Verschwommene Grenzen: Frauen, „berühmte“ šuyūḫ (Gelehrte) und spiritueller Missbrauch[1]

von Zaynab Ansari, übersetzt von Corinna Küster (Initiative Nafisa)

„Ihr, die ihr glaubt, steht für die Gerechtigkeit ein als Zeugen für Gott, auch wenn es gegen euch selbst wäre oder gegen die Eltern und Angehörigen. Ob einer reich ist oder arm, Gott steht beiden ganz nahe. Folgt nicht dem Gelüst, statt gerecht zu verfahren! Wenn ihr euch aber umdreht oder abwendet – Gott weiß genau, was ihr tut.“[1] (Koran 4/135)

„Der Prophet Muḥammad, Allah segne ihn und schenke ihm Heil, sagt: „Religion ist guter Rat.“ Wir [die die Prophetengefährten] fragten: „Wem gegenüber?“ Er, Friede sei auf ihm, sagte: „Gegenüber Allah, Seinem Buch, Seinem Gesandten, den Führern der Muslime und dem Volk.““ (Muslim)

„Es wurde gesagt, dass ein Mann der Kinder Israels so viel Wissen aus Büchern erlangte, dass es achtzig Gewölbe zu füllen vermochte. Doch gereichte ihm dieses Wissen nicht zum Vorteil. Allah, der Erhabene, offenbarte dem Propheten dieser Zeit, jenem Mann zu sagen: „Auch wenn du noch mehr Bücher studierst, um dein Wissen zu vertiefen, so wird es dir immer noch keinen Nutzen bringen, denn du handelst nicht nach diesen drei Dingen: (1) Binde dich nicht an diese Welt, denn diese Welt ist keine bleibende Stätte für die aufrichtig Glaubenden (muʾminīn); (2) sei kein Freund des Satans, denn er ist kein Freund der aufrichtig Glaubenden; (3) schade keinem der Geschöpfe Allahs, denn dies ist nicht das Wesen eines jeden aufrichtig Glaubenden.“‘[2]

Erklärung: Der folgende Artikel vertritt meine eigenen Ansichten und nur diese allein. Jegliche Verknüpfung des folgenden Inhalts mit Personen oder Organisationen, mit denen ich derzeit arbeite oder mit denen ich in der Vergangenheit gearbeitet habe, sollte unterbleiben. Die Ereignisse, die den folgenden Darstellungen zugrunde liegen, haben nachweisbar stattgefunden, auch wenn Namen und Informationen, aufgrund derer Personen zu identifizieren wären, aus Datenschutzgründen nicht genannt oder angegeben werden. Anmerkungen und Fragen zu diesem Thema sind ausdrücklich erwünscht, jedoch werde ich mich nicht an Spekulationen zu Identitäten der Personen, die hier beschrieben werden, beteiligen. Auch geht es in diesem Aufsatz nicht um einen bestimmten Zugang zum Islam, um eine bestimmte Denkrichtung oder minhaǧ [Methode],[3] sondern um menschliches Verhalten.

 Im Namen Gottes, des Herrn der Barmherzigkeit und des Erbarmers.[4]

Meine Rolle als Lehrerin und Sprecherin im von Männern dominierten Feld des „traditionellen Islams“[5] weckt häufig Neugier bei den Menschen. „Was macht eigentlich eine Frau, die als Gastwissenschaftlerin (scholar-in-residence) tätig ist?“, werde ich des Öfteren gefragt. Meine Rolle erscheint gerade nichtmuslimischen Fragestellern ein wenig als Kuriosum, vor allem mit Blick auf das vorhandene, üblicherweise von den Medien kolportierte Bild der unterdrückten muslimischen Frau. Für den muslimischen Fragesteller geht die Frage jedoch weiter in die Tiefe. Für einige Frauen stelle ich ein potenzielles Rollenvorbild und eine Mentorin für ihre Töchter dar. Für einige Männer vertrete ich die selten anzutreffende Frau aus mit dem traditionellen Islam assoziierten Kreisen, die bereitwillig in der Öffentlichkeit spricht. Ich bin in gleichem Maße dazu aufgerufen, für die Frauen im Publikum zu sprechen, wie meine Anwesenheit am Rednerpult auf (islamisch rechtlicher) Grundlage der Scharia zu verteidigen. Die meist sehr dankbaren Veranstalter sind davon überzeugt, dass ich zu den vielfältigen Perspektiven beitrage, die sie ihrerseits den Zuhörern anbieten möchten. Ich stelle vermeintlich – als oft einzige Frau in einer Reihe von sonst ausschließlich männlichen Referenten – eine Fortsetzung der Tradition der gelehrten muslimischen Frau dar.

