Aus der Schatzkiste. Die Wenigsten wissen, dass die IASE seit den 1980er Jahren existiert. Wir haben alte Tagungsbeiträge ausgesucht, um sie wöchentlich hier zu posten. Viel Vergnügen beim Lesen.


Gewalt in der Praxis der Beratung

Kesmat Gössinger

Nach dem Theorieschwerpunkt des letzten Arbeitstreffens möchte das Thema heute aus praktischer Sicht angehen. Ich selbst habe viel zu tun mit Klienten aus islamisch-arabischen Ländern, zumeist arabisch sprechend. Ich habe drei Fälle aus meiner Praxis ausgewählt, die alle mit Gewalt zu tun ha­ben, und zwar in ganz unterschiedlichen, jedoch typischen Formen.

Mein größtes Problem in der Begegnung mit solchen Fällen ist, dass ich manchmal islamischen Fami­lien begegne, deren gesamtes Handeln nur sehr wenig islamisch ist. Ich bin dann oft hilflos und frage mich, ob ich die Menschen etwa umerziehen soll oder die ganzen Therapiesitzungen damit zu verbringen, zu zei­gen, was islamisch und was nicht. Doch ich denke, dass unsere therapeutische Aufgabe auf einer ande­re Ebene liegt.

Die ganze Sache ist äußerst komplex. Begegne ich einem Vater, der seine Tochter gegen ihren Willen verheiraten will, mit dem Hinweis auf einen Hadith und der Tatsache, dass das nicht ethisch ist, so kommt er mir mit anderen Hadithen und Texten, die sein Verhalten rechtfertigen. Und dann stecken wir in einem Streitgespräch von Meinungen und Glaubenssätzen. Ich sage mir irgendwann, das ist doch keine Therapie, was ich hier mache. Ich denke, dass viele von Euch, die in diesem Bereich arbei­ten, diese Situationen aus eigener Erfahrung kennen.

Weiterhin stellt sich mir die Frage, was eine islamische Familie überhaupt ist. Eine Definition ist auch bei Rückgriff auf die Quellen schwierig, denn ich habe immer auch mein Verständnis eines islami­schen Familiensystems im Kopf. Ebenso geht es den anderen. Jeder Klient hat seine eigene Geschich­te, seine persönliche, seine ethnische, seine geographische Geschichte, und überall wird die Familie etwas anders definiert. Wir sind alles Individuen, die eine einheitliche Theorie leben wollen und diese dennoch alle einzeln prägen.

Wenn ich also über die islamische Familie etwas sage, dann habe ich meine Vorstellung davon im Kopf, meine Vorstellung als eine in Kairo geborene und aufgewachsene Ägypterin.

In allen drei folgenden Fällen wird ein Machtmißbrauch deutlich. Im ersten Fall geschieht der Miß­brauch durch einen Mann, im zweiten Fall durch jemanden mit einer Autorität in einer Gemeinde und im dritten Fall durch eine ganze Familie.

Mein erstes Beispiel handelt von einem 20-jährigen Mädchen, das im 4. Monat schwanger zu mir in die Beratungsstelle kam. Die Eltern des Mädchens stammen aus Syrien, sie selbst ist hier in Deutsch­land geboren und in einer islamischen Familie aufgewachsen. Sie war auf einer deutschen Schule, und in ihrem Kopf war sie eine Mischung aus der islamischen Familie und dem deutschen Einfluß, den sie aus der Schule erhalten hat. Sie sagte mit Tränen in den Augen, dass sie nicht mehr wisse, was sie ma­chen solle. Die Ehe, in der sie lebe, sei eine falsche Entscheidung gewesen.

Der Ehemann der Frau war erst mit 22 Jahren nach Deutschland gekommen, mit einer Identität als Syrer, einer Sozialisation als Araber. Die Frau hatte bei der ersten Begegnung mit ihm über ihre Vor­stellungen einer Ehe gesprochen und dabei sehr den partnerschaftlichen Umgang miteinander betont. Anfangs war er einverstanden und einer Meinung mit ihr. In den ersten drei, vier Monaten nach der

Eheschließung war die Ehe perfekt, dann jedoch bemerkte die Frau täglich ein Stück Veränderung in seinem Verhalten. Schließlich eskalierte die Sache so, dass sie mit ihm kaum noch sprechen konnte. Er sei der Mann, er entscheide, sie müsse gehorchen. Er war sehr eifersüchtig auf ihren Vorsprung in der hiesigen Gesellschaft. Wenn dieser in bestimmten Situationen deutlich wurde, wurde er sehr gewalttä­tig, schlug sie und verbot ihr, in seiner Gegenwart anderen gegenüber ihre Meinung zu äußern. Oft holte er seine in Deutschland lebende Familie, Tanten und Schwestern dazu, die in einer Art Tribunal über sie zu Gericht saßen und stets auf seiner Seite gegen die Frau standen, die immer kleiner und kleiner wurde und ihre ganzen Vorstellungen von Partnerschaft zerstört sah.

