Aus der Schatzkiste. Die Wenigsten wissen, dass die IASE seit den 1980er Jahren existiert. Wir haben alte Tagungsbeiträge ausgesucht, um sie wöchentlich hier zu posten. Viel Vergnügen beim Lesen.


Gewalt in islamischen Familien – Erfahrungen aus der therapeutischen Praxis

Maria Zepter

Gewalt ist definiert als die Ausübung von psychischem und physischem Zwang zur Durchsetzung von Machtinteressen. Sie kann in Beziehungs-, familiären, strukturellen, politischen und kriegsbezogenen Kontexten entstehen.

Der Täter ist real oder scheinbar in einer überlegenen Machtposition, aus der heraus er unberechtigt und gegen den Willen des unterlegenen, schwächeren, abhängigen Opfers diesem körperlichen oder seelischen Schaden zufügt. Bei Erfahrungen von körperlicher Mißhandlung, Folter oder sexueller Gewalt nimmt das Opfer immer auch Schaden an seiner Seele. Wie dauerhaft und tiefgreifend dieser Schaden wirkt, ist individuell unterschiedlich und hängt von verschiedenen Faktoren ab. Je näher der Täter im Verwandtschaftsverhältnis oder Vertrauensverhältnis zu dem Opfer steht und je komorbider die biographischen Vorerfahrungen des Opfers sind, desto schädigender ist der Gewalteinfluß. Gleiches gilt für erschwerende situative Faktoren wie z.B. fehlende oder zu späte Hilfe. Gewalttaten größeren Ausmaßes werden oft als Traumata erlebt.

Ein Trauma ist ein Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung, die außerhalb der menschlichen Verarbeitung liegt und eine Überflutung des normalen Reizverarbeitungssystems darstellt. Traumatische Erlebnisse sind gekennzeichnet durch das Erleben extremer Angst und Hilflosigkeit sowie der Erfahrung, dass Handeln keinen Sinn macht. Weder Angriff noch Flucht sind möglich. Nicht in allen, doch in vielen Fällen kann die Gewalterfahrung zum Krankheitsbild einer sog. „Posttraumatischen Belastungsstörung“ (PTSD) führen. Nach der ICD 10[1] (F 43.1) beinhaltet sie Symptome wie häufiges Nacherleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen oder in Träumen, emotionaler Stumpfheit, Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Angst, Depressionen, Gefühlen von Sinnlosigkeit, ständige Alarmbereitschaft, innere Unruhe, gelegentliche Ausbrüche von Panik und Aggression, selbstdestruktives Verhalten, Vermeidungsverhalten und Psychosomatisierung. Wenn die PTSD nicht abklingt, sondern unverändert mit ihren Symptomen bestehen bleibt, kann es zu einer chronischen Veränderung der Persönlichkeit des Gewaltopfers kommen. Bei sexuellen Gewalterfahrungen in der Kindheit entstehen zusammen mit anderen Faktoren häufig sog. Borderline-Erkrankun-gen.

Wir alle haben in unserer Arbeit wahrscheinlich schon oft mit Opfern von Gewalt oder Überlebenden von Gewalterfahrungen zu tun gehabt. Opfer sind meist Frauen und Kinder, der Tatort häufig die Familie. Auch in islamischen Familien kommt es zu körperlichen, psychischen und sexuellen Grenzüberschreitungen und Gewalttaten.

Wenn wir von muslimischen Familien oder Muslimen sprechen, meine ich damit:

  • Muslime, die den Islam aus Überzeugung und in Befolgung von Gottes Geboten, also nach Koran und Sunna leben.
  • Muslime, die sich als solche definieren und einige Aspekte der islamischen Lebensweise praktizieren, andere jedoch vernachlässigen.
  • Gebürtige Muslime, die sich von ihrer Religion distanzieren und explizit abwenden

In vielen muslimischen Gemeinden wie auch in den Moscheen sind Themen wie Gewalt in der Familie und vor allem sexuelle Gewalt stark tabuisiert. Auch die muslimischen Frauen sprechen nicht darüber. Selbst wenn das Geschehen ziemlich offenkundig ist, wird weggeschaut und eine ursprünglich gute islamische Eigenschaft, die Nichteinmischung in die Privatgelegenheiten anderer bzw. das Zudecken der Fehler der Geschwister, falsch verstanden und mißbräuchlich angewandt.

