Spirituellen Missbrauch verstehen: Ein Interview mit Salma Abugideiri

Übersetzt von Julia Semiha Ruff

Muslime sprechen immer offener über häusliche und sexuelle Gewalt in unserer Community.

Aber was ist mit spirituellem Missbrauch?

Muslim Link (www. muslimlink.ca) interviewte die muslimisch-amerikanische Beraterin Salma Abugideiri, die erklärt, was spiritueller Missbrauch ist und welche Auswirkungen er auf das Leben von Muslimen in Nordamerika hat.

Erzählen Sie uns etwas über sich.

Ich wurde in eine Einwandererfamilie hineingeboren. Meine Eltern sind Ägypter, haben aber Ägypten relativ früh verlassen. Ich wurde eigentlich in Österreich geboren. Dann kamen meine Eltern in die Vereinigten Staaten, als ich 2 Jahre alt war. Ich wuchs in den USA in verschiedenen Staaten auf.

Ich bin im Grunde damit aufgewachsen, dass meine Eltern viel in der Gemeindearbeit tätig waren. Sie sind beide führende Persönlichkeiten in der muslimischen Community. Viele Leute kamen aus dem ganzen Land zu uns nach Hause. Meine Eltern nahmen oft Leute auf, die entweder mit Ehe- oder Familienbeziehungen zu kämpfen hatten. Später verstand ich, dass einige dieser Menschen Missbrauch erlebten und ich glaube, dass dies mein Interesse am Beruf der Beraterin geweckt hat. Ich erkannte auch die große Lücke in den Hilfsangeboten für diese Menschen.

Ich habe eine Lizenz als professionelle Beraterin. In dieser Funktion hatte ich viele Klienten, die Opfer häuslicher Gewalt waren, aber auch Täter, die zur Beratung verpflichtet wurden. Ich habe früher für eine multikulturelle Agentur gearbeitet, so dass es sich oft um Menschen handelte, die nicht genug Englisch sprachen, um zum Hilfsprogramm des Bezirks zu gehen. Ich habe mit ihnen Einzelarbeit auf Arabisch gemacht. Dann wurde ich 2005 gebeten, dem Peaceful Families Project beizutreten, um die Programmplanung zu übernehmen.

Erzählen Sie uns etwas über das Peaceful Families Project.

Das Programm selbst wurde von Sharifa Alkhateeb ins Leben gerufen. Sie führte die, wie wir glauben, erste Umfrage unter muslimischen Führungspersonen durch, um die Prävalenz von häuslicher Gewalt in unseren Gemeinden zu ermitteln. Sie fragte nach körperlicher und sexueller Gewalt und etwa 10 % der Befragten gaben an, dass sie körperliche oder sexuelle Gewalt erlebt hatten. Das führte dazu, dass sie sich um eine Finanzierung durch das Justizministerium bemühte, welches sie mit dem FaithTrust Institute in Verbindung brachte – einer nationalen multireligiösen Organisation zur Prävention häuslicher Gewalt und sexueller Übergriffe.

Das Peaceful Families Project wurde das muslimische Programm des FaithTrust Institute, das Sharifa bis 2005 leitete. Dann bat sie mich das Programm zu übernehmen, was ich zusammen mit Maha Alkhateeb tat. Als die Finanzierung 2007 gekürzt wurde, gründeten Maha Alkhateeb und ich das Peaceful Families Project als unabhängige gemeinnützige Organisation. […]

Was ist spiritueller Missbrauch?

Spiritueller Missbrauch wird für eine Vielzahl von Situationen verwendet, so dass ich verstehe, warum der Begriff für die Menschen verwirrend sein kann. In einem familiären Kontext verwenden wir den Begriff spiritueller Missbrauch für alles, was die Spiritualität oder die religiöse Praxis einer Person beeinträchtigt.

