Mit dem Namen ALLAHs, des Barmherzigen, des Allerbarmers, bismi ʾllāhi ʾr-raḥmāni ʾr-raḥīm

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  • IASE Tagungsbeitrag 1998: Die Rolle der Imame in der psychosozialen Beratungsarbeit von Muslimen

    Aus der Schatzkiste. Die Wenigsten wissen, dass die IASE seit den 1980er Jahren existiert. Wir haben alte Tagungsbeiträge ausgesucht, um sie wöchentlich hier zu posten. Viel Vergnügen beim Lesen.


    Nigar Yardim

    Meine eigenen Erfahrungen basieren auf dem Erlebnis der 15-jährigen Arbeit meines Vaters in einer Duisburger Moschee als deren Imam und auf meinen persönlichen Erfahrungen seit neuerdings 4 Jahren in einer Moschee mit jungen Frauen und Mädchen.

    Die Ausgangssituation

    • Für die nach Deutschland immigrierten Muslime waren und sind die Moschee bzw. der oder die Gelehrte in den Moscheen wichtige Anlaufpersonen bezüglich sozialer Probleme, die besonders auch im Zusammenhang mit der Migration entstanden und zu sehen sind.

    • Die ersten Personen, die sich mit der Frage der religiösen Bildung der Nachfolgegenerationen beschäftigten, waren wie mein Vater Gastarbeiter, die nach der Arbeit Koranunterricht erteilten bzw. das Gebet leiteten.
    • Es entwickelte sich in der Gemeinde eine Art „Gemeinschaftsverantwortung“ der Mitglieder untereinander sowie auch eine „soziale Kontrolle“.
    • Das führte in manchen Fällen zu Konflikten, in der Regel wurde hierbei die Hilfe des Hodschas gesucht.
    • Die Anforderungen durch die veränderte Umstände im langjährigen Zusammenleben mit der deutschen /christlich geprägten Gesellschaft führten in den Moscheen ebenfalls zu Veränderungen: Es sollten Imame eingestellt werden, die deutsch sprechen und möglichst hier aufgewachsen sind. (Man kann in gewissem Sinne sogar von Glück reden, dass die Türkei und Deutschland ein Abkommen unterzeichneten, wonach nur vom Staat gestützte Einrichtungen Imame aus der Türkei holen durften, so dass die nichtstaatlichen religiösen Organisationen in Deutschland geradezu gezwungen waren, eigenen Nachwuchs auszubilden). Doch auch bei DITIP als staatlicher Institution gab es einen Strukturwandel: Die Imame sollten deutsch lernen, bevor sie nach Deutschland kommen.

    Die soziale Funktion eines Imams damals und heute

    Insbesondere Türken sind es gewohnt, bei fast allen den Alltag betreffenden Angelegenheiten einen Imam zu fragen um sie somit „absegnen“ zu lassen. Das ist z.B. der Fall wenn

    • ein Kind geboren wird und man einen guten Namen sucht,
    • jemand um die Hand der Tochter bittet,
    • jemand für die heiratsfähigen Söhne und Töchter einen Partner sucht,
    • der Sohn im Gefängnis sitzt und man zu stolz ist, ihn zu besuchen,
    • sich jemand gezwungen sieht, eine Person zu heiraten, die man nicht möchte (hier fungiert der Hodscha als Verbündeter),
    • ein Beruf gewählt werden soll,
    • wichtige geschäftliche Entscheidungen getroffen werden müssen.
    • Nicht selten muß der Imam vermitteln, wenn zwischen den Eltern und den Jugendlichen keine Gespräche möglich sind.
    • Wie weit der Hodscha hier qualifiziert Rat und Hilfe zu geben vermag, ist abhängig von seinen menschlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten als auch von seiner Interessenlage. So fühlt sich der eine verantwortlich für alle Belange der Gemeinde, während der andere seine Aufgaben lediglich in der Verrichtung religiöser Tätigkeiten sowie Koranunterricht und Freitagspredigt sieht.

    Veränderungen in der zweiten Generation

    Mit dem Generationswechsel in den Gemeinden beobachten wir, dass in den letzten Jahren der Dialog zwischen den Mitgliedern und dem Hodscha wieder intensiver geworden ist. Eine spürbare Veränderung entstand auch dadurch, dass die berufstätigen Hodschas, die nach der Schicht in die Moschee gingen und sich der Gemeindearbeit widmeten, von den Hauptamtlichen abgelöst wurden.

