] Auch bei diesem Thema ist es wichtig, von einer „Verschönerungstaktik“, abzusehen, zu der manche Muslime   neigen.

    [4] Beispiel: Wenn jemand eine Straftat begeht wie z.B. Alkohol am Steuer, erhält er in der Regel eine Geldstrafe. Dies trifft ihn bei weitem nicht so hart als wenn er öffentlich Hiebe verabreicht bekäme. Dieser Demütigung würde sich keiner so leicht aussetzen. Jedoch ist diese Art von Strafe für viele inakzeptabel. In einer Zeit, in der Hinrichtungen in anderen Ländern an der Tagesordnung sind, erscheint es allerdings widersinnig, über die Unmenschlichkeit der Prügelstrafe zu diskutieren. Vgl. hierzu Sahih Al Buchari, Hadith Nr. 6773 ff.. Die Strafpraxis des Khalifen Omar für den Konsum von Alkohol waren zunächst 40, dann 80 Hiebe.

    [5] s. Sure 4:19. Außerdem sei auf einen Hadith hingewiesen, der von Buchari überliefert ist: „In der Angelegenheit der Frauen ermahnt euch gegenseitig mit Gutem“. Al Ghazali weist in seinem Werk über die Ehe auf 12 Aspekte hin, die der Mann beachten muß. Sein Maßstab ist der Prophet, der bekanntermaßen immer sehr geduldig und liebevoll zu seinen Frauen war.

    [6] Das geht aus dem Vers 4:34 hervor.

    [7] „Nuschuz“ bedeutet praktisch das Gegenteil des Wunsches auf ein friedliches und harmonisches Familienleben sowie die bewußte Auflehnung der Frau gegen ihren Mann und die Ignorierung der Frau durch ihren Mann. S. dazu auch El-Hac Mehmet Zihni, Nimeti Islam, S. 816.

    [8] Zaynab nahm ein Geschenk des Propheten nicht an. Er sagte: Eure (Affronts) sind mir lieber als dass ich von Allah geächtet werde.“ (Überliefert von Buchari, Muslim)

  • Zwischen Abhängigkeit und Autonomie – zum islamischen Umgang mit den Eltern

    Vortrag im Islamischen Kulturverein Mainz am 24.12.2012


    Dr. Ibrahim Rüschoff

    Einleitung

    In der Arbeit lerne ich viel von den Menschen, Dinge, die mit den Problemen, mit denen sie zu mir kommen, oft nicht viel zu tun haben. Ich bekomme durch meine Arbeit auch Zugang zu den Lebenswelten, den Normen und Werten des Alltagslebens der Menschen allgemein.

    Im Laufe der Zeit ist mir im Umgang mit Menschen aus dem Mittelmeerraum, bei orthodoxen Griechen, katholischen Italienern, koptischen Ägyptern, alevitischen Türken, aber z.B. auch Pakistani und eben auch bei Muslimen etwas aufgefallen, was ich in Ansätzen auch aus meiner eigenen Kindheit in Deutschland kenne:

    Auf Seiten der Eltern in ihrem Umgang mit den Kindern, aber auch bei Kindern im Umgang mit ihren Eltern besteht oft ein sehr enges, rigides Verständnis von Gehorsam, das keinerlei Widerspruch duldet und darüber hinaus diesen Gehorsam mit Respekt gleichsetzt bzw. „Ungehorsam“ oder „unterschiedlicher Meinung sein“ mit Respektlosigkeit.

    Eltern erwarten natürlich folgsame und gehorsame Kinder, zumindest prinzipiell, und Kinder sind grund-sätzlich ja auch bereit, auf die Eltern zu hören, nicht zuletzt weil sie sie lieben und auch auf sie und ihre Hilfe angewiesen sind. Doch wie weit reicht dieser Anspruch auf Gehorsam? Ist er wirklich gleichzusetzen mit Respekt? Sind die Eltern die letzten absolutistischen Herrscher, denen gegenüber es keine persönliche Frei-heit und Autonomie gibt?