Wir dürfen hier nichts beschönigen: Gewalttätigkeit gegenüber Frauen und Kindern besteht nicht nur aus körperlicher Gewalt, sondern beginnt bereits bei rigide angewandten Rollenzwängen, Zwang zu sexueller Verfügbarkeit und Ausbeutung von Emotionalität. Wer nicht darauf hinweist, dass der bekannte „Züchtigungsvers“ („Und jene, deren Widerspenstigkeit ihr befürchtet: ermahnt sie, meidet sie im Ehebett und schlagt sie! Wenn sie euch dann gehorchen, so sucht gegen sie keine Ausrede.“[2]) nur im Falle von „Nuschuz“ gilt, und wer nicht darauf hinweist, dass das sog. „Züchtigen“ nur ein „nicht schmerzender Schlag“ mit einem Gegenstand wie z.B. einer kleinen Zahnbürste sein darf, gehört in die Sympathisantenszene islamischer, frauenverachtender Gewalttäter. Dasselbe gilt für diejenigen, die das Schlagen auf den Kopf, das Treten mit den Füßen und das Mißhandeln aus dem Affekt heraus für eine gute Erziehungsmethode halten. Psychische Gewalt beginnt bereits dort, wo Frauen ausgegrenzt, vornehmlich zu Hause gehalten oder gar eingesperrt werden, wo die Freiheit der Bildungswahl eingeschränkt ist und der Frau sonstige normale Freiheiten genommen werden. Sie beginnt auch dort, wo Väter und Ehemänner als Despoten und „Machos“ auftreten und den Frauen und Kindern eine liebevolle Zuwendung vorenthalten.

Wie Gewalt entsteht

Eine ausführliche Darstellung der psychologischen oder soziologischen Theorien würden den Rahmen dieses Vortrages sprengen. Je nach Anschauung werden entweder

  • die (böse) menschliche Natur,
  • soziale Gegebenheiten (Armut, Randständigkeit),
  • Krankheiten
  • Entwurzelungs- und Immigrationsphänomene
  • wirtschaftliche Bedingungen,
  • bestimmte negative Lernerfahrungen (z.B. häufiger Verlust von Bezugspersonen bei Kindern, die zwischen der Türkei und Deutschland pendeln) oder
  • die Medien

verantwortlich gemacht.

Gewalt kann als eine Folge unangemessener Konfliktlösung beschrieben werden, wobei der Täter den Konflikt nicht nach gesellschaftlich akzeptierten und/oder religiös vorgegebenen Normen lösen kann. Gewalt entsteht da, wo Konflikte kein anderes Ventil (wie z.B. Rückzug oder verbales Austragen) mehr haben. Psychische Erkrankungen, aus der Kindheit resultierende individuelle Störungen wie auch systemische Verstrickungen spielen eine Rolle. Gewalttäter, so die Erkenntnis der Familientherapeuten, waren selbst immer auch Opfer von Gewalttaten in ihrer Kindheit (manche sprechen hier von 100%). Diese Tatsache mindert zwar in keiner Weise Schuld und Verantwortung des Täters, schafft jedoch eine andere Perspektive. „Keiner trage des anderen Last“[3] kann in diesem Zusammenhang auch so verstanden werden, dass jeder seine eigenen Konflikte oder seine „Opfer-Last“ bearbeiten kann und soll, um diese nicht systemisch an seine die Kinder und Nachkommen weiterzugeben.   Ideologien, religiöse Fanatismen und nationale Einstellungen sind oft ebenso der Nährboden für Gewalt wie gesellschaftliche Tabuisierungen (z.B. die Ausgrenzung des Themas sexuellen Mißbrauchs) oder das Tolerieren von sexueller Gewalt im Krieg als Belohnung. Judith Herman (1994) spricht in ihrem Standardwerk „Narben der Gewalt“ von periodisch wiederkehrenden Amnesien, die sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene funktionieren, wenn es um Themen wie sexuelle Gewalt oder andere traumatische Erfahrungen geht.