Auf den ersten Blick mag es so erscheinen, als würde ich erfolgreich die Genderpolitik der amerikanischen muslimischen Konferenzszene verhandeln. Tatsächlich zeigen sich die Spannungen zwischen meiner öffentlichen Rolle und meiner privaten Realität jedoch abseits des Rednerpults. Es bereitet mir Freude, von Lehrern, Predigern und šuyūḫ [Gelehrten], die die Konferenzen, Veranstaltungen und Klausurtagungen besuchen, welche die amerikanisch-islamische sozio-intellektuelle Szene begründen, zu lernen sowie mich mit ihnen auszutauschen; dennoch habe ich Momente erlebt, die mich innehalten ließen. Dies sind jene Momente, in denen die Grenzen zwischen der öffentlichen Welt des „berühmten“ šayḫ [Gelehrten] und seinem Privatleben verschwimmen und in denen die Frauen, die Teil beider Welten sind, sich an mich wenden, um für sich Klarheit zu erlangen.

Als ich damit begann, islamische Ratgeberkolumnen zu schreiben, war ich gänzlich unvorbereitet für die Fülle an Anfragen, die Männer und Frauen aus der ganzen Welt an mich richten würden. Ein früherer Kollege meinte, dass die Arbeit wohl nicht schwierig werden würde: „Du wirst einfach die muslimische Version von Dear Abby[6] sein“, witzelte er. Solange Abby jedoch keine Fragen zum Recht der Scharia bewältigen muss, gelangte ich jedoch zu der Erkenntnis, dass ich mit seiner Einschätzung nicht übereinstimme. Im Laufe der Jahre kamen Tausende von Anfragen zu jeder nur erdenklichen Fragestellung, wie etwa zu Theologie, Koranexegese, Hadithwissenschaften, Menschenrechten, Umweltschutz, Behinderung, Ehe- und Familienrecht, Sexualität, Geschlechterbeziehungen, islamischem rituellen Recht, Geschichte, Politik … die Liste lässt sich fortsetzen. Mir wurde schnell klar, dass die muslimische (Internet-)Öffentlichkeit in einem schnelleren Maße Antworten konsumierte und einforderte, als ich oder irgendein anderer Autor ihnen diese liefern konnte. So begannen zukünftige Studierende der islamischen Wissenschaften – einen hohen Prozentteil davon stellten Frauen – sich für Veranstaltungen bei den von ihnen favorisierten Lehrern und Wissenschaftlern anzumelden, vielleicht auch deshalb, weil sie mit den vom Inhalt und Umfang her begrenzten Möglichkeiten der islamischen Antworten und der „quasi“-fatāwā [Rechtsgutachten] im Internet unzufrieden waren. Auch pilgerten sie zu Klausurtagungen, Intensivseminaren und Konferenzen, wo sie auf der Suche nach der persönlichen Begegnung waren, an der es den Internetforen mangelte.

Diese Verbindung von elektronischer Überlieferung islamischer Inhalte und persönlicher Interaktion mit Gelehrten und Lehrern bei Veranstaltungen vor Ort hat zu einer Revolution der traditionellen Art des islamischen Wissenserwerbs geführt.[7] Mit einem Male mussten die Studierenden nicht länger Tausende von Dollars für eine Ausbildung im Ausland ausgeben und den Kulturschock erfahren, der mit dem Auslandsaufenthalt einherging. Nun konnten sie bequem von ihren Rechnern daheim – und im zunehmenden Maße mit ihren Smartphones – auf religiöse Quellen zugreifen und sogar in Echtzeit mit ihrem Lehrer kommunizieren, indem sie von Skype, Chat und anderen sofortigen Nachrichtendiensten Gebrauch machten. Von einem Moment auf den anderen war die Distanz zwischen Studierenden und Lehrern geschrumpft, und die Grenzen des Anstandes, die die öffentlichen Interaktionen von Männern und Frauen umgaben, verlagerten und lockerten sich. Das Verschwimmen von Grenzen, das durch diese technologische Revolution hervorgerufen wurde, hatte Fanseiten für ʿulamāʾ (Gelehrte), Freundschaftsanfragen an nicht verwandte Männer und Frauen auf Facebook, das Verfolgen der Profile von Lieblingslehrern in den sozialen Medien sowie das zwanglose Senden von Nachrichten an zuvor unerreichbare Personen zu jeder Tages- und Nachtzeit zur Folge.

Adab im Internet

Aus der Perspektive der Demokratisierung des islamischen Wissens mögen die oben skizzierten Entwicklungen vielversprechend erscheinen. Aus der Sicht des adab (Verhaltensregeln), der „Umgangsformen zwischen Männern und Frauen“ – wie eine prominente weibliche Gelehrte dies so trefflich formulierte – der Integrität des Wissens selbst und seiner Vertreter sowie mit Blick auf die Sicherheit der Familienstruktur sind die oben ausgeführten Entwicklungen besorgniserregend.[8] Bevor ich darlege, warum ich diesen Trend mit Sorge betrachte, möchte ich einige Worte zum „berühmten“ šayḫ sagen. Sollte ich den Eindruck erweckt haben, dass ich unsere ʿulamāʾ [Gelehrten] geringschätze, so versichere ich, dass dies nicht der Fall ist. Ich denke nicht, dass Lehrer, Gelehrte und Referenten es darauf anlegen, berühmt zu werden. Ich bete darum, dass wir alle, die wir in einer öffentlichen Funktion dienen, Imam al-Ġazālīs (möge sich Allah seiner Seele annehmen und sein Geheimnis geheiligt werden) Mahnung an die Lehrer des religiösen Wissens lesen und immer wieder lesen, vor allem was die eigene Anfälligkeit anbelangt, überheblich zu sein, zu protzen und Anhänger um sich zu scharen. Meiner Meinung nach wird der prominente šayḫ zum Opfer seines eigenen Erfolges, wird zum Produkt einer technikgläubigen Kultur, die jedem ʿālim [Gelehrten], jeder Schule und jeder Einrichtung vorschreibt, entweder ihre „authentischen“, „klassischen“ und „traditionellen“ islamischen „Produkte und Dienstleistungen“ zu vermarkten oder aber unterzugehen. Mehr noch, der prominente šayḫ ist auf ein Podest gehoben worden, auf dem er nun thront, ein Podest der unanfechtbaren Frömmigkeit und des tadellosen Charakters, ein Podest des „Sehe ich kein Unrecht, gibt es kein Unrecht“, auf den wir, die bewundernden Studierenden, diesen nur zu fehlbaren Menschen gehoben haben, als sei er in der Tat übermenschlich.