Sagen wir, im Falle des Missbrauchs in der Ehe, wäre es der Missbrauch von Hadithen oder des Korans, um einen Ehepartner zum persönlichen Vorteil des anderen zu manipulieren. Wenn zum Beispiel ein Ehemann seine Frau nicht dazu bringen kann das zu tun, was er von ihr möchte, und sie nicht überreden kann, könnte er in diesem Fall darauf zurückgreifen zu sagen, dass er das Oberhaupt des Haushalts sei, so dass sie ihm gehorchen müsse, um eine gute muslimische Frau zu sein, mit welcher Allah zufrieden ist. Er könnte seiner Frau sagen, dass sie in der Hölle brennen wird, weil sie nicht gut genug sei. Sie sei nicht geduldig genug, sie putze nicht genug, sie kümmere sich nicht richtig um die Kinder.

Wir sehen  auch, dass Menschen sich direkt in den Gottesdienst einmischen. So erzählen mir manchmal Frauen, dass ihr Mann sich auf ihren Gebetsteppich stelle, wenn sie zu beten versuche und sie nicht beten lasse. Oder dass er sie schlage und aus dem Bett ziehe, um sie zum Beten zu zwingen. Oder dass er ihr nicht erlaube, das Haus mit Kopftuch zu verlassen, weil es ihm peinlich sei und er nicht mit einer Frau gesehen werden wolle, die Kopftuch trägt, oder sie das Haus nicht ohne Kopftuch verlassen lasse.

Einer meiner ersten Fälle von spirituellem Missbrauch war, als eine Anwältin mich konsultierte, weil ihre muslimische Mandantin häusliche Gewalt erlebte. Die Beschwerde der Frau war, dass ihr Mann sie während des Ramadans zum Geschlechtsverkehr zwang. Die Anwältin verstand natürlich nicht, warum die Tageszeit für ihre Mandantin so wichtig war. Ich musste erklären, dass diese Frau nicht nur zum Sex gezwungen wurde, sondern dass sie von ihrem Mann auch gezwungen wurde, ihr Fasten zu brechen, da wir Muslime während des Ramadans von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang keinen Geschlechtsverkehr haben sollen.

Der Anwalt verstand nicht die spirituellen Auswirkungen dieses Missbrauchs. Die Betroffene beklagte sich über den spirituellen Aspekt, dass sie sich festgefahren fühle, weil sie ihrem Mann gehorchen „soll“ und gleichzeitig weiß, dass sie während des Fastens keinen Geschlechtsverkehr haben darf. Aus ihrer Sicht missachtet sie Allah so oder so. Diese Art von Double-Bind-Situationen schaffen wirklich eine Menge spirituelles Trauma für die Menschen. Jedes Mal, wenn irgendeine Art von missbräuchlichem Verhalten in religiösen Begriffen ausgedrückt wird, hat dies das Potenzial, ein spirituelles Trauma zu erzeugen.

Das sind einige der Möglichkeiten, wie spiritueller Missbrauch in einer Ehe auftreten kann. Bei Kindern ist das genauso. Es ist nicht ungewöhnlich von Menschen zu hören, die ein Du’a (Bittgebet) gegen ihr Kind sprechen. Sie bitten Allah, ihnen das Kind wegzunehmen. Sie verfluchen das Kind durch Du’a. Die Kinder wachsen so mit einer sehr komplizierten und negativen Beziehung zu Allah auf.

Oder die Eltern missbrauchen absolut gute Ayahs (Koranverse) über die Aufgabe der Kinder, auf ihre Eltern zu hören, die im richtigen Kontext völlig angemessen sind. Die Eltern missbrauchen diese Verse jedoch, um ihre Kinder dazu zwingen, etwas zu tun, was sie entweder nicht tun sollten oder wozu sie im religiösen Kontext wirklich nicht verpflichtet sind.

Ich habe gesehen, dass Eltern dies tun, um ihr erwachsenes Kind dazu zu bringen, sich von seinem Ehepartner scheiden zu lassen, weil die Eltern ihn/sie nicht mögen. Die Eltern sagen z.B.: „Wenn du ein guter Muslim bist, musst du deinen Eltern gehorchen. Wir wollen also, dass du dich von dieser Person scheiden lässt. Und wenn du das nicht tust, kommst du in die Hölle, weil du uns nicht gehorchst.“ Das schafft diese wirklich spirituellen Konfliktsituationen für die Betroffenen. Ich kann Ihnen Hunderte von verschiedenen Möglichkeiten nennen, wie sich das abspielen kann.