    Mittlerweile bemühen die Hodschas Gemeindemitglieder in den Moscheen, die bei sozialen Belangen als Ansprechpartner mitarbeiten. Es gibt allerdings immer noch Schwierigkeiten: Insbesondere im Umgang mit Jugendlichen sind die meisten überfordert, sie erreichen zwar eine bestimmte Gruppen (die in die Moschee kommen), doch zu großen Teilen der Jugendlichen ist mit den bisherigen Methoden kein Zugang möglich. Häufig werden Möglichkeiten und Methoden der Jugendarbeit im Gespräch mit den Kirchen thematisiert.

    Die Ansprüche der Gemeinden sind größer geworden, viele beschäftigen sich intensiv mit Fragen ihrer Minderheitensituation in einer christlich geprägten Gesellschaft. Sie hinterfragen herkömmliche Lehr-methoden in den Koranschulen wie auch das Verhältnis zwischen Gemeinde und Hodscha mit den tra-ditionellen Aufgabenbereichen, Zuständigkeiten und Umgangsformen.

    Die Themen der Predigten sind ausgeprägter und detaillierter, Hodschas müssen sich mehr mit kritischen Fragen beschäftigen, wozu ihr Wissen nicht immer ausreicht.

    Die Bedeutung des Koranunterrichts hat sich verlagert: Während früher fast ausschließlich religiöse Wissensvermittlung gewünscht war, hat heute der Koranunterricht als Ort der Beratung und Unterstützung in vielen Alltagsfragen an Bedeutung gewonnen, die je nach LehrerIn mehr oder weniger erfolgreich ist.

    Zusammenfassend ist festzuhalten, dass im Bereich psychosozialer Beratung durch die sich veränderte Situation bei den Hodschas durchaus ein Bedarf an fachlicher Hilfe besteht, wie auch eine erste kurze Umfrage gezeigt hat. Hier ist besonders die Jugendarbeit zu nennen, wo bestimmte Gruppen muslimischer Jugendlicher mit den bisherigen Methoden nicht mehr erreicht werden, zumal während der Ausbildung der Hodschas diese Fragen nahezu keine Rolle gespielt haben. Hier müssen zukünftig sicherlich Änderungen erfolgen.

    Psychosoziale Beratungsstellen in den Moscheen selbst einzurichten, halte ich für sehr schwierig, da die Schwellenangst für viele zu groß ist. Sinnvoller sind neutrale Stellen, die eng mit den Hodschas und den Moscheen zusammenarbeiten.

  • Blogreihe: Die Terra Incognita der islamischen Psychologie – Woche 7

    Psychosomatik, Medizinethik, therapeutische Beziehung

    Frühe muslimische Gelehrte haben in ihren medizinischen Schriften traditionell mit den Krankheiten des Kopfes – und somit auch des Geistes – begonnen und sich dann langsam entlang des Körpers bis zu den Füßen durchgearbeitet (Awaad, 2018). Manche Autoren argumentieren, dass diese Diskussion mentaler und physischer Gesundheit explizit durch islamische Quelltexte motiviert ist (Mohammad et al., 2018): So hält ein prophetischer Ausspruch alle Menschen dazu an, für jedwede Krankheit eine Heilung zu finden. Denn für jede Krankheit, die Gott geschaffen hat, ist auch eine entsprechende Heilung geschaffen worden (Al-Bukhari, 2002). In der Konsequenz, so heißt es weiter, ließen sich große Übereinstimmung im Gesundheits- und Krankheitsverständnis der muslimischen Philosophen und Gelehrten und der Definition der Weltgesundheitsorganisation finden, die Gesundheit als „Zustand vollständiger physischer, mentaler und sozialen Wohlbefinden und nicht als bloße Abwesenheit von Krankheit oder Schwäche“ definiert (World Health Organization, 1995; Mohammad et al., 2018).

    ʿAli ibn al-ʿAbbas al-Madschūsi (930-994) wuchs in der Gegend des heutigen westlichen Irans auf. Zu den am weitesten verbreiteten medizinischen Lehrbüchern seiner Zeit zählt sein Kāmil aṣ-ṣināʿ aṭ-ṭibbīya, in welchem er umfangreich über die Psychosomatik berichtet (Haque, 1998; Husain, 2017). Er befasste sich weiterhin mit der Psychophysiologie und neurologischen und psychiatrischen Krankheitsbildern und vertrat die Meinung, dass natürliche Heilverfahren vor der medikamentösen Behandlung zunächst auszuschöpfen seien. Sein Werk beinhaltet viele medizinethische Überlegungen und betont die Rolle der therapeutischen Beziehung (Haque, 2004).

