Neue Wege für existierendes Wissen: Der Beitrag einer islamischen Psychologie zum Verständnis der menschlichen Natur

Paul M. Kaplick, Emine Balci-Sentürk & Ibrahim Rüschoff

Als um die Jahrhundertwende die International Association of Muslim Psychologists gegründet wurde, konnte man auf internationalem Boden nur wenig mit dem Begriff einer islamischen Psychologie anfangen. Psychologen sowohl im arabischen und asiatischen Raum als auch in westlichen Ländern befanden sich teilweise noch in einem Zustand der Identitätsbestimmung gegenüber der gegenwärtigen wissenschaftlichen Psychologie, die sich angeblich den spirituellen, metaphysischen und volitonalen Aspekten des Menschen verweigerte (Kaplick & Rüschoff, 2018). Während der letzten beiden Jahrzehnte haben sich die internationalen Gespräche unter muslimischen Psychologen jedoch weiterentwickelt, und so ist nun ein rapide wachsendes Interesse am Islamischen einer Psychologie zu beobachten – in welcher Form sich dies auch gestalten mag.

Die erste Konferenz der im Juli 2018 gegründeten International Association of Islamic Psychology (IAIP) bediente nun Ende Oktober 2018 dieses Interesse einer neuen Generation muslimischer Psychologen. Die Aufgabe der IAIP besteht in der Findung neuer Wege, bestehendes Wissen einzusetzen: Die gegenwärtige Psychologie bietet eine ideale Plattform, um die Konzepte und Theorien von traditionellen muslimischen Gelehrten, vor allem derjenigen wiederzubeleben, die vom 7.-13. Jahrhundert aktiv waren. Es geht um die Gestaltung einer islamischen Psychologie, die unser Verständnis der menschlichen Psychologie im Allgemeinen vorantreibt und das Wohlergehen aller Menschen zu verbessern vermag. Das islamische an der islamischen Psychologie zeigt sich dabei in deren Verwurzelung in einem epistemologischen und ontologischen Paradigma der islamischen Theologie. Der Umfang des Interesses an einer solchen Zielsetzung manifestiert sich bereits darin, dass innerhalb von vier Monaten 75 Mitglieder aus 19 Ländern, darunter 6% aus Deutschland, der Vereinigung beigetreten sind.

Wir werden im Folgenden eine allgemeine Zusammenfassung unserer Eindrücke und Gedankengänge vorstellen, die sich während der dreitätigen Konferenz ergeben haben und danach anhand einiger Vorträge die maßgeblichen Ergebnisse der Tagung ausführen. Der wohl spannendste Aspekt der Tagung war, dass Psychologen, Psychotherapeuten, Berater und Psychiater, die bis dato in Isolation bzw. auf nationaler Ebene gearbeitet haben, nun in der perfekten Lokalität von Istanbul, an der Zaim Universität, die das Projekt einer islamischen Psychologie aktiv vorantreibt, sich kennen lernen und sich strukturiert austauschen konnten. Es ist nicht nur ein Umschwung von muslimisch zu islamisch (d.h. von transkulturellen hin zu religiösen Perspektiven auf die Psychologie), sondern auch von isolierten zu kollektiven Bestrebungen zu verzeichnen. Die kollektive Komponente äußert sich dabei nicht nur in der Internationalität, sondern auch in einer bisher unbekannten Multidisziplinarität, bei der islamische Theologen wie Yusuf Jha aus Nottingham und Imame wie Mohamed Magid aus den USA an dieser Tagung teilgenommen und aktiv dazu beigetragen haben.

Bei allem Enthusiasmus über die Internationalität und Multidisziplinarität möchten wir jedoch hervorheben, dass für uns vor allem eine kritische, akademische und professionelle Grundhaltung von großer Wichtigkeit ist. Kritisch ist zu bemerken, dass die ersten beiden Konferenztage eher von einer emotionalen Auseinandersetzung mit der Beziehung zwischen Islam und Psychologie dominiert wurden. Dies geschah auf Kosten der Diskussion von philosophischen Inhalten und der entscheidenden Frage, was denn nun islamisch an einer islamischen Psychologie ist, und wie man mit einem islamischen Exzeptionalismus umgehen sollte. Inhaltliche Diskurse wurden überschattet von sich wiederholenden, teilweise simplizistischen Ideen einer älteren Generation muslimischer Psychologen, die sich noch an der kolonialen Vergangenheit ihrer arabischen Gesellschaften abzuarbeiten scheint. Das betrifft vor allem die Verhältnisbestimmung des muslimischen und „westlichen“ Menschenbildes, ihrer Resonanzen und Differenzen. Diese Auseinandersetzung ist zu Beginn der Theoriebildung selbstverständlich zu klären (El Shakry, 2018) und maßgeblich für die Identität muslimischer Psychologen, jedoch geschieht dies seit nun vier Jahrzehnten mehr als ausführlich (Kaplick & Rüschoff, 2018). Aufgrund des emotionsgebundenen Interesses an der Beziehung zwischen Islam und Psychologie konnten zielführende und erkenntnisbringende Diskussionen zu vielversprechenden Themen wie „Rediscovery and Integration: Applying religious approaches used by early Muslim scholars in the context of modern psychological treatment“ oder „An Islamic paradigm shift in relation to theoretical constructs and experimental research in psychology“ nicht ausreichend ausgeschöpft werden. Vielmehr wurden lange geklärte Problemfelder immer wieder aufgegriffen und reflektiert. Ebenso wenig zielführend und erkenntnisbringend ist die Tatsache, dass sich einige Kollegen gegen die „westliche“ Wissenschaft positionierten, z.B. durch die Aussage, dass muslimische Gelehrte bereits das Wichtigste für eine ausreichende Auseinandersetzung mit der Psychologie des Menschen behandelt haben, und die „westliche“ Wissenschaft diese Inhalte nun überflüssigerweise erneut penibel beschreibe, erkläre und studiere.