Finden Sie manchmal, dass es schwierig ist, über diese Themen zu sprechen, weil es im Kontext des Umgangs mit Islamophobie und der öffentlichen Darstellung der muslimischen Community bisweilen schwieriger ist, diese sehr realen Themen zu thematisieren?

Schwieriger für mich oder schwieriger für die Opfer? Für mich ist es überhaupt nicht schwer, weil ich das schon sehr lange mache. Ich habe es miterlebt, und ich habe die direkten Auswirkungen gesehen. Ich habe den Großteil meiner therapeutischen Praxis damit verbracht, mit Menschen zu arbeiten, die von der einen oder anderen Form von Missbrauch betroffen waren. Ich arbeite mit Erwachsenen und das sind Menschen, die als Kinder und als Jugendliche davon betroffen waren. Ich habe kein Problem damit, darüber zu sprechen.

Ich habe viel interreligiöse Arbeit geleistet und deshalb läuft es für mich darauf hinaus, dass die Menschen einfach so sind, wie sie sind, egal ob sie Muslime oder Christen oder Juden oder Atheisten oder was auch immer sind. Ich denke, es ist wirklich wichtig, das zu verstehen. Die Täter werden jedes Mittel nutzen, um das zu erreichen, was sie erreichen wollen. Ob sie also eine Faust einsetzen, oder Beleidigungen, ob sie Drohungen einsetzen oder Schriften—, das ist alles nur eine Vielzahl von verschiedenen Kontrolltaktiken.

Ich sehe das also nicht wirklich als ein spezifisch muslimisches Problem, und ich denke es ist wichtig, dass wir, wenn wir über Missbrauch sprechen, in keiner Weise suggerieren, dass es ein spezifisch muslimisches Problem sei.  Als ich anfing, mich mit interreligiöser häuslicher Gewalt zu beschäftigen, fiel mir auf, dass, wenn man nur den Namen der Glaubenstradition weglässt, alle das Gleiche sagen.

Die spezifischen Schriften, die verwendet werden, sind natürlich unterschiedlich, weil wir verschiedene Bücher haben, aber die Konzepte, die die Menschen missbrauchen, sind die gleichen.

Zum Beispiel ist der Gehorsam gegenüber dem Ehemann eine Lehre, die in den abrahamitischen Schriften zu finden ist. Jeder hat seinen Vers, der aus dem Zusammenhang gerissen, missbraucht oder zum Vorteil des Täters eingesetzt werden kann. Ich finde es also nicht schwierig, darüber zu sprechen.

Ich denke, dass die Opfer es schwer finden, darüber zu sprechen, weil wir als Muslime alle sehr darauf getrimmt sind, uns auf bestimmte Dinge zu fixieren. Wenn sich also jemand über das Fehlverhalten eines Elternteils beschwert, dann lautet die Antwort fast reflexartig: „Das sind deine Eltern. Du musst Erbarmen mit ihnen haben. Du musst nett zu ihnen sein.“ Ich denke, dass es unserer Community generell schwer fällt zu hören, dass Menschen, zu welchen wir aufschauen und auf die wir hören sollen, Grenzen verletzt haben – ob es nun Geistliche oder Eltern oder Großeltern oder Onkel sind. Wir haben viel Respekt vor Älteren, viel Respekt vor Wissenden, und deshalb fällt es den Leuten manchmal schwer, zu hören, wenn diese Personen die Grenzen überschritten haben. Wir überbewerten (ich war früher Lehrerin in der Sonntagsschule, also wenn ich sage „wir“, bin ich ein Teil dieses „wir“). Wir können die Bedeutung der Verantwortung des Kindes gegenüber den Eltern überbewerten und die Verantwortung der Eltern gegenüber ihren Kindern wirklich unterbewerten.

Das Recht des Kindes kommt eigentlich vor dem Recht der Eltern, aber ich glaube nicht, dass wir als muslimische Gemeinschaft das typischerweise so lehren. Wenn also Kinder missbraucht oder misshandelt werden, sei es seelischer oder eine andere Form des Missbrauchs, dann ist es wirklich schwer, darüber zu sprechen, weil man irgendwie seine Eltern verrät, wenn man darüber spricht oder es meldet. Und auch rein konzeptionell kann es schwer sein, zu erkennen, wenn man missbraucht wird.