Wir erweisen uns selbst und unseren Lehrern einen Bärendienst, wenn wir sie über die zerbrechliche Natur des Menschen hinaus erheben. Unsere ʿulamāʾ, Lehrer und mašāyiḫ [Gelehrte] sind nicht vollkommen. Sie sind mit Makeln behaftete Menschen, die mit den gleichen Schwächen, Unzulänglichkeiten und Herausforderungen zu kämpfen haben wie wir alle. Der einzig vollkommene Mensch war der Prophet Muḥammad, Allahs Frieden und Segen seien auf ihm. Und bei der Lektüre seiner Biografie stellen wir fest, dass sogar er, Friede sei auf ihm, sowie seine Ehefrauen, seine Gefährten und seine Wegbegleiter sich mit realen menschlichen Problemen auseinandersetzen mussten. Warum also streben wir heutzutage danach, unseren Lehrern und Gelehrten den Nimbus der Perfektion zuzuschreiben? Es ist verständlich, dass wir für den Menschen, der uns lenkt und anleitet, Zuneigung empfinden, aber inwieweit dienen wir den Vertretern unserer Religion damit, sie über jeden Zweifel zu erheben?

Ich möchte die Behauptung aufstellen, dass wir für unsere religiösen Führungspersönlichkeiten ein geradezu toxisches Umfeld geschaffen haben: ein Umfeld, in dem die angemessenen Grenzen zwischen Studierenden und Lehrern verschwimmen; eine Umgebung, in der Machtmissbrauch weit verbreitet ist, und in der insbesondere Frauen Täuschungen aufliegen und spirituellem Missbrauch ausgesetzt sind. Der Grund, warum ich dieses Thema zur Sprache bringe, ist nicht, um Uneinigkeit (fitna) in den Reihen der Muslime zu schüren, sondern um unsere Führungspersonen, unsere Ältesten und unsere Gemeinschaft zu ermahnen, dieses soziale Übel anzupacken, bevor wir all unsere Glaubwürdigkeit verlieren, wenn es um die koranische Verfügung an die Gläubigen geht: „Ihr seid die beste Gemeinschaft, die für die Menschen hervorgebracht worden ist. Ihr gebietet das Rechte, untersagt das Verwerfliche und glaubt an Gott.“ (Koran 3/110)

Den Islam in und außerhalb der Öffentlichkeit zusammenbringen

Es ist unabdingbar, dass unsere Religionsvertreter, insbesondere diejenigen, die von sich behaupten, spirituelle Lehrer zu sein, auch das praktizieren, was sie predigen. Unsere ʿulamāʾ sind keine Politiker, für die eine größere Diskrepanz zwischen öffentlichem Bild und privatem Verhalten angenommen werden kann. Ja, unsere ʿulamāʾ sind fehlbar, dennoch tragen sie die Verantwortung, die Spannungen, die ihren Rollen innewohnen, die Fallen und Tücken der Kultur des berühmten šayḫ und die Integrität der Rollen, die sie bekleiden, zu erkennen. Wie können unsere Religionsvertreter in der Öffentlichkeit Plattitüden zum Empowerment und zur Stellung der Frau im Islam vortragen, während sie privat, jenseits der Öffentlichkeit, gerade jene Rechte, die sie zu würdigen vorgeben, unterlaufen? Inwiefern ist es hinnehmbar, in der Öffentlichkeit Respekt für Frauen kundzutun, und sie im privaten Bereich nur als wenig mehr denn sexuelle Eroberungen zu erachten?

