Missbrauch religiöser Autorität: Reputation als Tor zur (virtuellen) Beziehungsanbahnung

von Dr. Silvia Horsch und Dr. Mahmud Kellner


„Im Mai diesen Jahres veröffentlichte Ustadha Zaynab Ansari, eine in Syrien ausgebildete amerikanische Gelehrte, einen Artikel mit dem Titel „Blurred Lines: Women, ‘Celebrity‘ Shaykhs, and Spiritual Abuse“. Der Artikel wurde vielfach kommentiert und in sozialen Netzwerken geteilt. Es geht darin um Beziehungen einiger prominenter Gelehrter bzw. Prediger mit ihren Schülerinnen und Bewunderinnen. Beziehungen, die auf dem Weg der Wissenssuche beginnen und in einer zwar Scharia-konformen, aber heimlichen und meist kurzen Ehe, häufig als Zweit- oder Drittfrau, enden. Dazwischen liegen Facebook-Freundschaftsanfragen und e-mail-Kontakte, Unterhaltungen im Cyberspace, die von Wissensfragen zu persönlichen Themen übergehen und schließlich den Charakter eines Flirts erhalten. Natürlich stellen Gelehrte und Prediger, die solche Beziehungen eingehen, eine kleine Minderheit dar. Ustadha Zaynab Ansari wurde jedoch von so vielen betroffenen Frauen kontaktiert, dass sie sich schließlich veranlasst sah, über dieses Phänomen öffentlich zu sprechen.

„Ach, Amerika“, ist vielleicht der erste Gedanke von vielen, „die Muslime dort sind uns im Guten wie Schlechten um einiges voraus – gut, dass es das bei uns nicht gibt.“ Leider ist jedoch dieses Phänomen auch bei uns vorzufinden. Auch in Deutschland treten einzelne Männer als Gelehrte und Prediger in Erscheinung und nutzen die Autorität, die sie dadurch gewinnen, um Ehen und Beziehungen anzubahnen, die schnell wieder vorbei sind. Es wäre naiv zu glauben, dass die Voraussetzungen, die diesem Phänomen zugrunde liegen und die hier wie in den USA vorhanden sind, nicht auch zu den gleichen Ergebnissen führen würden. Zu diesen Voraussetzungen gehören: der (mediale) Kult um Prediger und Gelehrte, die Möglichkeiten der unbeobachteten Kommunikation zwischen den Geschlechtern im Internet und die Sorglosigkeit, mit der manche, insbesondere junge Menschen in Beziehungen stolpern – denn „̣ḥalāl“ heißt noch nicht verantwortungsbewusst.

Bei den Fällen, von denen wir Kenntnis erhalten haben, handelt es sich um Einzelfälle. Dies sei ausdrücklich betont, da es nicht unsere Absicht ist, Gelehrte oder Prediger allgemein in Verruf zu bringen oder ihnen gegenüber Misstrauen zu säen. Es geht auch nicht darum, öffentlich Namen zu nennen. Unsere Entscheidung, auf die Existenz dieses Phänomens aufmerksam zu machen, hat nur einen Grund: Wir wollen verhindern, dass der Islam und muslimische Gelehrte durch ein solches Verhalten weiter in Verruf gebracht werden und die Liste der geschädigten Frauen verlängert wird. Dabei geht es nicht nur um Frauen, die sich auf derartige Beziehungen eingelassen haben, sondern auch um solche, die von solchen Personen über das Internet belästigt werden. Die Methode dieser Personen soll deutlich werden, damit man bestimmte Muster besser erkennen und gegebenenfalls auch das eigene Verhalten überdenken kann. Auch die Verantwortung der Männer ist dabei angesprochen: Wer mitbekommt, dass ein Bruder seine religiöse Autorität zur seriellen oder gar parallelen Beziehungsanbahnung missbraucht, sollte dies nicht stillschweigend tolerieren, sondern ihn darauf ansprechen – vorausgesetzt, er ist in der Position dazu. Bei den schwarzen Schafen muss die Botschaft ankommen, dass die muslimische Gemeinschaft entschieden gegen den Missbrauch von Frauen und dem Missbrauch des Islams vorgehen soll. Nun zu den Voraussetzungen.“ Weiterlesen