    Wenn man die Realität betrachtet, könnte man meinen es sei so. Ich erlebe in Kontakten häufig eine extreme Abhängigkeit von den Eltern, die die Selbstwirksamkeit und Autonomie der Kinder stark einschränken. Diese Abhängigkeit hat in den meisten Fällen dann auch eine negative Auswirkung auf die Persönlichkeit und die Lebenswelt der Kinder wie z.B. auf deren Ehen.

    Bei den Muslimen, denen ich im Laufe der Jahre beruflich und privat begegnet bin, ist mir diese Situation besonders aufgestoßen, weil sich mir eine derartige Auffassung und ein solches Verständnis von Gehorsam aus den islamischen Quellen, soweit sie mir zugänglich sind, nicht erschließt, und weil ich darüber hinaus feststellen musste, dass dadurch allen, Eltern wie Kindern, zum Teil gravierende Probleme entstehen, die tief und manchmal irreparabel in das Leben der Betroffenen eingreifen und viel Unglück über die bringen kann, die einem zumeist am Nächsten stehen, die man am meisten liebt und deren Glück man wünscht.

    Ein Teilnehmer drückte es so aus: „In den Köpfen unserer Eltern, und auch in unseren, so fürchte ich, steckt die Überzeugung, dass, egal was ich in dieser Welt Gutes getan habe: in der Schule fleißig und im Beruf erfolgreich, kein Gebet ausgelassen, mich liebevoll um meine Familie gekümmert und die Kinder wohl-erzogen habe, eine Moschee gegründet und viele Menschen zum Islam gebracht habe, alles das zählt weder im Diesseits noch im Jenseits, wenn meine Eltern mit mir nicht zufrieden sind.“

    Das kann eigentlich nicht islamisch sein.

     

    Wovon rede ich? – Einige Beispiele:

    (1)

    Ein junger Mann hatte wichtige, regelmäßige Termine und sollte seine Mutter jedes Mal zum Einkaufen mit in die Stadt nehmen. Diese wurde trotz mehrfacher Hinweise auf die Zeit nie pünktlich fertig, sodass der Sohn Probleme wegen der ständigen Verspätungen bekam. Trotz großer Bedenken über sein Verhalten ist er nach vielfachen „Warnungen“ schließlich einmal allein gefahren und hat die Mutter stehen lassen, was diese ihm als Respektlosigkeit und Ungehorsam vorhielt. – Beim nächsten Mal war sie dann pünktlich fertig…

    (2)

    Ein ca. 30-jähriger Mann, der seinem manchmal sehr jähzornigen Vater möglichst aus dem Weg ging, begründete sein Verhalten mit dem Satz: „Wenn sich mein Vater über mich ärgern muss, habe ich eine Sünde begangen.“

    (3)

    Ein junger Mann nimmt auf Druck der Mutter Abstand von seiner großen Liebe und heiratet eine Frau, die die Mutter ausgesucht hat. Diese sowie die nächste, ebenfalls auf Wunsch der Mutter zustande gekom-mene Ehe scheitern, beide Frauen verlassen den Mann nach kurzer Zeit wegen des Einflusses der Mutter, gegen die sich der Mann auch in Alltagsdingen trotz gut begründeter eigener Meinung nicht durchsetzen kann, weil er dann ungehorsam bzw. ein schlechter Sohn sei.

    (4)

    Eine Frau wird in ihrer Ehe misshandelt und erniedrigt. Die Eltern erwarten von ihr Geduld und Durch-halten. Nach langer Leidenszeit ohne jede Aussicht auf Änderung wird die Frau dann gegen den Willen der Eltern selbst aktiv und trennt sich vom Mann. Sie hat das Gefühl, den Eltern gegenüber undankbar und un-gehorsam gewesen zu sein.

    (5)

    Die Mutter einer hier geborenen und aufgewachsenen, unverheirateten 38-jährigen Frau, die ihre Jahre (und damit auch Ehe und Kinder) dem elterlichen Betrieb geopfert hat, der schließlich wegen unsolider Wirtschafterei des Vaters doch in Konkurs ging, erwartet von dieser, dass sie mit ihr für immer in die Türkei zurückgeht, um sie dort zu versorgen. Die Tochter kann sich dieser Forderung nur unter größten Schwierig-keiten entziehen.