    Referenzen:

    Al-Bukhari, M. I. (2002). Sahih Al-Bukhari. Damascus, Syria: Dar Ibn Kathir; p. 1441, Book 76, Hadith 5678.

    Awaad, R. (2018, October). Historical Perspectives and Modern Clinical Implications for the development of Islamic Psychology. Paper presented at the conference of the International Association of Islamic Psychology, Istanbul, Turkey.

    Haque, A. (1998). Psychology and Religion: Their Relationship and Integration from Islamic Perspective. The American Journal of Islamic Social Sciences15, 97–116.

    Haque, A. (2004). Psychology from Islamic Perspective: Contributions of Early Muslim Scholars and Challenges to Contemporary Muslim Psychologists. Journal of Religion and Health, 43(4), 357-377. doi:10.1007/s10943-004-4302-z

    Husain, A. (2017). Contributions of Arab Muslim Scholars to Psychology. In A. Husain (Ed.), Contemporary Trends in Islamic Psychology (pp. 13-25). Hyderabad, Indien: Centre for Study and Research.

    Mohammad, A., Elzamzamy, K., Fereydooni, S., Gamar, M., & Awaad, R. (2018). Mental Health in the Islamic Golden Era: The Historical Roots of Modern Psychiatry, in H. S. Moffic, J. Peteet, A. Hankir, R. Awaad, Islamophobia & Psychiatry: Recognition, Prevention, and Treatment (in press).

    World Health Organization. (1995). Constitution of the world health organization.

  • Blogreihe: Die Terra Incognita der islamischen Psychologie – Woche 6

    Philosophische Psychologie, Philosophie des Geistes, Sozialpsychologie, Träume

    Das islamische Verständnis des Gottesdienstes ist weiter gefasst als die bloße Durchführung religiöser Rituale. Glaube und Handlung können in alle Bereiche der menschlichen Existenz einbezogen werden, denn kein privater noch öffentlicher Aspekt des Lebens ist zu gering, um nicht in einen Gottesbezug gebracht zu werden. Das islamische Verständnis von Gottesdienst ist, Kongruenz zwischen der menschlichen Natur (fiṭra), wie sie von islamischen Quelltexten beschrieben wird, und dem menschlichen Erleben und Verhalten herzustellen – auch unter Rückgriff auf die ihn umgebende Umwelt, die ihm zur Erfüllung seiner Existenzfunktion dienstbar gemacht wurde (45:13) (Rüschoff, 1989; Öz & Kaplick, 2018).

    Das arabische Wort für die Statthalterschaft des Menschen (ḫilāfa) entstammt der Wortwurzel ḫ-l-f und bezieht sich lexikalisch betrachtet auf Austausch, Substitution, Mandat oder auch Delegation. In der islamischen Theologie wird das Konzept der Statthalterschaft dahingehend verdeutlicht, dass es sich um die Delegierung von Verantwortung für Aufgaben handele, die zunächst Gottes Aufgaben waren (32:5). Diese seien jedoch an den Menschen mit seiner Entsendung auf die Erde übertragen worden und er übernehme für diese, unter Berücksichtigung der Offenbarung, Verantwortung. Aus den islamischen Quelltexten (v.a. 91:9; 3:110; 11:61) wird ersichtlich, dass es sich bei den Angelegenheiten, die in die Verantwortung des Menschen übertragen wurden, insbesondere um folgende drei Dimensionen handelt: 1) das menschliche Innenleben (Psychologie, Spiritualität; 91:9), 2) soziale Angelegenheiten und Beziehungen (muʿāmalāt; 3:110) und 3) die Interaktion zwischen den Menschen und der natürlichen Umwelt (11:61).

    „[…] an dem Tag, da weder Besitz noch Söhne (jemandem) nützen, außer, wer zu Allah mit heilem Herz kommt“ (26:88-89).