Eine meiner tiefsten Erkenntnisse und Erfahrungen aus der Arbeit mit bosnischen Überlebenden von Massakern und Todeslagern ist die Einsicht, dass jeder Mensch die Fähigkeit zu Gutem und Bösen in sich hat. „Der Mensch ist ein Abgrund“ war häufig meine einzige innere Antwort, die ich finden konnte angesichts der schrecklichen Greueltaten. Erschreckend aber wahr ist es in diesem Zusammenhang aber auch, dass jeder in bestimmten Situationen zum Täter werden kann.

Einige Empfehlungen für den Umgang mit Gewaltopfern in Beratung und Therapie

Allgemein in der Beratung ist es hilfreich

  • das Gewaltopfer spüren zu lassen, dass es voll angenommen wird,
  • ihm Glauben zu schenken, aber auch diagnostisch kritisch zu sein, z.B. im Fall von Borderline-Erkrankungen,
  • für Sicherheit des Opfers zu sorgen (Täter ausschalten, Anzeige, Herausnahme des Opfers aus der Gewaltsituation, Weggehen unterstützen)
  • innere Kräfte, die das Überleben ermöglicht haben, aufzuzeigen und zu stärken,
  • rationalen Zugang zu schaffen, d.h. bei Traumatisierungen und PTSD erklären, dass die Symptome ganz normale Reaktion auf unnormale Gegebenheiten sind.

In der Therapie ist es wichtig,

  • ein Vertrauensverhältnis und eine gute Beziehung aufzubauen, so dass es möglich wird, Zugang zu den verdrängten Emotionen (Schmerz, Angst, Trauer, Hilflosigkeit, Wut, Haß) zu schaffen,
  • die Gewalterfahrung bzw. das Trauma zu bearbeiten und in die individuelle Biographie oder die Familiengeschichte zu integrieren (Vorsicht bei PTSD: bloßes Erzählen lassen führt oft zum „Antriggern“),
  • dem Täter die volle Schuld wie auch dem Mittäter (z.B. bei Mißbrauch der Mutter) die Teilschuld zu geben. Auch im islamischen Sinne muß der Täter zuerst angeklagt werden (auch innerlich) und erst dann kann das Opfer von der „Rache“ bzw. Vergeltung absehen und mit Barmherzigkeit reagieren, d.h. auch in sich wieder Ruhe und Frieden finden. Ein voreiliges, falsch verstandenes Verzeihen ist hier unangebracht und schädlich,
  • sich als Therapeut wieder von der Ankläger- und Richterposition lösen, in die man vielleicht zu Beginn der Therapie hineingeraten ist,
  • die letztendliche Gerechtigkeit bei Gott belassen,
  • sich der Barmherzigkeit Gottes erinnern.

Zur Entlastung der Berater und Therapeuten muß erwähnt werden, dass nicht alle Bemühungen und In-tentionen bei allen Patienten gelingen. Sich der Grenzen, vor allem auch der eigenen, bewußt zu bleiben ist wichtig für jeden, der mit Opfern und Überlebenden von Gewalt zu tun hat.