    (6)

    Ein Mann kann seine Familie nur nach Deutschland bringen, wo er schon lange arbeitet, indem der eine Tochter „opfert“ und bei den Schwiegereltern lässt, da diese in der Türkei nicht allein sein wollen. Daraus entstehen erhebliche Komplikationen für die ganze Familie.

    (7)

    Ein 35-jähriger Mann wird von seinem Vater über Jahre regelmäßig massiv erniedrigt, beschimpft und bis ins Erwachsenenalter geschlagen. Trotz einer regelrechten Traumatisierung besucht er ihn immer wieder bei seinen Reisen nach Marokko, da er sonst das Gefühl hat, seinem Vater ungehorsam zu sein. Danach ist er tagelang depressiv, manchmal sogar suizidgefährdet.

     

    Was geht hier vor?

    Wenn ich diese Beispiele an meinen Erfahrungen aus der eigenen Elternfamilie oder dem sozialen Umfeld meines westfälischen Dorfes messe, aus dem ich stamme, so fällt mir die außerordentliche elterliche Machtfülle auf, selbst wenn ich die 50er und 60er Jahre meiner Kindheit heranziehe. Auch heute dürfte man in Deutschland in irgendwelchen verlassenen Winkeln auf dem Land hier und da noch vergleichbare Situa-tionen vorfinden, insgesamt erscheinen die geschilderten Fälle in der heutigen Zeit und der bundesdeutschen Realität jedoch als absoluter Anachronismus, die zudem in vielen Fällen auch gegen geltende Strafgesetze verstoßen.

    Obwohl ähnliche Verhältnisse auch in Süditalien, Spanien oder Griechenland existieren, ziehen die Eltern hier nicht die Religion (z.B. das katholische Christentum) heran, sondern berufen sich eher auf die Tradition. Muslimische Eltern sind hier in einer „komfortableren“ Situation, da der Islam doch viele verbindliche und relativ konkrete Aussagen über das Verhalten im Alltag macht. Vor diesem Hintergrund ist nicht verwunder-lich, dass Muslime (und zwar wieder Eltern wie Kinder!) die skizzierten Auffassungen, wie zu erwarten ist, mit dem Islam begründen und damit praktisch „unangreifbar“ machen. Aber haben sie auch Recht damit?

    Um hier weiterzukommen, sollten wir

    • einen Blick in den Koran und auf die Sunna werfen und
    • schauen, welche anderen Einflüsse hier vielleicht noch eine Rolle spielen.

     

    Aus dem Qur’an:

    (1) „Und tue deinen Eltern Gutes. Sollte einer von ihnen oder beide in deiner Fürsorge ein hohes Alter erreichen, sage niemals ‚Bah!‘ zu ihnen oder schelte sie, sondern sprich immer in ehrerbietiger Rede zu ihnen und breite demütig die Flügel deiner Zärtlichkeit über sie und sage: ‚O mein Erhalter! Erteile ihnen deine Gnade, ebenso wie sie für mich sorgten und mich aufzogen, als ich ein Kind war!‘“ (17:23-24, auch 2:83, 6:151 oder 46:15 und 17)

    (2) „Verehrt Allah und setzet Ihm nichts zur Seite, und (erweiset) Güte (Ihsan) den Eltern, den Verwandten, den Waisen und den Bedürftigen, dem Nachbarn, der ein Anverwandter, und dem Nachbarn, der ein Fremder ist, dem Gefährten an eurer Seite und dem Wanderer und denen die eure Rechte besitzt. Wahrlich, Allah liebt nicht die Stolzen, die Prahler.“ (4:36)

    (3) „Wir haben dem Menschen ans Herz gelegt, gütig (Ihsan) gegen seine Eltern zu sein. Doch wenn sie dich bestimmen möchten, daß du Mir das zur Seite stellst, wovon du keine Kenntnis hast, so gehorche (Ta’a) ihnen nicht. Zu Mir ist eure Heimkehr, dann will Ich euch verkünden, was ihr getan.“ (29:8, auch 31:14-15).