Als Kind denken wir, dass unsere Eltern die Besten sind und deshalb „muss ich, das Kind, der Falsche sein.“ Diese Denkweise wird durch unsere Großfamilien und Gemeinschaften verstärkt, wonach es das Kind sein muss. Das ist nur ein weiteres Beispiel für das Victim-Blaming, welches die Opfer auch als Erwachsene erleben, wenn ihnen gesagt wird: „Du bist schuld.“ „Wie könnte es diese andere Person sein (die Eltern, der geistliche Leiter, der was auch immer…), es musst du sein.“

Lassen Sie uns über das Thema des spirituellen Missbrauchs sprechen, wenn er von Geistlichen ausgeht. Inwiefern ist das anders als das, was in Familien passiert?

Es geschieht dadurch, dass unsere Geistlichen in einer Vertrauensposition sind. Wir vertrauen darauf, dass sie unsere Lehren repräsentieren und vertrauen darauf, dass sie diese nicht nur in der Art und Weise repräsentieren, wie sie sie lehren, sondern auch in der Art und Weise, wie sie sie leben, und in der Art und Weise, wie sie mit uns umgehen. Wenn wir jemandem unser Vertrauen schenken und er eine Grenze verletzt, entsteht ein Gefühl des Verrats, der Verwirrung, der Selbstzweifel und der Unsicherheit, was zu tun ist.

Ein Teil des Missbrauchs ist nicht wirklich greifbar. Es ist nicht unbedingt so, dass ein Geistlicher jemanden geschlagen oder gekniffen hat. Es ist sehr schwer zu messen, oft ist es ganz subtil. Wenn z.B. eine Frau nach einer Scheidung eine Beratung bei einer religiösen Autorität in Anspruch nimmt oder sich in einem Scheidungsprozess befindet und sich extrem verletzlich fühlt und sie sich an diese Person wendet, um begleitet und beraten zu werden und moralische Unterstützung zu bekommen, und er ihr in diesem Moment der Verletzlichkeit anbietet, sie zu heiraten, kann das ein echter Missbrauch ihres Vertrauens sein. Diese Art von Situation ist so häufig, und ich erlebe sie schon seit 20 Jahren, seit ich Therapeutin bin.

In diesem Moment der Verletzlichkeit hat der religiöse Führer mehrere Grenzen überschritten. Er nutzt eine Person aus, die sich in einem extrem verletzlichen Zustand befindet und ihm vertraut, um eine wirklich gute Beratung zu bekommen. Und diese „wirklich gute Beratung“ lautet: „Ich werde dich heiraten und dich vor all dem retten, ich werde mich um dich kümmern.“ Leider fallen viele Frauen tatsächlich darauf herein, weil sie irgendwie verzweifelt sind und jemanden suchen, der sich um sie kümmert und es besser macht. Und so ist das Timing falsch. Oft sind diese Männer bereits verheiratet, und zumindest in den USA ist es gegen das Gesetz, sich eine zweite Frau zu nehmen, und auch in Kanada.

Und so gibt es jetzt naturgemäß eine weitere Ebene des Betrugs, weil sie eine heimliche Ehefrau sein wird, sie wird absolut keine Rechte haben, egal in welchem Staat sie lebt. Wenn dieses religiöse Oberhaupt jetzt ihr Ehemann ist und 5 Minuten später oder am nächsten Tag oder nach einem oder zwei Kindern stirbt, sitzt sie wirklich fest, weil es kein Erbe gibt. Es gibt keine Rechte, die sie einfordern kann. Und wenn er sie körperlich missbraucht oder irgendetwas anderes passiert, sitzt sie wieder fest. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass ein islamischer Ehevertrag öffentlich mit Zeugen geschlossen werden muss. Es gibt also mehrere Verstöße, die nur in diesem einen Szenario passieren können, und das ist ein sehr häufiges Szenario.

Es gibt auch noch andere Möglichkeiten, wie ein religiöses Oberhaupt seinen Einfluss missbrauchen kann. Ich sage „seinen“, weil die meisten unserer Führungspersonen männlich sind. Aber es gibt auch weibliche Führungspersonen, die ihre Macht ebenfalls missbrauchen können.