    Auf Grundlage dieses Verses lässt sich argumentieren, dass zumindest für das menschliche Innenleben der Gottesdienst und das Sorgen um das Innenleben als Mittel dafür angedacht sind, das Herz in einen heilen Zustand zu bringen. Der Prozess, das spirituelle Herz im Sinne seiner seelischen Bedeutung in einen heilen Zustand zu bringen, kann als tazkiyya, islamische Spiritualität, verstanden werden. Tazkiyya bedeutet linguistisch zum einen Läuterung/Reinigung und zum anderen Erhöhung/Zunahme. Idiomatisch und fachsprachlich bezieht sich tazkiyya auf die Läuterung der Seele von den Hindernissen, die ihr verwehren, in Harmonie mit ihrer Natur (fiṭra) zu stehen (91:9).

    Dieser Referenzrahmen liefert eine Verortung der Psychologie und Spiritualität in einem islamischen Kontext: Sie setzen sich mit dem menschlichen Verstand auseinander, der die primäre Funktion der Handlungskontrolle besitzt, Bewusstsein erzeugt und dessen Sorge in der Verantwortung des Menschen liegt (Öz & Kaplick, 2018).

    Wie auch bei anderen Gelehrten finden wir bei Abū Nasr Muhammad al-Fārābī (870-950) kein einzelnes Werk zur Psychologie, Therapie oder Psychiatrie, sondern psychologische Ideen sind über eine Vielzahl von Werken verteilt. al-Fārābī stammte höchstwahrscheinlich aus dem Gebiet der heutigen Türkei und wirkte im heutigen Irak, vor allem in Bagdad, und Syrien. Zu seinen psychologischen Schriften zählen Risāla fī l-ʿaql und Mabādiʾ ārāʾ ahl al-madīna al-fāḍila zum Aufbau der Seele mit aristotelischem Charakter (Haque, 1998; Vahab, 1996). In beiden Werken befasst er sich eingehend mit der Psychologie des Prophetentums und der Vorstellungskraft aus einer kognitiven Perspektive (Nasr & Leaman, 2001). Darüber hinaus war al-Fārābī ein bedeutender Musikwissenschaftler, der sich mit der Musiktherapie auseinander gesetzt hat (Haque, 2004; Husain, 2017). Mit seinem Werk al-madīna al-fāḍila äußerte er sich außerdem zu sozialpsychologischen Aspekten (Achoui, 1998; Düzgüner & Şentepe, 2015; Majeed & Jabir, 2017; Mohammad et al., 2018).

    Referenzen

    Achaoui, M. (1998). Human Nature from a Comparative Psychological Perspective. The American Journal of Islamic Social Sciences, 15(4), 71-98.

    Düzgüner, S., & Şentepe, A. (2015). Characteristic Themes in Psychology of Religion in Turkey: Muslim Thinkers’ Views on Human Psychology and Psychology of Sufism. In Z. Ağilkaya-Şahin, H. Streib, A. Ayten, & R. W. Hood (Eds.), Psychology of Religion in Turkey (pp. 31-50). Leiden, Niederlande: Brill.

    Haque, A. (1998). Psychology and Religion: Their Relationship and Integration from Islamic Perspective. The American Journal of Islamic Social Sciences15, 97–116.

    Haque, A. (2004). Psychology from Islamic Perspective: Contributions of Early Muslim Scholars and Challenges to Contemporary Muslim Psychologists. Journal of Religion and Health, 43(4), 357-377. doi:10.1007/s10943-004-4302-z

    Husain, A. (2017). Contributions of Arab Muslim Scholars to Psychology. In A. Husain (Ed.), Contemporary Trends in Islamic Psychology (pp. 13-25). Hdyerabad, Indien: Centre for Study and Research.

    Majeed, A. & Jabir, K. P. (2017). The Contribution of Muslims and Islamic Concepts: Rethinking and Establishing the Actual Origin of Concepts and Thought in Psychology. The International Journal of Indian Psychology4(2), 68-77.

    Mohammad, A., Elzamzamy, K., Fereydooni, S., Gamar, M., & Awaad, R. (2018). Mental Health in the Islamic Golden Era: The Historical Roots of Modern Psychiatry. in H. S. Moffic, J. Peteet, A. Hankir, R. Awaad, Islamophobia & Psychiatry: Recognition, Prevention, and Treatment (in press).

    Nasr, S. H. & Leaman, O. (2001). History of Islamic philosophy (3rd ed.). London, New York: Routledge.

    Rüschoff, S. I. (1992). Zur Bedeutung des islamischen Religionsverständnisses für die psychiatrische Praxis. Psychiatrische Praxis, 19(2), 39-42.