Im deutlichem Gegensatz zu diesem apologetischen Diskurs schilderte die Psychiaterin Dr. Rania Awaad aus Stanford, wie die Schriften früher muslimischer Gelehrter dazu dienen können, die bisherige Geschichtsschreibung der Psychologie und Psychiatrie wissenschaftlich fundiert zu überdenken. Im Laufe der letzten Jahre, so berichtete sie, hat ihr interdisziplinäres Team 112 Manuskripte früher muslimischer Gelehrter gesichtet. Dabei wurden aus psycho-philosophischen, -medizinischen, -spirituellen und -präventiven Texten in verschiedenen Beiträgen (Awaad & Ali, 2015, 2016) die transhistorische Relevanz z.B. des Konzeptes der Zwangsstörung beleuchtet. Dieses wurde Jahrhunderte vor der ersten Fallstudie in Robert Burtons (1621) Buch zur Anatomie der Melancholie durch den Universalgelehrten Abū Zayd Al-Balkhī aus dem 9. Jahrhundert mit dem heutigen DSM-5 fast synonym übereinstimmend beschrieben.

Dr. Alizi Alias von der International Islamic University Malaysia (IIUM) eröffnete den dritten Konferenztag mit einem ausgesprochen erfrischenden Vortrag zur Entwicklung eines Curriculums der islamischen Psychologie in Malaysia. Diese Entwicklung erstreckt sich über vier Phasen (1990-1999: Formierung der IIUM mit einem Psychologie Studiengang; 2000-2009: Einbeziehung einer islamischen Perspektive am Ende jeder Vorlesungsreihe; 2010-2019: Seminar mit einer islamische Perspektive am Ende jeder Vorlesungsreihe; 2019-zukünftig: organisch integrierte islamische Komponente in einem biopsychosozial-spirituellen Ansatz als Grundlage des Curriculums). Mit Dr. Alias‘ Ausführungen zu den drei wesentlichen konzeptionellen Stufen der Entwicklung einer islamischen Psychologie – Islamisierung, Relevantisierung (tajdīd) und Integration – begann er eine lebendige Debatte zu den zentralen Fragen, die in den nächsten 10 Jahren ausführlich beantwortet werden müssen: Was ist islamisch an der islamischen Psychologie? Welche Methodologie legen wir in der Theoriebildung und Integration von Disziplinen zugrunde? Welche islamischen Interventionen können wir in der Psychotherapie nutzbar machen, und kann die Wirkung dieser spirituell integrierten Psychotherapie in randomisierten klinischen Studien nachgewiesen werden?

Hooman Keshavarzi vom Khalil Center in Chicago diskutierte anschließend das Potential der Texte früher muslimischer Gelehrter für die Verbesserung des Wohlbefindens aller Menschen. Dabei stellte er ein epistemologisches und ontologisches Paradigma vor, welches in den Ashʿari und Māturīdī Schulen gegründet ist und stellte Überlegungen an, wie eine islamisch-integrierte Psychotherapie innerhalb dieses Rahmens konstruiert werden kann. Dabei ging es um die objektiven Quellen des Wissens (sensorisches/hissi und empirisches Wissen, Vernunft/manṭiq und Offenbarungswissen), um zu verdeutlichen, dass empirisch-psychologisches und islamisches Wissen jeweils die gleiche Stärke in ihrer Beweiskraft haben, sich jedoch im Wert, d.h. im sakralen Charakter des islamischen Wissens unterscheiden. Darüber hinaus wurden die drei wesentlichen islamischen Quelldisziplinen für eine islamisch-integrierte Psychotherapie vorgestellt: al-Fiqh al-Akbar/ʿaqīda, al-Fiqh al-bāṭin/tasawwuf und al-Fiqh al-ẓāhir).