Es ist mir kürzlich bekannt geworden, dass es wohlbekannte Personen gibt, die ihre Rolle für weit mehr nutzen als für die Verbreitung der Lehre des Islams. Es liegen Hinweise vor, die zeigen, dass diese Personen ihre Stellung in Kreisen des religiösen Wissens nutzen, um Anhängerinnen zu schmeicheln, sie zu umwerben und anzulocken mit Heiratsversprechen, Kontakt zu šuyūḫ, Studienaufenthalten im Ausland und Zugang zu exklusiven sozio-spirituellen Netzwerken. Unter dem Deckmantel des Mentoring führen sie private, unbeaufsichtigte Unterhaltungen mit heiratsfähigen Personen des anderen Geschlechts. Diese Unterhaltungen, die in der relativen Anonymität des Cyberspace stattfinden, bilden offenbar die ganze Palette ab und reichen vom recht unverfänglichen Austausch biografischer Informationen (vergleichbar der Brieffreundschaft in der Ära vor dem Computer) zu Inhalten, die nur Gedanken hervorrufen, bis hin zu Gefühlen, die gänzlich unangebracht sind. Diejenigen, die diese Unterhaltungen damit entschuldigen, dass sie den Auftakt zur Ehe darstellen, möchte ich lediglich daran erinnern, dass die an diesem Szenario beteiligten Personen das islamische Recht lehren und sich daher voll und ganz darüber im Klaren sind, dass im Islam Regeln rund um die Werbung existieren. Ich weise auch darauf hin, dass wenn besagter Lehrer mit mehreren Frauen gleichzeitig Unterhaltungen führt, sich uns darüber hinaus ein mathematisches Problem stellt. Das islamische Recht erlaubt es einem Mann, vier Frauen zu heiraten, wenn also der bereits verheiratete Lehrer mehrere Frauen gleichzeitig „umwirbt“, kann nur ein bestimmter Prozentanteil erwarten, dass die Beziehung legitimiert wird. Was ist dann mit dem restlichen Prozentanteil? Noch einmal, ein mathematisches Problem.

Man könnte als Entschuldigung hervorbringen, dass unsere ʿulamāʾ keine Mathematiker sind. Das ist wahr, aber sicherlich verfügen sie zumindest über Grundkenntnisse der Newton’schen Physik, die besagt, dass „auf jede Reaktion eine gleichwertige und gegensätzliche Reaktion erfolgt“. Nachdem die Lehrer kaltherzig berechnet haben, wen sie aus dem Kreis der sie verehrenden Studentinnen für eine Ehe auswählen und wen sie davon ausschließen, sehen sie sich vielleicht gut in der Lage, die Sache hinter sich zu lassen, und sagen der nächsten aufregenden oder lukrativen Vortragsverpflichtung zu. Den Frauen jedoch, denen die Heirat versprochen war und die dann sitzen gelassen wurden, fällt die Sache ungleich schwerer. Dass mit ihnen gespielt wurde, können sie nicht so einfach auf die leichte Schulter nehmen, insbesondere dann nicht, wenn der Spieler der verehrte šayḫ ist. Man kann nur erahnen, wie sich die Sichtweise dieser Frauen auf den Islam verändert, vor allem wenn der šayḫ ihr Islam war.

Eine unmittelbare Konsequenz des Handelns und Entscheidens dieser Personen ist die Desillusionierung, Verbitterung und Niedergeschlagenheit dieser Frauen. Jedes Mal wenn diese Personen ihre Stimmen erheben, um ihre aufrichtige Liebe zum dīn [zur Religion] zu verkünden, sinken die Herzen dieser Frauen noch ein Stückchen tiefer. Der Schaden fällt umso ungeheuerlicher aus, wenn es sich bei diesen Frauen tatsächlich um Exfrauen der šuyūḫ handelt. Üblicherweise sind diese Frauen zunächst eifrige Studentinnen, die übers Internet eine Bekanntschaft mit dem šayḫ herstellen (oder mit denen der šayḫ Kontakt aufnimmt), die sich dann zu Scherz und Flirt auswächst, bis schließlich Versprechen zur festen Bindung ausgesprochen werden, Gespräche über eine Heirat erfolgen etc. In einigen Fällen macht der šayḫ den Heiratsantrag, in anderen Fällen tun dies die Frauen. Das Vorhandensein einer ersten Ehefrau ist jedoch in allen Fällen der gemeinsame Nenner. Auf ihr Dasein wird häufig in den Unterhaltungen übers Internet angespielt, trotzdem wird ihre Zustimmung zur Beziehung nur selten eingeholt. Es wird entweder verlautbart, sie sei „damit einverstanden“, oder es wird angenommen, sie sei in der Lage, „damit umzugehen“. In den meisten Fällen ist die erste Ehefrau jedoch weder mit der Situation einverstanden, noch ist sie in der Lage, damit umzugehen. Tatsächlich hat die arme Frau in den allermeisten Fällen keinen blassen Schimmer, dass die andere Frau überhaupt existiert, bevor es zu spät ist.

