Muslim Mental Health: Die psychische Gesundheit von Muslimen

Haque et al. (2016, in diesem Band) finden in der anwendungsorientierten Literatur einen weiteren Theorie- und Themenstrang: Die Entwicklung und Normierung von Erhebungsverfahren und Skalen für Muslime. Wir möchten diesen Bereich als Muslim Mental Health-Literatur bezeichnen und der Skalenentwicklung (z. B. Dasti & Sitwat, 2014, in diesem Band) mit dem Bereich der epidemiologischen Studien ein zweites Interessensfeld beistellen (z. B. Qadir et al., 2016). In beiden Bereichen liegen hunderte Veröffentlichungen von Muslimen vor, die sich mit Fragestellungen der Familie, Jugend, Identität, Akkulturation, Religiosität und Spiritualität, Stigmata und Einstellungen, Traumata und Flüchtlingen auseinander setzen.

Der Wissenszweig Muslim Mental Health wurde mit der ersten Ausgabe des Journal of Muslim Mental Health im Jahr 2006 von Hamada Hamid, Assistenzprofessor für Neurologie und Psychiatrie an der Yale Universität und Abdul Basit, ehemaliger Direktor des Multicultural Mental Health Services an der Universität Chicago begründet (Kaplick & Rüschoff, 2018). Muslim Mental Health umfasst empirische Studien zur Rolle der muslimischen Kultur in der psychischen Gesundheit und so  mit insbesondere von Muslimen. Dies involviert gesundheitsorientiertes Verhalten, die Effekte der sozialen Umwelt auf die psychische Gesundheit oder die Frage, wie religiöse Praktiken psychiatrische Symptomatologie beeinflussen (Basit & Hamid, H., 2006).

Einführende Arbeiten zu Muslim Mental Health sind ausreichend erhältlich (z. B. Ahmed & Amer, 2012; Sabry & Vohra, 2013). Auch wenn Muslim Mental Health in den meisten Arbeiten in der Islam und Psychologie-Strömung Erwähnung findet, existiert eine Kontroverse darüber, ob Muslim Mental Health als integrierter Teilbereich der Strömung oder unabhängig als Zweig der Gesundheitswissenschaften betrachtet werden sollte. Das klassische Argument gegen eine Integration in die Islam und Psychologie-Literatur führt Arbeiten zu Depression unter Muslimen pakistanischer Abstammung an (z. B. Meer & Mir, 2014; Qadir et al., 2014), die, auch wenn sie Muslime untersuchen, keinerlei Potential für die Theoriebildung aufzeigen (Kaplick & Skinner, 2017). Eine entgegengesetzte Position argumentiert, dass Forschung, die die Effizienz klinischer Interventionen aufzeigt, die aus islamischen Quelltexten abgeleitet werden, dagegen einen konzeptionellen Beitrag leisten kann (Kaplick & Skinner, 2017). Haque und Kollegen (2016, in diesem Band) betrachten im Sinne dieser Meinung prinzipiell jegliche Forschung kritisch, die nicht auf klinisch-psychologische Anwendungsmöglichkeiten ausgerichtet sind. Wissenschaftspolitisch ist der Standpunkt, die Muslim Mental Health-Literatur in die Islam und Psychologie- Strömung zu integrieren, darauf ausgerichtet, quantitativ an Veröffentlichungen zu gewinnen und somit schneller als existierender Wissenszweig erkannt zu werden.

In der Entwicklung von Interventionen und Techniken zielen viele Publikationen darauf ab, therapeutische Interventionstechniken aus bestehenden Schulen zu adaptieren (Alavi, 2001; Azhar et al., 1994; Azhar & Varma, 1995a, 1995b; Carter & Rashidi, 2004; Hamdan, 2008; Hedayat-Diba, 2000; Hodge & Nadir, 2008; Naeem et al., 2010; Razali et al., 1998, 2002). Daneben entwickeln Autoren auch eigenständige islamische Interventionen und Techniken. In diesem Rahmen sind Arbeiten zu psychologischen Aspekten islamischer Glaubenspraxis, d. h. die eine psychologische Wirkung religiöser Riten per se annehmen (BaHammam & Gozal, 2012; El-Azayem & Hedayat-Diba, 1994; Eneborg, 2013; Goels, 1996; Kaviani, n. d.; Kellner, 1997; Salam, Abdul Wahab & Ibrahim, A.B., 2013; Tekke & Watson, 2017), von solchen zu unterscheiden, die in einen therapeutischen Rahmen eingebettet werden. Versuche zur Entwicklung von Interventionen auf Basis der islamischen Quelltexte sind noch überschaubar (z. B. Mohamad, M.A. & Othman, 2016), so dass soweit keine systematische Übersicht existiert. Diese Perspektive der Entwicklung von Interventionen und Techniken weist Ähnlichkeiten mit der Arbeitslinie der Entwicklung islamischer Therapieformen und Beratungspraxis auf. In der Muslim Mental Health-Literatur ist dieses Bestreben jedoch eindeutig auf die Anwendung bei Muslimen ausgerichtet.