Es wurde deutlich, dass die Rolle der dualen Ausbildung in den islamischen Disziplinen und der Psychologie und Psychotherapie ein brennendes Thema auf der Konferenz darstellt. Man konnte dabei eine weitgehende Übereinstimmung darin feststellen, dass die zukünftigen Ausbildenden in einer islamisch integrierten Psychotherapie über eine solide duale Ausbildung in den (traditionellen) islamischen Disziplinen und der Psychologie und Psychotherapie benötigen. Die angehenden Therapeuten benötigten zwar keine umfassende theoretische Ausbildung, jedoch tiefgehende Kenntnisse über die praktische Umsetzung, um nicht nur spirituell-sensible, sondern auch spirituell-kompetente Therapie anbieten zu können.

Ein Beispiel für eine erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Theologen und Therapeuten bzw. Beratern lieferte Imam Magid. Er berichtete von seiner Zusammenarbeit mit dem Psychotherapeuten Abdallah Rothman. Bei der Beratung von muslimischen Ratsuchenden in seiner Gemeinde bot Imam Magid bei Themen wie Ehe und Partnerschaft nur in Ausnahmefällen ausschließlich eine auf der islamischen Jurisprudenz basierende Lösung für ein Problem an. Vielmehr verwies er die Ratsuchenden häufig zum Therapeuten, damit eine adäquate Analyse und gegebenenfalls Intervention für die gegebenen Probleme erarbeitet werden konnte. Dies geschah aufgrund seiner Überzeugung, dass ein Problem nur selten sofort durchschaubar ist und mit einer einfachen Antwort gelöst werden kann. Die Jurisprudenz kann wenig Lösungen für psychologische Konflikte anbieten kann. Imam Magids Aussage zufolge wäre eine solche Herangehensweise im Beratungsprozess sogar eine Ungerechtigkeit, die er im Dienste des Islam als beratender Imam begehen würde. Seine Überzeugung von der Wichtigkeit der Psychologie für das menschliche Wohlbefinden geht so weit, dass er eine Eheschließung in seiner Gemeinde nur unter der Bedingung durchführt, dass das Paar zuvor einige Sitzungen Eheberatung in Anspruch genommen hat, um feststellen zu können, ob sie den Anforderungen und Verantwortungen einer Ehe gewachsen sind.

Um die Weisheiten, die im Koran verborgen sind, begreifen und in der Therapie aufgreifen zu können, ist es für Therapeuten und Berater von großer Bedeutung, sich mit den qur’anischen Texten auseinanderzusetzen. Ein mindestens auf den Grundlagen basierendes Islam-Studium stellt für alle Therapeuten und Berater, die islamische Inhalte in ihre Therapie und Beratungstätigkeit integrieren möchten, eine wichtige Komponente dar. Da ein umfassendes Studium nicht für alle möglich sein wird, stellt sich hier die Aufgabe der engen Zusammenarbeit von Therapeuten und Beratern mit islamischen Theologen. Dazu kann das Beispiel von Imam Magie und Abdallah Rothman als Vorbild dienen.

Die systemische Psychotherapeutin Dr. Rabia Malik aus London stellte ihre Arbeit zur Integration von qur’anischen Geschichten in familientherapeutischen Settings vor. Sie schilderte ihre Zusammenarbeit mit Theologen in der Aufarbeitung und Interpretation von Geschichten aus dem Koran. Diese werden alltagsrelevant für die Patienten aufgearbeitet und die Lehren, die aus diesen Geschichten gezogen werden können, zu einem Beispiel und Hoffnungsträger für Ratsuchende herangezogen. Die Integration von islamischen Inhalten in die Therapie bzw. Beratung ist vielfältig möglich. Dies wird bereits deutlich, wenn man den Nutzen von „Dankbarkeit und Geduld, Demut und Sanftmut“ betrachtet, der aus den islamischen Lehren hervorgeht. Daher bleibt es offen und zu überlegen, ob neben dem Studium einer „islamischen Psychologie“ auch ein weiteres Curriculum für ein Studium einer „islamintegrierten Psychotherapie“ mit einem interdisziplinären Team von Theologen und Psychiatern, Psychologen und Psychotherapeuten konzeptioniert werden kann.

https://www.islamicpsychology.org/iaip-conference

Referenzen

Awaad, R., & Ali, S. (2015). Obsessional Disorders in al-Balkhi′s 9th century treatise: Sustenance of the Body and Soul. Journal of Affective Disorders, 180, 185-189. doi:10.1016/j.jad.2015.03.003

Awaad, R., & Ali, S. (2016). A modern conceptualization of phobia in al-Balkhi’s 9th century treatise: Sustenance of the Body and Soul. Journal of Anxiety Disorders, 37, 89-93. doi:10.1016/j.janxdis.2015.11.003

Burton, R. (1621). The Anatomy of Melancholy. Oxford.

El Shakry, S. O. (2018). The Arabic Freud: Psychoanalysis and Islam in modern Egypt. Woodstock, United Kingdom: Princeton University Press.

Kaplick, P. M., & Rüschoff, I. (2018). Islam und Psychologie – Gegenstand und Historie. In I. Rüschoff & P. M. Kaplick (Eds.), Islam und Psychologie – Beiträge zu aktuellen Konzepten in Theorie und Praxis (pp. 25-84). Münster: Waxmann.