Ṭalāq [Scheidung] per SMS

Da es die Absicht dieses Essays ist, auf die Misere der „anderen Frau“ aufmerksam zu machen, werde ich die Situation der ersten Ehefrau nicht übermäßig bemühen und nur festhalten, dass wenn die Liebschaften und Ehen ihres Ehemannes aufgedeckt werden, das Vertrauen zu ihm unwiderruflich zerstört ist. Im Falle, dass die Frau gesetzlich verheiratet ist (durch die Gesetze der Vereinigten Staaten beispielsweise), mag sie einige Möglichkeiten haben, eine Entschädigung zu erhalten. Der anderen Frau stehen diese Mittel jedoch nicht zur Verfügung. Auf gesetzlichem Wege hat die geheime zweite (oder dritte oder vierte) Ehefrau des šayḫ keine Möglichkeit, ihre Rechte einzufordern. Ihr islamischer nikāḥ (Ehevertrag) ist rechtlich nicht durchsetzbar, sodass sie sich in einer extrem verwundbaren Position befindet. Es ist eine Lage, in der sich niemand seine Tochter oder Schwester wünschen würde, trotzdem widerfährt dies guten Frauen aus guten Familien. Als geheime zweite Ehefrau des šayḫ erhält die arme Frau weder öffentliche Anerkennung noch Respekt. Sie kann mit ihm weder bei Versammlungen erscheinen, noch kann sie sich der Gemeinde vorstellen. Auch darf sie es nicht wagen, zur ersten Ehefrau Kontakt aufzunehmen und sich ihr mitzuteilen, um nicht der fitnah [hier: Stiften von Unruhe] beschuldigt zu werden. Um diesen Kränkungen noch eine weitere hinzuzufügen, wird der šayḫ, der sich nicht einmal dazu herablassen kann, die Frau öffentlich anzuerkennen, die eheliche Verbindung aufrechterhalten und alle Freuden der Ehe genießen, ohne die Verantwortung zu übernehmen, denn in vielen Fällen stattet er die zweite geheime Ehefrau weder mit einem ehelichen Zuhause aus, noch gewährt er ihr eine finanzielle Unterstützung. Als Krönung des Ganzen wird er, wenn er mit seiner zweiten Ehefrau abgeschlossen hat, die Ehe ohne viele Umstände beenden – es sei denn, man hält ṭalāq per SMS für umständlich. Wenn die Frau, wie vorauszusehen ist, negativ darauf reagiert – was wohl jede unter diesen Umständen tun würde – wird sie vom šayḫ und seinen Anhängern als „instabil“ abgetan.

Ich möchte die Leser mit einigen Gedanken zurücklassen. Was ist das gebrochene Herz einer Frau wert? Was bedeutet uns der verlorene Glaube einer Frau? Was würde der Prophet, Allahs Frieden und Segen seien auf ihm, der seine Ehen in vollständiger Transparenz führte, über uns denken? Ist es richtig, seinen Zugang zu Wissen und Lehrern als Lockmittel für bedürftige und verletzliche Frauen zu nutzen? Ist es fair, heimlich eine Frau zu heiraten, wohlwissend, dass man nicht über die Mittel verfügt, sie zu unterstützen? Wenn ein Mann hinter dem Rücken seiner Ehefrau heiratet, bringt er dem Bund der Ehe wirklich die angemessene Wertschätzung entgegen? Wenn Einzelpersonen ihre religiöse Autorität auf diese Art und Weise missbrauchen, bewahren sie damit die Integrität der Tradition, die ihnen anvertraut ist? Ist es nicht inkonsequent, in der Öffentlichkeit über Bescheidenheit und den niqāb (Gesichtsschleier) für Frauen zu sprechen, in der privaten Kommunikation jedoch diese Zurückhaltung fallen zu lassen? Wir sollten sehr sorgfältig darüber nachdenken, wie wir als Lehrer, Gelehrte, mašāyiḫ und Studierende zu den verschwommenen Grenzen beitragen, die zerrüttete Familienverhältnisse, gebrochene Herzen und den gebrochenen Geist der Betroffenen zur Folge haben.

„Beim Nachmittag! Der Mensch steckt im Verlust. Außer denen, die glauben, gute Werke tun, einander zur Wahrheit mahnen und zur Standhaftigkeit.“ (Koran 103/1-3)

Kommentare, Fragen und Antworten[9]

Auch wenn die Reaktionen zu meiner Stellungnahme überwiegend positiv ausfielen, bemängelten einige Leser den Artikel aus folgenden Gründen:

Ich hätte Namen nennen sollen. Solange ich keine Namen preisgebe, sehe sich jeder šayḫ und Referent, der im Veranstaltungsverzeichnis einer Tagung geführt wird, von mir unter Generalverdacht gesetzt.

Meine Antwort:

Ich habe keine Namen genannt und werde dies auch zukünftig nicht tun, da es nicht die Absicht meines Artikels ist, die Übeltäter zu identifizieren. Vielmehr ist mein Hauptanliegen das Verhalten von Einzelpersonen, die ihre gelehrte Autorität zu ihrem persönlichen Vorteil nutzen. Ich bin weder daran interessiert, eine Hexenjagd zu initiieren, die die Karriere von Personen zerstört, noch daran, wie es eine Person auf Facebook ausdrückte, „die islamische Gelehrsamkeit zu untergraben“. Mein Artikel war sehr pointiert formuliert, ja, dies war von mir beabsichtigt. Ich schrieb ihn aus der Sichtweise der „anderen Frau“, d.h. aus dem Blickwinkel der sitzen gelassenen, geheimen zweiten Ehefrau, weil ich denke, dass ihre Lage veranschaulicht, in welchem Maße die Integrität des religiösen Wissens und seiner Lehrer kompromittiert werden. Es ist mein Wunsch, dass die Personen, die Machtpositionen innehaben oder die islamische (intellektuelle) Öffentlichkeit beeinflussen, meinen Rat bedenken und die (moralischen) Grenzen wieder einsetzen, die meines Erachtens zum Nachteil von Lehrern und Studierenden weggefallen sind.