    Öz, T., & Kaplick, P. M. (2018). Grundbegriffe eines islamischen Persönlichkeitsmodells: Linguistische, exegetisch-theologische und psychologische Perspektiven. In M. Khorchide & A. M. Karimi (Eds.), Jahrbuch für islamische Theologie und Religionspädagogik – Was ist der Mensch. (pp. 111-145). Münster: Kalam Verlag.

    Vahab, A. A. (1996). Section I: An Introduction to Islamic Psychology. In An Introduction to Islamic Psychology. New Delhi: Institute of Objective Studies.

     

  • IASE Tagungsbeitrag 1998: Möglichkeiten und Grenzen islamischer psychosozialer Beratungsarbeit

    Aus der Schatzkiste. Die Wenigsten wissen, dass die IASE seit den 1980er Jahren existiert. Wir haben alte Tagungsbeiträge ausgesucht, um sie wöchentlich hier zu posten. Viel Vergnügen beim Lesen.


    Maria Zepter

     

    Möglichkeiten und Grenzen islamischer psychosozialer Beratungsarbeit sollen am Beispiel der „Psychologischen Beratungsstelle für Muslime und ihre deutschen Angehörigen“ in München dargestellt werden.

     

    Allgemeines

    Die Beratungsstelle besteht seit 1990. Sie wird von fünf Fachleuten (muslimischen psychologischen Psychotherapeuten und Ärzten) betrieben, angebunden sind einige fremdsprachliche Übersetzer. Es existiert keine geregelte Finanzierung, weder durch die Stadt noch durch die Wohlfahrtsverbände. Letzere behindern die Arbeit sogar eher, als Gründe sind die Sorge um eine weitere Verteilung der knappen finanziellen Ressourcen zu vermuten. Obwohl immer wieder darauf angesprochen, kamen auch keine Spenden von den Ratsuchenden, gelegentlich überwiesen deutsche Frauen geringe Beträge. Die Beratungen erfolgten kostenlos, auch die Übersetzer erhielten bis auf Ausnahmen kein Entgelt (glt. erfolgte eine Bezahlung der Dolmetscher durch das Frauenhaus).

    Die Münchner Moschee bot uns Räume an, die wir jedoch nicht nutzten, da zu befürchten ist, dass viele Hilfesuchende Kontrolle und Gerede fürchten und unser Angebot nicht wahrnehmen würden. Wir konnten dafür einen Raum im Kulturzentrum „Kulturschmiede“ nutzen, wo wir auf Klappstühlen saßen, Telefon und ein kleiner Computer standen in der Küche. Trotz dieser Einschränkungen liefen die Beratungen.

    Für Köln bedeutet das, dass eine Beratungsstelle vom Bildungszentrum für muslimische Frauen räumlich getrennt sein müßte, da sonst die Gefahr besteht, dass manche Mädchen nicht mehr kommen dürften.

     

    Aufgaben der Beratungsstelle

    a) Beratung von Muslimen, ihren deutschen Ehefrauen, Freundinnen oder Familienangehörigen. Die Sitzungen erfolgten als Einzel-, Paar- und Familienberatung.

    b) Weiterleitung an (wenn möglich muslimische) Ärzte oder andere Institutionen im Bereich der Gesundheits- und Sozialfürsorge sowie aus­ländische Institutionen. Wichtig waren die Herstellung des Kontaktes und die Terminabsprache durch uns, da sonst viele Klienten gar nicht oder zu falschen Ter-minen dorthin gegangen wären.

    c) Therapie – d.h. kurze therapeutische Kriseninterventionen oder Weiterleitung an muslimische Therapeuten, die mit der Kran­kenkasse abrechnen konnten. Wenn keine guten mus­limischen Therapeuten vorhanden sind, sollten die Klienten ruhig an gute (d.h. gut ausgebildete und in interkultureller Arbeit erfahrene) nichtmuslimische Therapeuten vermittelt werden. Sinnvoll ist hier eine grundsätzliche Kontaktaufnahme zu geeigneten Kollegen.

    d) Beratung anderer Fachleute (Psychiater, Gutachter, Gerichte, Vormundschaftsgerichte), städtischer Stellen z.B. bei der Planung von Veranstaltungen, Ausländervereinen oder auch kirchlicher Stellen etc. Hier sind besonders islamisches Wissen, Kontaktfähigkeit und vor allem das Vermeiden jeglicher Missionierung wichtig.

    e) Die „Bosnien-Arbeit“ nimmt inzwischen einen hohen Stellenwert ein:

    • Beratung und Begleitung zu Ämtern von bosnischen, muslimischen Flüchtlingen, Ausstellen von Attesten etc.