    (4) „So gehorchet Allah und gehorchet (Ta’a) dem Gesandten. Doch wenn ihr euch abkehrt, dann ist die Pflicht Unseres Gesandten nur die deutliche Verkündigung.“ (64:12)

     

    Aus der Sunna

    (1) Al-Mughira Ibn Schu`ba berichtete, dass der Prophet, Allahs Segen und Friede auf ihm, sagte: „Allah hat euch wahrlich folgendes verboten: die Lieblosigkeit (‚oquq) gegen die Mütter, die Verwehrung einer milden Gabe und deren unrechtmäßige Einnahme und die Tötung der Mädchen. (…)!“ (Al-Bukhari)

    (2) Abdullah ibn Amru ibn al-As (r) überliefert, dass der Prophet (s) sagte: „Die großen Sünden sind: Allah etwas beizugesellen, ungehorsam gegenüber den Eltern (‚oquq) zu sein, jemanden zu töten und falschen Eid zu schwören.“ (Al-Bukhari/Riyad us-Salihin Nr. 337)

     

    Welche Begriffe werden im Arabischen verwendet?

    • den Eltern Güte erweisen: Ihsan
    • den Eltern gegenüber lieblos sein: ‚Oquq
    • Gehorsam gegen Gott und seinem Gesandten: Ta’a
    • Gehorsam den Eltern bei Shirk verweigern: Ta’a

    Es findet sich im Zusammenhang mit den Eltern nicht der Begriff „Ta’a“, der für den Gehorsam gegenüber Gott und dem Gesandten benutzt wird sondern „Ihsan“.

    Unterstrichen wird das durch den Vers 4:36: „(Erweiset) Güte den Eltern, den Verwandten, den Waisen und den Bedürftigen, dem Nachbarn, der ein Anverwandter, und dem Nachbarn, der ein Fremder ist, dem Gefährten an eurer Seite und dem Wanderer und denen die eure Rechte besitzt.“ Dem Nachbarn oder dem Fremden „gehorchen“ kann natürlich nicht gemeint sein, wohl aber ihnen „Güte erweisen“.

    Für Lieblosigkeit bzw. „Ungehorsam“ den Eltern steht der Begriff „’oquq“, das Gegenteil von „Ihsan“.

    Aus islamischer Perspektive scheint folgender Sachverhalt von Bedeutung: Wir sollen den Eltern Respekt und Ehre erweisen, ihnen in Güte begegnen und die „Flügel unserer Zärtlichkeiten demütig über ihnen ausbreiten“ (17: 24). Doch den Eltern zu folgen hat Grenzen dort, wo sie Shirk verlangen, doch selbst dann sollen wir ihnen „mit Güte Gesellschaft im Leben dieser Welt leisten“ (31:15). Von absolutem Gehorsam ist also nirgends die Rede. Warum wird er dennoch oft verlangt?

     

    Was spielt noch eine Rolle?

    Mit der Religion hat die ganze Angelegenheit wenig bis gar nichts zu tun, das zeigen auch die Vergleiche mit den christlich geprägten Kulturen in Mittelmeerraum. Von Bedeutung sind vielmehr

    (1) Erzieherische Faktoren:

    In vielen Familien lernen Kinder früh, dass ihre seelischen Bedürfnisse wenig oder gar nicht zählen. Dagegen ist Anpassung an die Bedürfnisse der Eltern gefordert. Ungehorsam bzw. abweichende Meinung wird als Respektlosigkeit gegenüber der elterlichen Autorität gewertet.

    (2) Soziokulturelle Faktoren/kollektive Strukturen.