Forscher um Hamada Hamid arbeiten gegenwärtig an einer Studie zur sozialen Netzwerkanalyse der Muslim Mental Health-Literatur, die einen Meilenstein in der Literatur darstellen wird. Ein kurzer Einblick in die noch vorläufige Datenlage  kann ein Gespür für die momentane Disposition dieses Forschungszweigs schaffen. Ziel sozialer Netzwerkanalysen ist die Quantifizierung von Verbindungen zwischen Objekten bzw. Personen in einem System, im vorliegenden Beispiel konkret von Netzwerken von Koautorenschaften in der Muslim Mental Health-Literatur mit dem Ziel die produktivsten und kollaborativsten Forscher in der Literatur auszumachen. In einer Literaturrecherche (Kriterien: Muslim* OR Islam* AND Subject=Mental Health, PsychInfo Datenbank für die Jahre 2005–2015) ergab die Suche nach einer vorläufigen Datenbereinigung fast 3000 Artikel mit über 8000 Koautoren vor allem zu Themenbereichen der Psychopathologie, jedoch auch zu den klassischen Muslim Mental Health Themen Stigmata und Einstellungen, Familie, usw. Wie auch in der Literatur zur islamischen Psychologie sind viele Arbeiten noch das Produkt weniger Autoren. Es zeigt sich jedoch vor allem in den letzten Jahren die Entwicklung stärkerer internationaler und interdisziplinärer Kooperationen.

Zusammenfassend schlägt Skinner (2009, 2010) vor, die genannten Therapie- und Beratungsansätze auf einem biologisch-spirituellem Kontinuum zu konzeptualisieren: Dieses reicht von physisch-orientierten Ansätzen (z. B. unter Zuhilfenahme von Heilkräutern und der Ernährungsumstellung durch Hakims/traditionelle Heiler) bis hin zu spirituellen Heilmaßnahmen (z. B. durch einen Shaykh/religiös-spirituelle Autorität im Islam). Alle diese Therapieformen und Beratungsansätze, seien sie primär an islamischen Gedankengut oder den diversen kulturellen Hintergrund von Muslimen orientiert, entsprechen den Bedürfnissen verschiedener Populationen von muslimischen Patienten (Dharamsi & Maynard, 2012). Eine genaue Kenntnis dieser Orientierungen kann in der Arbeit mit Muslimen von Vorteil sein, um ihnen gegebenenfalls einen geeigneten Spezialisten zu empfehlen.

In 2 Wochen beschäftigen wir uns mit universitären und klinischen Ausbildungsprogrammen, in denen Inhalte von Islam und Psychologie und zur psychischen Gesundheit von Muslimen vermittelt werden.

Über diese Blogreihe

Nachdem wir uns im IASE Blog bereits den Themenfeldern „Die Terra Incognita der islamischen Psychologie“ und den „Instituten und Vereinigungen muslimischer Psychologen“ zugewandt haben, beschäftigen wir uns in dieser Blogreihe detaillierter mit der Literatur zum Thema islamische Psychologie in ihrer geschichtlichen Entwicklung und ihrem Gegenstand. Diese Blogreihe erscheint alle zwei Wochen am Sonntag. Die Inhalte sind aus der theoretischen Einführung in den Sammelband „Islam und Psychologie – Beiträge zu aktuellen Konzepten in Theorie und Praxis“ entnommen, der zum Beispiel hier erhältlich ist. Darin findet Ihr auch ein Literaturverzeichnis für die verwendeten Quellen.