    • Projekt „Frauen aus Omarska“: Sozialpsychologische und therapeutische Begleitung von 12 über-lebenden Frauen aus dem serbischen Konzentrationslager „Omarska“ und deren Kindern. Weiterhin Begleitung zum Kriegstribunal nach Den Haag. Rückkehrhilfe, Spendensammlung.

    • SOS-Telefon für (alle) Flüchtlinge aus Ex-Jugoslawien an zwei Tagen in der Woche mit muttersprachlichen Fachkräften, die von Spenden der Stadt München, der Süddeutschen Zeitung und einigen Frauenvereinen bezahlt wurden.

     

    Klienten:

    Ein Drittel sind praktizierende Muslime aus verschiedenen Ländern, darunter auch relativ viele deutsche Muslime (häufi­ges Problem: das sog. „Konvertiten-Syndrom“, bei dem bei völliger Anpassung und Aufgabe der eigenen Persönlichkeit die Klienten mit dem Übertritt zum Islam von einem rigiden System ins andere wechseln, zumeist bestehen heftige körperliche Beschwerden oder starke Panikattacken).

    Ein weiteres Drittel sind nicht praktizierende Muslime, bzw. Muslime, die sich von der Religion abgewandt haben (z.B. nach einem Gefängnisaufenthalt im Iran), der Großteil sind tunesische, marokkanische und andere Asylbewerber. Hier ist besonders wichtig, dass das Fachliche, die psychologische Beratung im Vordergrund steht. Keine Ahadith oder Koranverse heranziehen, sonst kommen die Klienten nicht wieder. Nach unseren Erfahrungen bringen die Klienten später manchmal selbst das Gespräch auf die Religion.

    Das letzte Drittel stellen binationale Familien, deutsche Frauen muslimischer Männer oder deren Freundinnen vor der Eheschließung. Vielfach handelt es sich um massiv geschlagene, unterdrückte und mißhandelte Frauen. Die Rate der psychischen Störungen liegt bei Asylbewerbern extrem hoch, es finden sich relativ häufig psychiatrische Diagnosen. Wichtig: Wenn klar ist, dass es nur um Heirat zur Erlan­gung der Aufenthaltserlaubnis geht, sollte den Frauen abraten werden.

     

    Wichtige Grundsätze für die Beratungsarbeit

    • Wichtig ist psychologische Beratung von Muslimen für Muslime und nicht islamische psychologische Beratung.

    • Berater müssen große Offenheit für andere besitzen. Statt zu Moralisieren und auf Höllenstrafen zu verweisen sollen die Konsequenzen des jeweiligen Handelns wertfrei aufgezeigt und die Verantwortung des Menschen dafür betont werden. Besonders wichtig ist dieses bei Problemen vorehelicher Kon­takte von Jugendlichen oder jungen Frauen.

    • Die fachliche Kompetenz steht im Vordergrund, islamische Aspekte bleiben (vorerst) im Hintergrund. Die Beratung darf nichts Missionarisches haben, keine „Büje- oder Peri-Geschichten“ (häufige türkische Erklärung für psychiatrische Phänomene und psychotische Erkrankungen: Dschinnen oder der böse Blick), sondern fachliches Wissen, kombiniert mit Kenntnis des Islam und der Sharia. Der Berater sollte niemals die Lebensweise seines Klienten als „islamisch richtig“ oder „islamisch falsch“ bewerten.

    • Offen sein für sog. „Papier-Muslime“ oder der Religion Entfernte. Es ist sinnvoll, den Kontakt über Themen wie Landeskunde oder den Ausländerstatus und nicht über den Islam herzustellen und aufrecht zu erhalten. Später geht vielleicht ein Signal vom Klienten aus, aus dem sich etwas entwickeln kann. Das ist auch wichtig für den Ruf und das Ansehen der Beratungsstelle bei der Stadt und anderen Institutionen. Islamische Beratungs­arbeit wird ja auch in den Moscheen geleistet oder von bestimmten religiösen Gruppen. Die psychologische Beratungs­arbeit muß sich am Fachlichen orientieren.

    • Fest im Islam sein und sich nicht vom Mißbrauch des Islam durch viele Klienten deprimieren lassen. Davon ausgehen, dass es alles (Betrug, Inzest, Mißbrauch, schwerste seelische und körper­liche Mißhandlungen) auch unter Muslimen gibt.

