Spiritueller Missbrauch – eine Kooperation mit der Initiative Nafisa

Der Missbrauch religiöser Autorität ist in den vergangenen Jahren zu einem sehr sensiblen Thema geworden. Kompetentes Handeln und interdisziplinär erarbeitete Lösungsansätze sind sowohl von Theologen als auch Psychologen und Psychotherapeuten gefordert. In diesem Zusammenhang haben wir ein Kooperationsprojekt mit der Initiative Nafisa ins Leben gerufen, um ein Bewusstsein für das Themenfeld zu schaffen.

Artikel zur Begriffsklärung und aktuellen Situation

In dieser Rubrik finden sich neben einer Einleitung in den Themenkomplex auch Übersetzungen von allgemeinen Artikeln zur Vertiefung aus dem englischsprachigen Raum, in dem bereits einiges an Material zur Verfügung steht, zum Problem, zur Begriffsklärung und zur aktuellen Situation, die diese beschreiben und das Themenfeld aufhellen und strukturieren.

Einleitung in den Themenkomplex „Spiritueller Missbrauch“

In den letzten Jahren ist das Thema Missbrauch nicht nur national, sondern auch international stark in das Bewusstsein der allgemeinen Öffentlichkeit gedrungen. Beispiele dafür sind die MeeToo-Bewegung und der Missbrauchsskandal der Kirchen, bei dem die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit besonders deutlich zutage tritt. Daher ist es sehr zu begrüßen, wenn sich auch die Muslime dieser Welt mit diesem Thema auseinandersetzen.

Mit der Initiative Nafisa und der Islamischen Arbeitsgemeinschaft für Sozial- und Erziehungsberufe e.V. (IASE) haben sich zwei Akteure dieses Themas im deutschsprachigen Raum angenommen, die beide eine spezifische Kompetenz mitbringen. In der Einleitung in den Themenkomplex legen wir unsere grundsätzliche Haltung zum Thema Spiritueller Missbrauch dar.

Darüber hinaus empfehlen die Lektüre folgender wichtiger Artikel:

1. Spirituellen Missbrauch verstehen: Ein Interview mit Salma Abugideiri

Salma Abugideiri ist zertifizierte Beraterin, die seit über 20 Jahren mit Missbrauchsopfern arbeitet. Sie erklärt, was spiritueller Missbrauch ist, welche Folgen er für Betroffene hat und warum sich die muslimische Gemeinschaft des Themas annehmen muss.

2. Verschwommene Grenzen: Frauen, „berühmte“ šuyūḫ (Gelehrte) und spiritueller Missbrauch 

Ustadha Zaynab Ansari war eine der ersten, die die Problematik heimlicher und kurzfristige Zweitehen von muslimischen Predigern öffentlich thematisierte. Sie beleuchtet die Hintergründe dieses Phänomens: das Verschwinden von Grenzen im Internet, die übermäßige Verehrung muslimischer Autoritäten in der gegenwärtigen „celebritiy culture“, das ein toxisches Umfeld schafft, sowie die Folgen für die Betroffenen.

3. Missbrauch religiöser Autorität: Reputation als Tor zur (virtuellen) Beziehungsanbahnung

Auch in Deutschland gibt es Männer, die Unterrichts- und Vortragstätigkeiten sowie den Islamdiskurs im Internet nutzen, um muslimische Frauen mit unlauteren Absichten zu umwerben oder zu belästigen. Dr. Silvia Horsch und Dr. Mahmud Kellner schreiben über problematische Kommunikation im Internet, die Notwendigkeit, die Bestimmungen und Vorsichtsmaßnahmen im islamischen Eherecht erst zu nehmen, um Missbrauch vorzubeugen, und die Verantwortung der muslimischen Gemeinschaft, diesem Phänomen Einhalt zu gebieten.

4. Nicht alle Ehen sind gleich: Islamische Ehe, Ehe auf Zeit, heimliche Ehe und polygame Ehe 

Mohammad H. Fadel, außerordentlicher Professor an der Juristischen Fakultät der University of Toronto, schreibt über die Phänomene der heimlichen Mehr- und Zeitehe, die sich in den letzten Jahren unter amerikanischen Muslimen [und auch in Deutschland] verbreitet haben. Er zeigt, wie das islamische Eherecht versucht, Ehen von Scheinehen zu unterscheiden, um muslimische Individuen, Familien und Gesellschaften vor den Auswirkungen dieser Eheformen zu schützen.