Soweit die Situation. Sollte ich ihr sagen, dass das Verhalten des Mannes nicht islamisch sei? Was bringt das, wenn man bedenkt, dass der Mann es so gelernt hat und sich in dieser Phase seiner persönli­chen Entwicklung nicht anders verhalten kann? Ich habe verlangt, dass er mit seiner Frau zusammen in die Beratung kommt, er lehnte es ab, seine Probleme mit einer Fremden zu lösen, er haben seine Schwestern und Tanten. Sie kam stets alleine, weinte immer, ein paar Monate nach dem ersten Kind war sie wieder schwanger. Es war nicht klar, warum sie ihre Probleme mit einer weiteren Schwanger­schaft noch verschärfte, doch dann zeigte sich, dass sie im Gegensatz zu ihrer anfänglichen Lebendig­keit teilweise in erhebliche Apathie verfallen war. Sie fragte sich ständig, wie das, was sie als unisla­misch erkannte, ihm vermitteln könne. Der Mann selbst war anders sozialisiert, er sah seine Eltern ähnlich kommunizieren und hielt das für islamisch. Er selbst war in einer gewissen Weise ein Opfer.

Wie gehen wir als Therapeuten und Berater mit solchen Situationen um?

Mein zweiter Fall zeigt ein besonderes Problem der Vernetzung von Hilfsangeboten. Ich dachte, es sei ideal, wenn jemand in die Moschee geht und zu mir kommt. Der Imam und ich könnten vielleicht zu­sammenarbeiten und parallel etwas erreichen. In der Realität ist das allerdings nie passiert.

Eine deutsche Erzieherin kam sehr verzweifelt zu mir, da sie ein Kind im Kindergarten hatte, mit dem sie nicht umgehen konnte. Das Kind spielte nicht mit anderen Kindern, ging mittags nicht essen ob­wohl es ganztags angemeldet war, es saß die ganz Zeit in einer Ecke und machte gar nichts, wirkte apathisch. Gelegentlich ging es zu einer bestimmten Erzieherin, setzte sich auf ihre Schoß und sagte:

„Weißt du, ich mag dich sehr, aber du gehst in die Hölle, weil du eine Kafira und nicht verschleiert bist.“ Die Frau wußte natürlich nicht, was eine Kafira ist, sie erschrak, da sie so etwas nie von einem 7-jährigen Kind gehört hatte. Das Kind sagte daraufhin, dass es sich bemühe, ein guter Muslim zu sein, und weil es die Erzieherin liebe, wolle es sie jetzt leiten, den richtigen Weg zu gehen, genau wie es ihr Vater als Imam einer Moschee tue.

Es stellte sich heraus, dass ich den Vater des Kindes aus den Berichten verschiedener Klienten kannte. Eine litt unter nächtlichen Angststörungen, war zu ihm gegangen, er befreite sie mit Hilfe von Koran­lektüre von ihren Problemen. In anderen Fällen handelte es sich um Familienprobleme, ein Kind war ausgerissen etc. und immer war dieser Mann beteiligt. Seine Interventionen haben eine Zeitlang funk­tioniert, doch irgendwann landeten die Klienten dann doch bei uns. Die Familien bemerkten, dass wir doch mehr in der Realität verankert waren, im Kontakt standen mit den Schulen, den Kindergärten und eine Menge praktische Hilfe leisten konnten. Ich denke in diesem Zusammenhang, dass die Lektüre des Koran sicherlich einen positiven Effekt hat, jedoch löst sie nicht automatisch die alltäglichen Proble­me, die das Kind mit seinen Eltern und Lehrern etc. hat. Wir dürfen nicht halt machen auf der Ebene der islamischen Mittel i.e.S., sondern müssen die Angebote verknüpfen.

Mein Problem war, dass ich mit dem Mann, der seine islamische Ausbildung in Al Azhar genossen hatte, nicht reden konnte, da er mich in keiner Weise akzeptierte. Er kam nicht zu mir, weil ich kein Kopftuch trage. Ich habe mit ihm telefoniert und versucht, mit ihm zusammen eine Lösung für seinen Sohn zu finden, da die Erzieherinnen nahe daran waren, zum Jugendamt zu gehen, weil sie annahmen, dass das Kind gefährdet sei. Sie hatten die Eltern eingeladen, der Vater kam allein, da die Mutter kein Deutsch konnte und sagte im Gespräch, dass er sehr stolz auf seinen Sohn sei, wenn er sich so beneh­me. Er sei froh, dass sein Sohn nicht mit den anderen spiele, sie nicht zu seinem Glauben gehören.

Der Widerspruch ist offensichtlich: der Vater, der nicht will, dass sein Kind Kontakt mit anderen Nichtmuslimen hat, schickt es in eine solche Einrichtung. Warum lebt der Mann mit seiner Familie in einem Land, von dessen Kultur und Identität er sich so bedroht fühlt? Warum geht er nicht weg, wenn hier alles so schlecht ist? In eine Kultur, die seine Identität nicht bedroht?