    • Für ausreichende Supervision sorgen, vor allem in der Anfangszeit. Bei Anträgen um finanzielle Unterstützung sollte ein Super­visionshonorar mit angesetzt werden.

    • Telefonische Sprechstunde, auf Anrufbeantworter genaue Angabe der Zeiten, evtl. Notrufnummer für dringende Fälle (Vorsicht: wird oft mißbraucht. Wir haben es nach einiger Zeit aufgegeben und täglich den Anrufbeantworter abge­hört). Beim Zurückrufen sollte man sich nicht mit „Beratungsstelle“ melden, sondern neutral. Immer fragen, ob es gerade paßt oder besser ein anderes Mal. Wenn der Ehemann abnimmt, kann es besser sein, wieder auflegen und zu warten, bis man ein anderes Mal die Frau di­rekt erreicht.

    • Aus Gründen der Finanzen und der Arbeitsüberlastung führten wir einen halben Tag Beratungsgespräche in der Beratungsstelle durch. Telefonische Sprechstunden und sonstige Beratungen bzw. Therapien fanden in den Praxen der jeweiligen Therapeuten statt.

    • Es fällt viel Sozialarbeit an. So ist die Bereitschaft wichtig, den Beratungsraum zu verlassen und Klienten z.B. zu Ämtern begleiten. Hier kann der Berater durch Lernen am Modell Hilfe zur Selbsthilfe geben (Schreiben von Briefen, Ausfüllen von Formula­ren). Keinesfalls geht es darum, dem Klienten einfach die Arbeit abzunehmen.

    • Zusammenarbeit mit Imamen und Hodschas, jedoch nur mit denen, die man kennt, denen man vertrauen kann und die die Schweigepflicht einhalten (das sind unseren Erfahrungen nach eher wenige).

     

    Grenzen der Beratungsarbeit

    • Fehlende finanzielle Unterstützung (weder von der Stadt, dem Staat, den Wohlfahrtsverbänden oder den Moscheen) setzt der Arbeit Grenzen.

    • Sehr schwierige Klientel, häufig besteht nur geringe Therapiefähigkeit

    • „Benutzermentalität“ der Klienten: ein Klient wollte z.B., dass nach der Beratung die Beraterin auf die Kinder aufpaßt, weil sich der Ehemann mit seiner Frau das neue Auto anschauen wollte („unter Muslimen ist das doch üblich“) oder: In einem klaren, ärztlich und gerichtlich belegten Fall von Mißbrauch wollte der muslimische Täter ein Gegengutachten, „weil die Mus­lime doch zusammenhalten müssen“ gegen die deutschen Gerichte.

    • In der Therapie sind nicht alle Methoden anwendbar (z.B. schwierig mit der klassischen Psychoanalyse, Katathymem Bildererleben, bestimmte Gestaltübungen etc.), hier muß man eigene Methoden entwickeln oder kombinieren. Viele Therapiemethoden, vor allem systemische, sind aus islamischer Sicht sehr brauchbar.

    • Klare Abgrenzung zur Sozialarbeit, finanzielle Unterstützung, Wohnungs- und Arbeitsvermittlung etc.

    • Übersetzer-Problem

    • Eigene psychische Grenzen beachten. Inzest, Mißbrauch, sexuelle Perversionen: alles kommt vor.

     

    Wir haben in München klein und bescheiden angefangen und wichtige Erfahrungen gemacht. Aus un-seren Fehlern haben wir gelernt. Wir mußten auch lernen, unsere Ohnmacht zu akzeptieren und haben doch viel erreicht in den Jahren.

    Inzwischen haben wir uns in München einen sehr guten Ruf erworben.

  • Blogreihe: Die Terra Incognita der islamischen Psychologie – Woche 5

    Intelligenz, Ethik, Psychosomatik

    Die religiöse Bedeutung mentaler Gesundheit wurde von frühen muslimischen Gelehrten umfassend besprochen. So gilt psychische Gesundheit und mentale Fassungskraft in einem juristischen Kontext als Bedingung für religiöse und soziale Gebote wie dem rituellen Gebet, dem Abschluss von Eheverträgen oder wirtschaftlicher Transaktionen. Darüber hinaus gilt die Bewahrung des Intellekts neben der Bewahrung der Religion/Glaube, des Lebens, der Familie und des Besitzes als Zielsetzung der islamischen Legislation. Muslimische Gelehrte haben sogar starke emotionale Zustände wie die Wut als Hindernis für die Entscheidungsfindung angesehen, so sollte zum Beispiel ein Richter niemals in einem Zustand der Wut Urteile fällen (Mohammad et al., 2018; Keshavarzi & Ali, 2018).