Nehmen wir ein anderes Szenario, das leider häufig vorkommt. Eine Frau ist mit einem Imam oder einem angesehenen geistlichen Führer in der Gemeinde verheiratet. Was kann sie tun, wenn sie von ihrem Mann missbraucht wird? Wohin kann sie gehen? Ihr Mann wird sagen: „Ich bin der Imam. Ich bin derjenige, der sich hier auskennt. Wer bist du, dass du das anfechtest und wer wird dir glauben, wenn du dich beschwerst?“ Es gibt also Situationen schwerer körperlicher Misshandlung, in denen die Frau das Gefühl hat, dass sie sich an niemanden wenden kann, weil ihr niemand glauben wird. Er hat sie davon überzeugt, dass, wenn sie versuchen würde, Hilfe zu bekommen, ihr niemand glauben würde, niemand sie akzeptieren würde. Dazu kommt noch die religiöse Autorität, die dieser Mann in der Gemeinde hat, was den Missbrauch im Grunde nur noch weiter verkompliziert. Es fügt einfach eine weitere Ebene hinzu, die es noch schwieriger macht und die Beziehung dieser Frau zu Allah (swt) beeinträchtigen kann.

Ob Sie nun ein Gemeindemitglied sind und sich an Ihren religiösen Leiter oder Imam wenden, oder ob es sich um ein Familienmitglied eines Imams handelt – wenn die religiöse Ebene mit der Grenzverletzung oder dem körperlichen Missbrauch oder was auch immer vermischt wird, fangen die Menschen an, das mit dem Islam, mit Allah (swt) zu assoziieren. Und dann haben sie oft eine große spirituelle Krise, die von der Infragestellung des Islams bis zum Verlassen des Glaubens insgesamt reichen kann. Manchmal verlassen sie ihn vorübergehend für ein paar Jahre, manchmal verlassen sie ihn für immer. Ich habe das schon oft erlebt. Ich habe Klienten, die Missbrauch durch einen religiösen Führer, Koranlehrer, Scheikh, Halaqa-Leiter usw. erlebt haben. Ich habe andere Therapeuten mit muslimischem Hintergrund kennengelernt, die diese Formen des spirituellen Missbrauchs erlebt haben, so dass sie absolut kein Vertrauen in unsere Gemeindeleiter mehr haben und absolut kein Interesse daran, Muslimen zu helfen.

Sollten wir vorsichtiger sein, wie sehr wir religiösen Führern vertrauen, besonders wenn sie keine Strukturen haben, die sie zur Verantwortung ziehen?

Ich habe keine Lösung und ich denke, dass es mehrere Bereiche gibt, die wir anpacken müssen. Einer davon ist, selbstbewusstere und kompetentere einzelne Muslime aufzubauen, die zumindest die grundlegenden Prinzipien des Islams verstehen und die genug Selbstvertrauen haben, um zu erkennen, dass es falsch ist, wenn es sich falsch anfühlt.

Wir müssen Räume schaffen, in denen die Menschen sagen können: „Ich hatte gerade diese Erfahrung, die sich wirklich falsch anfühlt“, und in denen wir dann helfen können, herauszufinden, was passiert ist. Aber wenn wir den Leuten nicht erlauben zu sagen: „Das fühlt sich komisch an“, dann können wir ihnen nicht helfen, herauszufinden, was an ihrer Erfahrung komisch ist. Wir werden alle mit einer Fitrah geboren, dieser Art von angeborenem Wissen darüber, was falsch und was wahr und was gut ist. Wir müssen lernen, darauf zu vertrauen. Ich sage nicht, dass jeder Muslim Hadithe und Verse interpretieren und das überall posten soll. Das will ich damit nicht sagen. Ich spreche davon, dass man in der Lage sein muss, sich selbst zu vertrauen, seinem Bauchgefühl zu trauen und sich frei zu fühlen, zu sagen, wenn jemand, selbst wenn es eine religiöse Führungspersönlichkeit ist, einem ein unangenehmes Gefühl gibt.