Ich war als Beraterin in einer schwierigen Situation. Einerseits war der Mann Imam einer großen Ge­meinde in Frankfurt. In diese Gemeinde gehen viele Muslime, die auch zu mir kommen. Sie haben sehr viel Respekt vor ihm und glauben sehr an seine Interventionen, die ja auch oft helfen. Für mich jedoch mit einem großen „aber“: sie helfen momentan und für eine bestimmte Zeit. Insgesamt jedoch bleiben die Probleme unverändert. Was also tun? Ich kann meinen Klienten nicht sagen, dass ich mit ihm nichts zu tun haben möchte, da er einen großen Einfluß auf sie hat. Ich kann auch nicht zu meinen Klienten sagen, sie sollen nicht zur Moschee gehen oder sie vor dem Imam warnen, dass seine Inter­ventionen keine nachhaltige Wirkung auf ihre Probleme habe.

Ich hatte ein Gefühl der Lähmung: Ich ließ sie einfach gehen, in die Moschee und zu mir. Ich konnte sie bis zu einem bestimmten Punkt beraten, den Rest überließ ich Allah, dennoch war ich frustriert.

Die Situation ist immer noch offen, ich habe mich zurückgezogen, als die Erzieherinnen forderten, ich solle mit dieser Familie reden. Sie waren enttäuscht und fragten, was wir denn als Beratungsstelle machten, doch ich denke, hier setzt der Elternwille wie bei jeder deutschen Familie einfach Grenzen. Ich habe mich zurückgezogen, als die Reaktion des Imam kam: „Ach ja, sie sind die Frau Psychologin. Wir kümmern uns um unsere eigenen Probleme. Halten sie sich da bitte heraus.“

Darüber hinaus habe ich allerdings die Erfahrung gemacht, dass eine Zusammenarbeit durchaus mög­lich ist, wie im Falle eines türkischen Imams. Ich denke, dass hier die Persönlichkeitsstruktur des ein­zelnen Menschen eine große Rolle spielt.

Im dritten Fall wurde ich von einem Frauenhaus wegen einer jungen Palästinenserin aus dem Libanon angerufen, die sich dort befand und kein Wort Deutsch sprach. Sie erzählte mir, dass sie vor drei Jahren geheiratet hatte. Einmal, um eine Familie zu gründen und zweitens, um ihrer schwierigen Situation im Elternhaus zu entgehen. So erschien ihr der junge Mann mit dem deutschen Paß wie ein Tor zum Himmel. Zu Beginn der Ehe war die Welt in Ordnung, er verwöhnte sie, sagte zu, dass sie deutsch lernen könne, wozu es allerdings nie kam, da er immer wieder Geldprobleme angab. Langsam bekam die Frau das Gefühl, von allem ferngehalten zu werden. Sie durfte keinen Schritt ohne die Erlaubnis der Schwiegermutter tun, die in der Wohnung gegenüber wohnte. Die Schwiegermutter kontrollierte wirklich nahezu jeden Schritt, vom Zeitpunkt des Aufstehens bis zum Abend. Nach der Geburt des ersten Kindes war dieses sofort in die Obhut der Schwiegermutter genommen worden, die der 20-jährigen Frau erklärte, dass sie nicht in der Lage sei, Kinder zu erziehen. Sie sei aus Mitleid aus der Armut ihrer Familie gerettet worden und hätte keinerlei Ansprüche zu stellen.

Als die Frau eines Tages ein Glas zerbrochen hatte, holte der Mann wie schon oft zuvor seinc Familie, die in einer Art Tribunal über die Frau zu Gericht saß und ihr verbal massiv zusetzte. Sie forderten sie auf, heute noch nach dem Libanon zu gehen, dass Kind bleibe allerdings in der Familie. Die Klientin reagierte mit einem hysterischen Schreianfall, worauf die deutschen Nachbarn die Polizei holten, die die Frau ins Frauenhaus brachte. Das Kind blieb erst bei der Schwiegermutter, bis ein Richter das Sor­gerecht der Mutter übertrug.

Auch in diesem Beispiel wird der Mißbrauch von Macht deutlich. Der eine hat das Geld, das Wissen, der andere eben nicht. Und wenn in dieser Situation keine Ethik vorhanden ist, eskaliert sie. Die Frau bekam schließlich Hilfe vom Frauenhaus in Form von Geld, sie bekam ihr Kind zurück. Sie wollte sich nicht scheiden lassen konnte, sondern ihren Beitrag zur Wiederherstellung der Familie leisten und fragte mich, ob ich mit ihrem Mann reden könne. Bedingung sei allerdings, dass die Schwiegermutter eine größere Distanz einhalte. Die Familie konnte nicht glauben, dass dieses zwanzigjährige Mädchen in der Lage war, so viele Leute zu mobilisieren, war in ihrem Stolz sehr verletzt und blockierte jede Hilfe und jedes Gespräch auch mit mir. Sie solle das Kind behalten und aus ihrem Leben verschwin­den. Zur Zeit befindet sich dieses Mädchen in einem Frauenhaus, sie kann nicht zurück, da das Kind deutsch ist und sie sich Zuhause in einer schwierigen politischen Situation befände. Das Beste für sie wäre, in unserem deutschen Umfeld weiter zu leben.