In diesem Artikel geht es auch nicht um spezielle Einzelpersonen, auch wenn einige Fälle herausragten, die sich als besonders ungeheuerlich erwiesen. Seit mehr als einem Jahrzehnt wurden mir (und anderen Personen) Berichte über die Zweckentfremdung und den Missbrauch der Institution der Polygynie zugetragen. Geht man zu einer beliebigen muslimischen Gemeinschaft, wird man Geschichten über geheime mehrfache Ehen, schmutzige Scheidungen und andere verwandte Dramen hören, die sich zutragen, wenn sich Menschen nicht an die gesetzlichen Vorschriften des islamischen Personenstandsrechts halten. Ich hätte einen Artikel über den männlichen muslimischen Laien schreiben können, der serielle Monogamie praktiziert oder bei dem die zweiten Ehefrauen wie durch eine Drehtür ein- und ausgehen: In beiden Fällen handelt es sich um eine Verspottung des islamischen Rechts, in deren Folge er eine Reihe von zerstörten Beziehungen hinterlässt. Ich unterlasse dies, weil diese Einzelpersonen – in den meisten Fällen – keinen Anspruch darauf erheben, als religiöse Autorität zu handeln. Obwohl sie sich vielleicht auf (einzelne Aspekte von) Koran und Sunna beziehen, um ihr Verhalten zu rechtfertigen (die Frauen seien Besitz ihrer rechten Hand [!]),[10] belehren sie das Publikum nicht über Moral, taqwā [Gottesfurcht], Bescheidenheit, Spiritualität usw. Es ist meine feste Überzeugung, dass diejenigen unter uns, die den öffentlichen Raum des islamischen Vortragsbetriebs besetzen – und ich beziehe mich hier selbst mit ein –, sich sowohl in der Öffentlichkeit als auch im Privatleben an höheren Maßstäben orientieren und nach einem bestimmten Grad von Konsistenz streben müssen.

Es besteht kein Grund, jedem einzelnen Vortragenden mit Misstrauen zu begegnen. Im Großen und Ganzen bin ich der Überzeugung, dass sich unsere ʿulamāʾ mit dem gebührenden Anstand verhalten, vor allem gegenüber Personen des anderen Geschlechts. Dieser Artikel handelt von denen, die die angemessenen Grenzen nicht beachten und auf diese Weise ihren (ehemaligen) Studentinnen emotionalen und spirituellen Schaden zufügen. Auch wenn einige Leser meine Sorgen für aus der Luft gegriffen halten mögen, haben mir andere entweder in der Öffentlichkeit oder im privaten Umfeld zu verstehen gegeben, dass die Probleme, die ich hier anspreche, gültig sind.

Ich gestehe zu, dass die gesammelten Informationen vor allem – wenn auch nicht ausschließlich – auf Einzelberichten beruhen. Bedauerlicherweise wird unser Wissen darüber weiterhin auf einzelnen Berichten beruhen, solange sich die Frauen weigern, mit ihren Geschichten an die Öffentlichkeit zu treten. Meines Erachtens wäre eine Studie zu (nordamerikanischen) muslimischen Heiratspraktiken hilfreich, insbesondere in Bezug zur Polygynie und ihren Einfluss auf Frauen und Kinder. Glücklicherweise befindet sich Literatur zu diesem Thema in der Entstehung. Jedoch handelt dieser Artikel nicht, wie zuvor erwähnt, von der Polygynie per se, sondern von der Schnittfläche zwischen religiöser Autorität, öffentlichem Raum und Geschlechterfragen in dem exklusiven Kreis, den die islamische Konferenzszene darstellt.

Frage: Was versteht man unter einem „berühmten šayḫ“ (celebrity Shaykh)?

Meine Antwort:

Offensichtlich traf mein Artikel mit der Bezugnahme auf das Phänomen des „berühmten šayḫ“ einen Nerv, und ich kann nachvollziehen, dass mein Tonfall dem einen oder anderen respektlos erschien. Wie ich anfangs erklärte, ist es nicht mein Bestreben, unsere šuyūḫ herabzusetzen oder sie gering zu schätzen. Wie ich bereits betont habe und dies nun erneut betonen möchte: Ich denke nicht, dass irgendeiner aus dem Kreis derer, die auf Tagungen Vorträge halten, seine Tätigkeit mit dem Vorhaben beginnt, berühmt zu werden. Wir sind es, die dazu beitragen, dass diese Personen zu Berühmtheiten werden, und nun zahlen alle den Preis dafür. Anstatt eine Veranstaltung zu besuchen, um zu lernen, nehmen wir an Angeboten teil, um uns unterhalten zu lassen. So geschieht es, dass die Redner mit großen Namen für ihren Vortrag das begehrte Zeitfenster am Sonntagnachmittag erhalten, der dem maximalen Besucherandrang vorbehalten ist. Weniger bekannte Redner oder solche, die inhaltlich tiefer vordringen, werden oft zu früh am Tag oder zu spät am Abend platziert, als dass sie tatsächlich ein Publikum erreichen könnten. Wir waren alle schon einmal in einem Vortragssaal, der sich in dem Moment leerte, als der „wirklich berühmte“ Redner seinen Vortrag beendet hatte, sodass der darauffolgende „weniger aufregende“ Redner seinen Vortrag vor leeren Stuhlreihen hielt. Erschwerend kommt hinzu, dass wir uns, wie ein (sehr guter) Redner auf einer Tagung bemerkte, an der ich kürzlich teilnahm, nun Rednern gegenübersehen, die mit einer ganzen Entourage sie bewundernder Studierender anreisen, die halb verbeugt im rukūʿ [Verneigung im Gebet] stehen. Auch wenn das Bild scherzhaft anmutet: Was für einen Eindruck mag es beim Publikum hinterlassen? Es ist der Versuch, den Redner auf ein Podest zu heben, das ihn beinahe übermenschlich erscheinen lässt. Wenn wir dann also hören, dass er (oder sie) in der Tat menschlich ist und Fehler begeht, nehmen wir es persönlich und verlieren entweder unseren īmān [Glauben] oder lehnen alle samt und sonders ab. Dies ist eine extreme Reaktion auf die häufig extreme Verehrung unserer Lehrer. Wir sollten zulassen, dass sie wieder menschlich sein können. Ja, wir sollten sie an höheren Maßstäben messen – immerhin sind sie Überlieferer des prophetischen Vermächtnisses –, aber sie bleiben doch immer Menschen.

Sehr wenige Menschen, die regelmäßig Vorträge halten, ich selbst eingenommen, werden den Ansprüchen an die Fähigkeiten eines šayḫ gerecht. Tatsache ist, dass es sich bei einem großen Anteil derjenigen, die im Veranstaltungsprogramm von Tagungen geführt werden, um Prediger handelt, um duʿāt [Prediger] und Motivationsredner. Nur ein kleiner Anteil von denen, die bei Tagungen sprechen, sind in der Tat Gelehrte. Tatsächlich neigen einige der ernsthaftesten Gelehrten dazu, öffentliche Auftritte gänzlich zu meiden.

Frage: Was lässt sich zur Rolle der Frauen sagen? Verhalten sich nicht viele von ihnen unangemessen?

Meine Antwort:

Ja, Frauen spielen in den gezeichneten Szenarien eine Rolle. Ich erinnere mich daran, wie ich zu einer Veranstaltung mit einem Stapel Bücher aus meiner Bibliothek ging – es waren Bücher von wohlbekannten ʿulamāʾ und Rednern. Ich war fest entschlossen, meine Bücher von diesen Autoren signieren zu lassen, und die meisten der Autoren kamen dem auch nach. Einige waren sehr zuvorkommend und erinnerten sich sogar an meinen Namen (wahrscheinlich von der letzten Gelegenheit, bei der ich ihnen auflauerte). Einige schienen recht irritiert darüber zu sein, weshalb ich mir wünschte, dass sie ihre Bücher signieren sollten. Einige beschäftigten persönliche Assistenten, die ihnen den Rücken freihielten, aber die meisten waren überraschenderweise – und für mich als Frau auf eine erfrischende Art und Weise – sehr zugänglich. Wenn ich aber zurückblicke, komme ich nicht umhin, mein Handeln einem kritischeren Blick zu unterwerfen. Ja, ich war meiner Auffassung nach nur eine Bücherliebhaberin, die darauf aus war, ihre Bücher von ihren Lieblingsautoren signieren zu lassen. Aber wie hätten die Ehefrauen der Männer mich betrachtet? Sie hätten nicht gewusst, dass ich jede Chance wahrnehme, die sich mir bietet, um zu Signierstunden zu gehen, da ich die Institution der Gelehrsamkeit hochhalte und das Schreiben guter Bücher unterstützen möchte. Was hätten sie anderes gesehen als eine weitere (ziemlich junge) Frau, die lächelt und Smalltalk hält. Ich teile diese Anekdote, um unsere Schwestern zu ermahnen, dass wir unsere Handlungen durch die Augen der anderen betrachten sollten, insbesondere der Ehefrauen der šuyūḫ. Diese leidensfähigen Frauen müssen sich üblicherweise damit abfinden, dass ihre Ehemänner häufiger abwesend und verreist sind, als dass sie zu Hause sind. Sie müssen auch hinnehmen, dass sich Studentinnen der islamischen Wissenschaften ihren Ehemännern auf eine Art und Weise nähern, die häufig – ganz offen gesagt – unangemessen ist. Ich muss zugeben, dass es mir als Ehefrau einen Stich versetzen kann, wenn ich Fotos von meinem Ehemann zusammen mit anderen Frauen zu sehen bekomme, so harmlos diese Fotos auch sein mögen. Wie, denken wir, mag es sich dann auf die Ehefrau des šayḫ auswirken, wenn sie mit weiblichen Fans umgehen muss, die alle um ein Selfie mit ihrem geliebten Ehemann ringen, bevor sie eine Unterhaltung mit besagten Ehemann initiieren, sobald sie zum nächstgelegenen Computer gelangen?