Einige persönliche Erfahrungen aus meiner Arbeit

Die folgenden Ausführungen stellen keine allgemeingültigen Aussagen dar, sondern basieren in erster Linie auf der persönlichen Erfahrung vieler Jahre therapeutischer Arbeit mit Muslimen in meiner Praxis, als Leiterin der Psychologischen Beratungsstelle für Muslime und ihre deutschen Angehörigen in München sowie als Leiterin des Projekts „Frauen aus Omarska“, einem psychosozialen Projekt mit Überlebenden des serbischen Todeslagers Omarska.

  • Familiäre Gewalt scheint sich unter nach Deutschland gekommener Orientalen bestimmter Länder wie z.B. Marokko, Tunesien, Ägypten häufiger zu finden als bei anderen.
  • Ehen mit Asylbewerbern entwickeln sich oft problematisch und sind von Gewalt gefärbt, da hier häufig Entwurzelungsphänomene und Bindungsstörungen vorliegen. Häufige Gewalttaten zeigen auch bei den stark national orientierten und eher wenig ihren Glauben Praktizierenden wie auch bei den sog. islamistischen, blind-fanatischen Muslimen.
  • Gewalttätigkeiten der verschiedensten Art finden sich unter den Folgen der Migration, insbesondere auch bei türkischen Jugendlichen.
  • Gewalt im Zusammenhang mit rigiden islamistischen Strukturen hat oft zur Folge, dass ein Kind für die nicht stattgefundene Integration in der Familie „geopfert“ wird, sozusagen diesen „deutschen“ Teil extrem vertritt und so an irgendeine „Szene“ (z.B. Drogenszene) verlorengeht.
  • Viele, vor allem türkische Frauen berichten häufig von sexueller Gewalt, die sie in Form von erzwungenen (und im Islam verbotenen) Analverkehrs gegen ihren Willen erdulden müssen.
  • Türkischen Mädchen erleben häufig sexuelle Grenzüberschreitungen durch Verwandte und Nachbarn in der türkischen Heimat, wohin sie der besorgte Vater gerade zum Schutz und Erhalt der Jungfernschaft gebracht hatte. Folgen davon zeigen sich häufig im Vorfeld der Hochzeitsvorbereitungen in Form von Panikattacken und Angstanfällen und sind dann ein Grund für die Aufnahme eine Psychotherapie.

Insgesamt ist der Anteil körperlicher, psychischer und sexueller Gewalt in muslimischen Familien zwar geringer als von manchen Medien und Statistiken dargestellt, jedoch weitaus höher als in der islamischen Gesellschaft angenommen und zugelassen wird.

Einige Verhaltensregeln, die hilfreich für die Arbeit mit Traumatisierten sind 

  • Sich auf die Seite der Opfer stellen,
  • Eindeutig Position beziehen gegen Täter und Gewalttat,
  • Sicherheit schaffen (äußere und innere Sicherheit),
  • Alle Gefühle der Opfer zulassen und bearbeiten, aber als Therapeut nicht selbst Anklage und Haß gegen den Täter übernehmen. Das verhindert das Durcharbeiten der Problematik beim Patienten,
  • kann dem Therapeuten schaden und steht ihm letzen Endes auch nicht zu.
  • die innere Haltung einnehmen, dass ein sexueller Mißbrauch oder eine schlimme Gewalterfahrung zwar ein weitreichendes Ereignis mit Symptomfolgen sein kann, aber die Seele nicht für
  • immer schädigen muß.
  • Die Integration des Traumas gelingt leichter, wenn ein religiöser Glaube vorhanden ist und gelebt wird. Das kann der Therapeut einfühlsam nutzen und sich dabei auf Erfahrungen und vielfältige Untersuchungen beziehen.

Literatur:

Herman, Judith Lewis, Narben der Gewalt. Traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden. München: Kindler 1994.

Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme 10. Revision, München, Wien, Baltimore: Urban & Schwarzenberg 1998.

[1] Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme 10. Revision, München, Wien, Baltimore: Urban & Schwarzenberg 1994.

[2] Koran 4:34

[3] Koran 35:18