Zwischenfazit

Muslimische Psychologen der Gegenwart können auf eine großartige psychologische Ideengeschichte in den Werken muslimischer Gelehrter zurückblicken. Über einen Zeitraum von 14 Jahrhunderten haben diese während der Blütezeit des Islams (9.–13. Jahrhundert), der sogenannten Phase des Niedergangs (14.–19. Jahrhundert) und während der Phase der Wiederbelebung (20./21. Jahrhundert) psychologische, psychotherapeutische und psychiatrische Themen bearbeitet. Grundlegende psychologische Ideen und Theorien sowie psychologische Behandlungspraxis standen dabei im Zentrum des Interesses. Insbesondere während der letzten 40 Jahre haben muslimische Psychologen in der englischsprachigen Literatur begonnen, auf diese Tradition zurückzugreifen und den Versuch unternommen, einen modernen Entwurf einer islamischen Psychologie zu erarbeiten. Ein solcher Versuch lässt sich in der arabischen Literatur bereits 30 Jahre vor der englischsprachigen Literatur vorfinden, eine Systematisierung steht jedoch noch aus.

Die Gegenwartsliteratur wurde maßgeblich durch die prosperierende psychologische Wissenschaft im Westen stimuliert. Aus dieser Reaktion herauslassen sich zwei distinkte Stadien der Theorieentwicklung erfassen: Im Verlauf der 70er, 80er und 90er Jahre haben muslimische Psychologen vor allem ihren Standpunkt gegenüber der westlichen Psychologie definiert (Stadium der Identitätsfindung). Die Positionen reichen dabei von einer unkritischen Übernahme westlicher Theorien bis zur kompletten Ablehnung der wissenschaftlichen Psychologie und der Etablierung einer Theorie der menschlichen Natur ausschließlich auf Basis islamisch-religiöser Vorstellungen. Seit Mitte der 90er Jahre haben muslimische Psychologen begonnen, vermehrt an der Entwicklung eines eigenen Referenzrahmens für eine islamische Psychologie zu arbeiten (Stadium des Veränderungsanspruches). Dabei lässt sich eine tendenziell theoretisch-orientierte islamische Psychologie, die ihre Annahmen entscheidend aus den islamischen Quelltexten ableitet, von einer empirisch-orientierten islamischen Psychologie unterscheiden, die sich empirisch mit Muslimen beschäftigt. Auch lässt sich eine Position ausmachen, die beide Ansätze miteinander in Einklang bringt. Eine grundlegende Fragestellung während des weiterhin andauernden Stadiums des Veränderungsanpruches ist, was islamisch an einer islamischen Psychologie ist bzw. sein kann oder soll.

Muslimische Psychologen haben einen thematisch und methodologisch breitgefächerten Literaturkorpus erarbeitet, in dem eine islamische Psychologie lediglich eine Arbeitslinie einer größeren intellektuellen Strömung darstellt, die sich als Islam und Psychologie-Strömung bezeichnen lässt. Diese Strömung umfasst sowohl grundlagenwissenschaftliche als auch anwendungsorientierte Arbeitslinien, die in den letzten Jahren vermehrt in die praktische Psychologie getragen werden konnten. Grundlagenwissenschaftlich spielt eine große Rolle, wie genau der Dialog zwischen islamischen und psychologischen Gegenstandsbereichen ablaufen kann. Weiterhin stehen islamisch-psychologische Schlüsselkonzepte wie Nafs, Qalb, ‘Aql, Ruh und Fitra und darauf basierende Persönlichkeitstheorien im Fokus der Aufmerksamkeit. Die anwendungsorientierte Literatur kann unterschiedlich konzeptualisiert werden; wir haben diese dreiteilig dargestellt in: islamischen Therapieformen und Beratungspraxis, kultursensiblen Ansätzen und Muslim Mental Health-Arbeiten. Inzwischen lässt sich weltweit eine wachsende Anzahl von universitären und klinischen Ausbildungsprogrammen verzeichnen, die sich auf die bisher stattgefundene Theoriearbeit beziehen, die aber dringend weiterer theoretischer, insbesondere wissenschaftstheoretischer Fundierung bedarf.

Wir haben in diesem Buchkapitel versucht, die relevante Literatur für die verschiedenen Bereiche der Islam und Psychologie-Strömung systematisch darzustellen. Dies soll dem Leser einen Kompass zur Navigation durch die Publikationslandschaft an die Hand zu geben. Im folgenden Abschnitt werden wir die Gegenwartsliteratur einer kritischen Würdigung unterziehen.

In 2 Wochen werden wir die besprochenen Inhalte kritisch würdigen.

Über diese Blogreihe

Nachdem wir uns im IASE Blog bereits den Themenfeldern „Die Terra Incognita der islamischen Psychologie“ und den „Instituten und Vereinigungen muslimischer Psychologen“ zugewandt haben, beschäftigen wir uns in dieser Blogreihe detaillierter mit der Literatur zum Thema islamische Psychologie in ihrer geschichtlichen Entwicklung und ihrem Gegenstand. Diese Blogreihe erscheint alle zwei Wochen am Sonntag. Die Inhalte sind aus der theoretischen Einführung in den Sammelband „Islam und Psychologie – Beiträge zu aktuellen Konzepten in Theorie und Praxis“ entnommen, der zum Beispiel hier erhältlich ist. Darin findet Ihr auch ein Literaturverzeichnis für die verwendeten Quellen.