Ich denke, wenn wir Menschen zum Schweigen bringen, unterdrücken wir sie. Sobald Menschen keine Stimme haben, werden sie unterdrückt, und das ist völlig unislamisch.

Das andere Problem, das wir in unserer heutigen Gesellschaft haben, ist der Raum, den wir wählen, um uns zu äußern, was ist das Forum? Wenn wir also nicht mit unseren Eltern reden können, nicht mit unseren Lehrern und mit niemandem im Privaten… nun, jetzt haben wir diesen großen öffentlichen Raum, die sozialen Medien, wo wir darüber reden können, und das ist meiner Meinung nach sehr schädlich.

Ich denke, es ist wirklich wichtig für Eltern, Beziehungen zu pflegen, in denen ihre Kinder mit ihnen sprechen können. Oder in denen sie eine vertrauenswürdige Person finden, einen vertrauenswürdigen Erwachsenen, mit dem sie sprechen können, wenn die Kinder nicht mit ihren Eltern sprechen wollen, und bei der die Eltern darauf vertrauen können, dass sie von dieser dritten Partei gute Ratschläge bekommen.

Wenn wir im Grunde alle diese sicheren Räume schließen, gibt es keine mehr. Jetzt fühlen sich die Leute nur noch sicher, wenn sie online anonym sind, und das ist eigentlich ein ganz anderes Katastrophengebiet, das wir haben. Wir müssen also nicht nur uns selbst vertrauen, sondern wir müssen den Menschen auch die Grundlagen des Islams vermitteln. Und mit den Grundlagen des Islams meine ich Werte wie Gerechtigkeit, Freiheit von Unterdrückung, Ehrlichkeit, Integrität, Freundlichkeit… Sie kennen diese grundlegenden Charaktereigenschaften, denn wenn jemand ungerecht handelt, können wir das benennen.

Im Islam geht es um Grenzen, Richtlinien und richtiges Verhalten, also haben wir all das. Ich bin mir nicht wirklich sicher, warum es für uns problematisch ist, junge Menschen in jedem Alter zu befähigen, sich selbst zu vertrauen und darauf zu vertrauen, dass Allah nicht will, dass ihnen etwas Schädliches widerfährt.

Bei spirituellem Missbrauch, wenn er nicht in Form von körperlichem oder sexuellem Missbrauch stattfindet, wissen die Leute oft nicht, wie sie erkennen sollen, dass es Missbrauch ist. Es ist nicht greifbar, aber denken Sie, dass es für unsere Gemeinden wichtig ist, die Auswirkungen zu verstehen, weil es, wie Sie sagten, Menschen dazu bringen kann, den Islam zu verlassen und sich von Muslimen zu distanzieren?

Ich denke, es ist entscheidend. Ich denke, es gibt viele Dinge in dem, wie wir unsere Religion lehren, die eindeutig falsch sind und nicht immer körperliche Formen des Missbrauchs darstellen.

Der Koran (58:2) beschreibt die alte arabische Praxis, dass Männer zu ihren Frauen sagten: „Du bist wie der Rücken meiner Mutter.“ Sie verletzen sie nicht körperlich, aber sie lassen sie in dieser Position, dass sie nicht mehr wirklich seine Frau ist. Sie ist wie seine Mutter in dem Sinne, dass es keine sexuell intime Beziehung zwischen ihnen geben kann. Es ist eine Form des emotionalen Missbrauchs. Es ist zutiefst verletzend, und es ist verboten.

Es gibt eine Menge solcher Dinge. Surat Al Hujarat (49:11) verbietet uns, Leute zu beschimpfen, denn auch wenn wir diese Person nicht berührt haben, haben wir ihre Gefühle verletzt, und die Gefühle von Menschen zu verletzen, ist verboten. Es gibt einen Vers im Koran darüber, also ist es nicht so, dass wir überdramatisieren und die Leute eine dicke Haut entwickeln und darüber hinwegkommen müssen. Sensibel mit diesen Themen umzugehen, ist Teil unserer Religion.