5. Spiritueller Missbrauch – eine Verantwortung der Gemeinschaft 

Shaykh Rami Nsour thematisiert die Verantwortung der Gemeinschaft, gegen spirituellen Missbrauch vorzugehen. Allererste Voraussetzung ist dafür, den Missbrauch nicht zu beschönigen. Er diskutiert typische Reaktionsmuster, die darin bestehen, dass subjektive Aussagen statt gültige Scharia-Regeln vorgebracht werden, wie z.B. „Du versteht seine/ihre Absicht nicht!“

6. Wem können wir vertrauen?

Danish Qasim, Gründer des Projekts InShaykhsClothing.com, der seit über 10 Jahren Opfer von spirituellem Missbrauch berät, schreibt zu der sich angesichts zahlreicher Skandale der letzten Jahre aufdrängenden Frage: „Wem können wir vertrauen?“ Er rät dazu, sich weder von Rhetorik noch von Ansehen beeindrucken zu lassen, Vertrauen angemessen zu dosieren und prozessorientiert anstatt personenorientiert zu handeln. Entscheidend für den persönlichen Schutz sind klare Grenzen und das Vertrauen in das eigene Bauchgefühl.

Falldarstellungen

Spiritueller Missbrauch bezeichnet finanziellen, sexuellen oder psychologischen Missbrauch der Religion auf verschiedenen Ebenen: in der Familie, in der Ehe oder der Community. Besonders beunruhigend sind Fälle, in denen Personen mit religiöser Autorität – ob als Imam, Seelsorger, Dozent, Vorstandsvorsitzender oder Theologe – diese Autorität und das Vertrauen missbrauchen, das die Gemeinschaft in sie setzt. Im Bereich „Falldarstellungen“ werden wir kurze Darstellungen einiger Fälle spirituellen Missbrauchs aufzeigen, die uns in den letzten Jahren erreicht haben.

Youtube Videos

Neben diesen allgemeinen Artikeln zum spirituellen Missbrauch finden Sie auf unserem Youtube Kanal insgesamt sechs Videos, die sich mit dem Themenkomplex Spiritueller Missbrauch beschäftigen. Hier geht es zum ersten Video:

Weitere Ressourcen

Während dieses Projekt wächst, möchten wir auch auf verschiedene Internetauftritte aufmerksam machen:

In Shaykh’s Clothing

In Shaykh’s Clothing ist eine Website von Danish Qasim, der seit 10 Jahren Opfer spirituellen Missbrauchs berät, und Danya Shakfeh, einer Anwältin, die sich mit spirituellem Missbrauch aus rechtlicher und institutioneller Perspektive befasst. In Shaykh’s Clothing thematisiert spirituellen Missbrauch durch religiöse Autoritätspersonen, wie Imame, Shaykh(a)s und LehrerInnen.

Ziel der Seite ist es, „unsere Gemeinschaft zu bilden und sie mit dem praktischen Ressourcen auszustatten, um Missbrauch zu erkennen und dagegen vorzugehen. Manche wollen diese Offenlegung nutzen, um Islamfeindlichkeit anzuheizen, ihre eigenen Karrieren voranzubringen oder islamische Gelehrte und Institutionen als Ganzes in Misskredit zu bringen. Unsere Position ist, dass unsere islamischen Institutionen und Gelehrten wertvoll und notwendig sind und respektiert werden müssen, wir aber keinen Missbrauch tolerieren sollten. Wenn verantwortliche religiöse Führungspersönlichkeiten ihre Macht für persönliche Ziele einsetzen, schadet dies sowohl den Opfern als auch ihrer Rolle als Gelehrte. Wir wollen sowohl die Gemeinschaft als Ganzes schützen und die Rollen unserer Leiter und Gelehrten […]. Wir haben sechs Jahre damit verbracht, Geschichten von spirituellem Missbrauch anzuhören, zu dokumentieren und zu bestätigen und Experten auf diesem Gebiet zu konsultieren. Dies ist ein unabhängiges Projekt, um unsere Gemeinschaft vor dem Missbrauch religiöser Autorität zu schützen, sie zu bilden und zu empowern.“ (https://inshaykhsclothing.com/about/)

Folgende Definition von spirituellem Missbrauch ist die Arbeitsgrundlage von In Shaykh‘s Clothing:

„Spiritueller Missbrauch ist der Missbrauch einer religiösen Position. Spiritueller Missbrauch ist eine eigene allgemeine Kategorie von Verfehlungen, die andere spezifische Verfehlungen beinhaltet, wie z.B. Unterschlagung finanzieller Mittel, heimliche Ehen, Mobbing, sexuelle Übergriffe, Belästigung, Ausbeutung, Manipulation und psychologische Verletzung. Es macht daher keinen Sinn zu sagen: „John hat Jason spirituell missbraucht“ oder „John hat sich des spirituellen Missbrauchs schuldig gemacht“, denn ’spiritueller Missbrauch‘ ist keine spezifische Handlung.