    Nachdem wir uns letzte Woche mit al-Balchī auseinander gesetzt haben, setzen wir unsere psychologische Sichtung der Texte früher muslimischer Gelehrter mit Abū Bakr Muḥammad ibn Zakaryā ar-Rāzī (854 – 925 n. Chr.) fort. Dieser wurde in Rayy, in der Nähe vom heutigen Teheran (Iran) geboren und ist in der Psychologie für sein al-Tibb al-ruhani bekannt, in dem er die moralischen und psychologischen Krankheiten der Seele bespricht (Husain, 2017). Weitere Werke umfassen al-Hāwī fī al-tibb, al-mujarrabāt und Kitāb al-Manṣūrī fī al-ṭibb. Das umfassende Buch der Medizin gilt als größte medizinische Enzyklopädie, die von einem Muslim verfasst wurde und beinhaltet ein Kapitel zu den Krankheiten des Kopfes, in dem auch neurologische und psychiatrische Krankheiten beschrieben werden (Mohammad et al., 2018). Er gilt als einer der ersten Vertreter einer spirituellen bzw. psychologischen Medizin und maß der Ethik in der Behandlungspraxis einen hohen Stellenwert bei (Nasr & Leaman, 2001). Darüber hinaus hat sich ar-Rāzī mit der Therapie psychosomatischer Symptomatik (Syed, 2002), mit dem Konzept der Hoffnung und positiven Gefühle im Genesungsprozess (Mohammad et al., 2018) und der Intelligenz beschäftigt (Haque, 2004). Er soll das Konzept der Psychose im Detail beschrieben haben (Awaad, 2017). Einige Autoren schlagen ar-Rāzī als ersten Chefarzt in der Geschichte vor, der eine psychiatrische Abteilung im Hospital in Bagdad errichtet hat (Husain, 2017; Syed, 2002). Payk (2005) weist jedoch darauf hin, dass diese Abteilung erst im Jahr 981, also knapp 60 Jahre nach ar-Rāzīs Tod, gegründet wurde. Die psychologische Literatur weist damit einige Inkonsistenzen in Bezug auf ar-Rāzīs Wirken auf.

    Referenzen:

    Awaad, R. (2017, September). Historical and Islamic Scholarly Roots of Mental Health. Paper präsentiert auf dem Islamic Models of Nurturing Psychological and Spiritual Health Konferenz des Khalil Centers, Islamic Center at New York University.

    Haque, A. (2004). Psychology from Islamic Perspective: Contributions of Early Muslim Scholars and Challenges to Contemporary Muslim Psychologists. Journal of Religion and Health, 43(4), 357-377. doi:10.1007/s10943-004-4302-z

    Husain, A. (2017). Contributions of Arab Muslim Scholars to Psychology. In A. Husain (Ed.), Contemporary Trends in Islamic Psychology (pp. 13-25). Hdyerabad, Indien: Centre for Study and Research.

    Keshavarzi, H & Ali, B (2018). Islamic Perspectives on Psychological and Spiritual Well-being and Treatment, in H. S. Moffic, J. Peteet, A. Hankir, R. Awaad, Islamophobia & Psychiatry: Recognition, Prevention, and Treatment (in press).

    Mohammad, A., Elzamzamy, K., Fereydooni, S., Gamar, M., & Awaad, R. (2018). Mental Health in the Islamic Golden Era: The Historical Roots of Modern Psychiatry. in H. S. Moffic, J. Peteet, A. Hankir, R. Awaad, Islamophobia & Psychiatry: Recognition, Prevention, and Treatment (in press).

    Nasr, S. H. & Leaman, O. (2001). History of Islamic philosophy (3rd ed.). London, New York: Routledge.

    Payk, T. (2005). Psychiatrie im frühen Islam. In H. J. Assion (Ed.), Migration und seelische Gesundheit (pp. 21-28). Heidelberg, Deutschland: Springer, 21-28.

    Syed, I. B. (2002). Islamic Medicine: 1000 years ahead of its time. Journal of Islamic Medical Association2, 2-9.