Es ist eine sehr klare Lehre, die speziell für Männer und Frauen gilt, dass sie sich nicht gegenseitig verspotten, beschimpfen, verleumden, spionieren oder misstrauisch sein sollen (49: 11-12). Diese Verse benennen mehrere Formen des Missbrauchs. Misstrauisch zu sein ist etwas ziemlich Ungreifbares, und es ist verboten. Etwas muss nicht messbar oder quantifizierbar sein, damit es verboten ist.

Bezüglich des Bewahrens von Geheimnissen: Wenn Sie mir z.B. erzählen, dass Ihnen etwas Schreckliches passiert ist oder Sie mir ein Geheimnis über sich erzählen, muss ich dieses Geheimnis bewahren. Das nennt man „Vertrauen bewahren“. Aber wenn ich Ihnen etwas antue, was sich wirklich schlecht anfühlt, und ich Ihnen sage, Sie sollen es für sich behalten, ist das nicht in Ordnung. Das ist ein Warnsignal. Ich möchte also sicherstellen, dass wir den Leuten nicht erzählen, dass alle Geheimnisse schlecht sind. Manchmal hat man ein Vertrauen, wenn man in einer Firma arbeitet und es gibt vertrauliche Informationen, dann müssen wir diese Art von Geheimnissen bewahren. Aber wir müssen nicht die Art von Geheimnis bewahren, die jemand uns angetan hat, das sich schlecht anfühlt.

Das unglückliche Irrtum, der uns beigebracht wird, besteht darin, die Fehler der anderen zu verstecken. Also vielleicht bete ich meine 5 Gebete nicht pünktlich oder vielleicht habe ich die Angewohnheit, manchmal Alkohol zu trinken. Das muss man nicht jedem erzählen, weil es niemanden sonst beeinträchtigt. In der Tat, wenn du es jetzt anderen Leuten erzählst, hast du etwas falsch gemacht, denn du sollst meine Fehler bedecken. Aber wenn die Fehler von jemandem schädlich und verletzend für andere sind, andere unterdrücken, dann sind wir beauftragt, darüber zu sprechen (4:135).

Wir schauen uns zum Beispiel den Bereich der Verleumdung an. Wir sollen nichts Schlechtes über andere Menschen sagen, auch wenn es wahr ist, aber es gibt gewisse Ausnahmen. Wenn du heiraten willst und dieser Kerl dir einen Antrag macht und ich kenne ihn zufällig sehr gut und weiß, dass er einen schweren Makel hat, bin ich verpflichtet, es dir zu sagen. Der Prophet Muhammad (Friede sei mit ihm) sagte Fatima bint Qais über jemanden, der ihr einen Heiratsantrag machte, dass er dafür bekannt war, Frauen zu schlagen (Muslim, Buch 9, #3526). Wenn es einen potentiellen Schaden gibt, insbesondere Unterdrückung oder Ungerechtigkeit, müssen wir es aussprechen. Es ist dann falsch, es zu verschweigen. Natürlich müssen wir weise entscheiden, wo wir unsere Stimme erheben. Wir sollten immer die am wenigsten invasive Art wählen, um etwas anzusprechen.

Was sollte man tun, wenn jemand mit einer Anschuldigung auf einen zukommt?

Das allererste ist, das Schweigen zu brechen, das heißt also, jemanden zu finden, der eine gewisse Expertise davon hat, was vor sich geht. Wenn Sie also denken, dass es sich um spirituellen Missbrauch handelt, dann suchen Sie jemanden, der verstehen kann, was Sie beschreiben und der Ihnen helfen kann, herauszufinden, ob es sich um Missbrauch handelt oder ob es sich um ein Missverständnis oder etwas anderes handelt. Manchmal sind Menschen, die in der Vergangenheit missbraucht worden sind, sehr leicht zu triggern und können durch etwas getriggert werden, das nicht missbräuchlich ist. Sie können durch einen Geruch, ein bestimmtes Geräusch oder eine Bewegung getriggert werden. Es gibt also viele Gründe, warum es wichtig ist, mit jemandem zu sprechen, der Erfahrung hat. Egal, ob es sich um einen Psychologen oder einen Anwalt für häusliche Gewalt handelt, suchen Sie jemanden, der sich mit dem Thema Missbrauch auskennt.