Wir müssen genau sein, wenn wir über spezifische Fälle sprechen, wenn wir jedoch über das Thema allgemein sprechen, ist dies nicht erforderlich. Wie die islamischen Rechtsgelehrten sagen: La maschahata fi l-istilaah, d.h. über Fachbegriffe kann man sich uneinig sein.

Unser primärer Fokus liegt auf dem Missbrauch der Religion durch diejenigen, die sich in religiösen Positionen befinden.

Die meisten unserer Szenarien enthalten diese Elemente:

– 1) Das Nutzen religiöser Autorität 2) für persönliche Ziele (auch dann, wenn niemand geschädigt wird).

– 1) Das Nutzen religiöser Autorität 2) mit einem dieser Autorität unterliegenden versteckten Ziel oder Motiv.

– 1) Nutzen religiöser Autorität 2) um andere zu mobben, schikanieren, manipulieren oder kontrollieren.

– 1) Die Verletzung von Rechtsansprüchen anderer Personen 2) im Kontext einer religiösen Rolle.

Damit sind der Missbrauch religiöser Konzepte oder Schriften in Paarbeziehungen und Freundschaften ausgeschlossen. Dies ist ein praktischer Ausschluss zum Zweck unserer Arbeit, beides fällt jedoch unter die Kategorie des spirituellen Missbrauchs. […]

Wir haben uns für ’spiritueller Missbrauch‘ als Begriff entschieden, um den uralten religiösen Missbrauch zu bezeichnen, weil dieser Begriff bereits etabliert ist. Er beinhaltet Konzepte wie talab ad-dunya bi d-din, durch die Religion nach der Welt streben, Scharlatane, Dajjals und Verbrecher und hilft, ihre Tricks zu erkennen. Die Verwendung des umfassenden Begriffs ‚spiritueller Missbrauch‘ dient einem praktischen Nutzen für die Menschen, die Hilfe suchen. Die meisten Muslime kennen die traditionellen Konzepte, nach denen sie suchen könnten, nicht, sondern wissen nur, dass sie einen spirituellen Missbrauch erleben und Hilfe brauchen. Ich habe viele Anfragen von Leuten erhalten, die nach ‚islamischer spiritueller Missbrauch‘ suchten und In Shaykh’s Clothing fanden.“

Hurma

Hurma Project wurde von Prof. Dr. Ingrid Mattson gegründet und wird von ihr und Mihad Fahmy geleitet. Prof. Mattson ist Inhaberin des London and Windsor Community Chair in Islamic Studies an der Western University in London, Canada; Mihad Fahmy ist Rechtsanwältin im Bereich Menschenrechte und Arbeitsrecht. Das Projekt forscht zum Phänomen des spirituellen Missbrauchs und bemüht sich um die Verbreitung der Forschungsergebnisse in der muslimischen Community u.a. über den Weg der sozialen Medien (Instagram: @hurma.project, Hurma Project Podcast: https://hurmaproject.com/podcast/)

Hurma ist ein arabisches Wort und ein prophetischer Ausdruck, der „Unverletzbarkeit“ bezeichnet. Im islamischen Recht wird Hurma vor allem verwendet, um die Unverletzbarkeit des Körpers zu benennen. Der Prophet Muhammad, Friede und Segen seien auf ihm, sagte seinen Gefährten, dass jede Person der Gemeinschaft die gleichen unverletzbaren Rechte hat wie die heiligen Stätten und die heiligen Monate und Tage. Vor diesem Hintergrund formuliert das Hurma Projekt sein Ziel: „Unser Ziel ist es, die Implikationen dieser prophetischen Worte wirklich zu verstehen – in unserer Community und in unserer Zeit, in der wir mit schwerem Missbrauch und Anschuldigungen des Missbrauchs verletzlicher Personen in unseren muslimischen Räumen konfrontiert sind.“

2020 veranstaltete The Hurma Project eine internationale Forschungskonferenz zum Thema spiritueller Missbrauch. Die Ergebnisse werden der Allgemeinheit in Form von Artikeln und Podcasts zugänglich gemacht. Prof. Ingrid Mattson und Mihad Fahmy sprechen mit Psychiatern, Imamen, Therapeutinnen und Seelsorgern über die verschiedenen Facetten des Themas des spirituellen Missbrauchs und behandeln Fragen wie: Was ist spiritueller Missbrauch? Welche Auswirkungen hat er? Wie kann man sich davor schützen? Wie kann man gesunde Grenzen entwickeln? Was müssen Personen, die als Imame und Seelsorger Menschen betreuen, beachten? U.v.m.

Da Opfer spirituellen Missbrauchs sich in den allermeisten Fällen in der Suche nach Unterstützung zuerst an Familie und Freunde wenden, ist die Kenntnis über diese Thematik für alle Mitglieder der muslimischen Community von Bedeutung.