    Gehorsam und Respekt sichern die Funktion oder auch das Überleben der Familie oder des Stammes. Dies kann in bestimmten historischen und funktionalen Situationen durchaus von ausschlaggebender Bedeutung sein (z.B. in gefährlichen Gegenden, unsicheren wirtschaftlichen Situationen, aber auch z.B. beim Militär im Kampfeinsatz).

    (3) Patriarchale Strukturen:

    Gehorsam sichert nicht nur die Macht der Männer, sondern auch die Macht der Frauen, die ihre Söhne abhängig halten und dadurch in die Gesellschaft hineinwirken.

    (4) Migrationsfaktoren:

    Gehorsam sichert vertraute und Sicherheit vermittelnde Elemente in der Fremde. Gehorsam der Kinder mindert die Ängste der Eltern in der fremden Umgebung und schützt vor Verlust des Ansehens.

     

    Die Folgen:

    Kinder erleben häufig eine starke Einschränkung ihrer Autonomie. Selbst wenn die Eltern abwesend oder irgendwann gestorben sind, wirken sie über die Gewissensbildung bei den Kindern weiter und schaffen dadurch Konflikte.

    Kinder lernen nur schwer, eigene Ansprüche und Standpunkte angemessen zu äußern und ggf. auch durch-zusetzen. Sie sind später als Erwachsene häufig entweder aggressionsgehemmt oder extrem autoritär.

    Kinder kämpfen mit dem eigenen Ich-Ideal und sind später nur schwer in der Lage, Schwächen oder Fehler zuzugeben, weil sie das als kompletten Verlust ihrer Autorität erleben.

    Kinder leiden unter ständigen Schuldgefühlen, egal wie vernünftig ihre Entscheidung auch sein mag.

     

    Ausblick

    Wie lösen wir die schwierige Situation, den Eltern einerseits den islamisch geschuldeten Respekt und die geschuldete Güte zukommen zu lassen und andererseits die eigene Verantwortung für uns selbst wahrzuneh-men und ihr nachzukommen?

    Solange uns die Eltern zuhören, uns als (erwachsene) Kinder mit unseren eigenen Bedürfnissen und Vorstel-lungen, unseren Möglichkeiten und Grenzen wahrnehmen und unsere eigene Verantwortlichkeit vor unserem Schöpfer akzeptieren, ist alles in Ordnung.

    Doch was ist z.B. zu tun,

    • wenn sich die Eltern gegen eine Heirat aussprechen, bei der alle Voraussetzungen ideal sind, nur weil sie z.B. den Bräutigam nicht selbst ausgesucht haben?

    • Wenn sich eine Mutter das erklärte Recht herausnimmt, während der Abwesenheit ihres Sohnes und der Schwiegertochter in deren Wohnung die Schränke heimlich zu kontrollieren?

    • wenn jemand gegen den erklärten Willen der Eltern aus dem gemeinsam bewohnten Haus ausziehen möchte, da trotz vieler Versuche ein Zusammenleben nur um den Preis der absoluten Anpassung an die Elternfamilie möglich ist, die schwere Probleme in die Ehe trägt und nicht nur die Schwieger-tochter überfordert sondern auch den Sohn erkennen lässt, dass er seiner Mutter in keiner Weise gewachsen ist?

    Müssen wir den Eltern nicht auch zumuten unser Verhalten und unsere gut überlegten und begründeten Entscheidungen zu akzeptieren oder auch nur zu ertragen und notfalls auch darunter zu leiden

    • wenn sie absolut nicht in der Lage oder willens sind, unsere Situation zu begreifen und zu verstehen?

    • wenn sie nicht gebildet genug sind, die Zusammenhänge unserer Lebenswirklichkeit zu erkennen und z.B. die Hochschule für ein großes Haus mit einem Lehrer halten, wo mittags der Unterricht vorüber ist und man nachmittags die Schularbeiten zuhause macht?

    • wenn sie Angst haben, ihren Einfluss zu verlieren?

    • oder wenn sie schlicht machtversessen oder einfach schlechte Eltern sind, die es natürlich auch unter uns Muslimen gibt?

     

    Über dieses Spannungsfeld möchte ich eine lebhafte Diskussion anregen.