Es ist wirklich wichtig, zu Beginn davon auszugehen, dass jemand die Wahrheit sagt, und im weiteren Verlauf der Geschichte eventuell festzustellen, dass das nicht der Fall ist. Aber die Realität ist, dass die meisten Menschen, die sich melden, einen harten Prozess durchmachen müssen, bis sie sich melden. Es ist so schwer für sie, sich zu melden, dass die Zahl derer, die sich Geschichten ausdenken, ziemlich klein ist. Ich habe auch mit einigen dieser Leute gearbeitet, aber in den 20 Jahren, in denen ich mit Tausenden von Menschen gearbeitet habe, kann ich die Anzahl der Geschichten, die komplett erfunden waren, an einer Hand abzählen.

Eine Person mit einer gewissen Expertise kann das herausfinden, also ist es wirklich wichtig, Leute zu identifizieren, die vertrauenswürdige Experten sind. Wenn ich denke, dass ich einen Herzinfarkt habe, werde ich das nicht meinem Nachbarn erzählen. Ich werde zum Arzt gehen. Und wenn ich denke, dass ich spirituell missbraucht werde, muss ich das auch nicht meinem Nachbarn sagen. Ich kann es, aber es ist vielleicht nicht hilfreich. Der erste Schritt ist also, eine Art von professioneller Beratung aufzusuchen und je nach der Art des Geschehens zu entscheiden, was die nächsten Schritte sind. Manche Dinge sind geeignet, um sie der Polizei zu melden, mit manchen Dingen hat die Polizei nichts zu tun. Wenn Ihnen jemand einen unangemessenen Heiratsantrag gemacht hat, ist das nicht unbedingt eine Straftat, also kann die Polizei nichts dagegen tun. Aber dann gibt es vielleicht einen Moschee-Vorstand, dem man dieses Verhalten melden sollte.

Was die Lösungen angeht, brauchen wir definitiv mehr Aufsichtsbehörden. Wir haben nicht viele Aufsichtsgremien mit Fachwissen in diesen Fragen für unsere religiösen Organisationen. Das ist etwas, was wir dringend, ganz dringend brauchen.

Es muss eine Rechenschaftspflicht geben. Wir alle, alle Fachleute, haben Aufsichtsbehörden, denen gegenüber wir rechenschaftspflichtig sind. Zum Beispiel gibt es in jedem Staat eine Aufsichtsbehörde für psychisch Kranke. Wo immer Sie zugelassen sind, gibt es eine Behörde. Wenn sich ein Klient über mich beschwert, schickt er die Beschwerde an die Behörde und die Behörde wird eine Untersuchung durchführen. Jeder Beruf hat irgendeine Art von Regulierungsbehörde oder Aufsichtsgremium. Aber im Moment haben wir so gut wie nichts für Imame, Scheikhs und Religionspädagogen. Ich kann heute erklären, dass ich jetzt die prominente religiöse Autorität zu X bin und mich dort hinstellen, obwohl ich nichts studiert habe, was mich qualifizieren würde, das zu sagen, aber ich könnte es tun. Ich meine, das kann überall passieren. Es passiert auch in anderen Berufen, z.B. bei Leuten, die sich als Quacksalber aufspielen, aber weil es Aufsichtsbehörden gibt, ist es einfacher, jemanden zu Fall zu bringen. Wenn es kein Gremium gibt, dann heißt es „diese Gruppe von Individuen gegen diese bestimmte Person“.

Wir haben bei diesem Thema wirklich noch so viel Arbeit vor uns. Ich schätze es, dass MuslimLink.ca das Thema des spirituellen Missbrauchs aufgreift. Für mich ist es unnötig, dass Menschen auf diese Weise leiden müssen. Teil des spirituellen Missbrauchs ist es, den Menschen das Gefühl zu geben, dass sie sich alles nur eingebildet haben. Im Laufe der Jahre haben mir so viele Menschen gesagt: „Ich muss einfach wissen, dass ich mir das nicht eingebildet habe. Was mir passiert ist, ist wirklich falsch.“ Manchmal ist das alles, was sie hören müssen.

Quelle des Originaltexts: https://muslimlink.ca/stories/muslim-spiritual-abuse-salma-abugideiri