Es wäre nachlässig von mir, würde ich nicht auf diejenigen zu sprechen kommen, die eine Ehe „ḥalāl“ [auf eine erlaubte Art und Weise] zerstören. Das sind die Frauen, die fest entschlossen sind, den verheirateten šayḫ um jeden Preis zu umwerben, wohlwissend um den Schaden, den dieses Verhalten seiner Ehe zufügt, und um die Verletzung, die es für seine Ehefrau bedeutet. Diese Frau zitiert Hadithe, um das Umwerben eines verheirateten Mannes zu rechtfertigen, und behauptet, dass es der ersten Ehefrau an Glauben mangelt, wenn sie ihren Ehemann nicht bereitwillig teilt. Diese Behauptung ist sowohl falsch als auch gefährlich. Falsch, da es der zweiten Frau von vornherein nicht zusteht, über den Glauben der ersten Frau Mutmaßungen anzustellen. Gefährlich, da wir wissen, was der Koran über die sagt, die Zwietracht zwischen Ehemann und Ehefrau säen; und dieses Urteil fällt nicht positiv aus. Alles, was ich dem hinzuzufügen habe, ist: Wenn eine Frau die Absicht verfolgt, nicht bloß die zweite Ehefrau zu werden, sondern die einzige Ehefrau, muss sie ihre Absicht prüfen und taubah [Reue] zeigen. Auch sollte man sich an die Redensart erinnern: „Wie du ihn bekommst, so wirst du ihn verlieren.“ Wenn er auf ihre Avancen eingegangen ist, wird er auch auf die einer anderen Frau eingehen.

Kommentar: Dieser Artikel wird es Frauen noch schwerer machen bei männlichen Lehrern zu studieren. Und männliche Lehrer sind gelehrter als weibliche.

Meine Antwort:

Mir geht es in diesem Artikel nicht darum, den Zugang zu qualifizierter Gelehrsamkeit zu verhindern. Frauen steht das Recht zu, nach dem Wissen der Religion zu streben, solange sie (und die Lehrer) dabei die angemessenen Umgangsformen zwischen den Geschlechtern einzuhalten wissen. Wenn Veranstalter damit beginnen, Frauen von Veranstaltungen auszuschließen, wird dies nicht aufgrund meines Artikels geschehen. Mein Artikel ruft nicht dazu auf, die Räume zu kontrollieren, in denen sich Männer und Frauen versammeln, um nach dem Wissen der Religion zu streben. Ich rufe dazu auf, die nach gesundem Menschenverstand angemessenen Richtlinien und moralischen Grenzen, die die Studierenden-Lehrer-Beziehung umgeben, wieder instand zu setzen, insbesondere wenn diese Beziehungen in die relative Anonymität des Cyberspace hinüberschwappen – einem Raum, in dem Menschen dazu verleitet werden, Dinge zu sagen oder zu tun, die sie aller Voraussicht nach nicht in der Öffentlichkeit sagen oder tun würden.

Wenn bisweilen der Eindruck entsteht, dass in der Gelehrsamkeit die Männer den Frauen voraus sind, dann rührt dieser Eindruck vielleicht daher, dass es für Männer sehr viel wahrscheinlicher ist, eine Form der Ausbildung, Betreuung und Förderung zu erhalten, die unabdingbar ist, um gründlich Wissenschaft zu betreiben und hervorzubringen. Es gibt ernst zu nehmende strukturelle Barrieren, die Frauen daran hindern, mit ihren männlichen Gegenübern in traditionell-islamischen Gelehrtenkreisen gleichzuziehen. Ironischerweise ist eines der Haupthindernisse, denen sich Frauen gegenübersehen, das Fehlen einer Plattform, von der sie aus lehren und vortragen könnten. Es ist schwierig, eine einflussreiche Lehrerin oder eine exzellente Sprecherin zu werden, wenn viele Veranstaltungsorte Frauen schlichtweg nicht miteinbeziehen. Wir müssen uns jenseits einer Politik der Frauenquote bewegen und uns ernsthaft darum bemühen, der nächsten Generation von weiblichen Gelehrten und Lehrerinnen beratend zur Seite zu stehen.

Frage: Was sind die Lösungen?

Meine Antwort:

Ich habe mehrere Vorschläge, jedoch sind nur wenige davon durchsetzbar. Letzten Endes fällt die Verantwortung, an diesen Problemen zu arbeiten, den jeweiligen Personen zu und denen, die ihren engeren Kreisen angehören. Im Idealfall würden Kollegen und Lehrer sich mit ihnen dieser Sache annehmen. Da dies jedoch bislang nicht der Fall gewesen zu sein scheint, war dieser Essay notwendig.

Ingrid Mattson twitterte, ob nicht unsere ʿulamāʾ in Erwägung ziehen sollten, eine Berufsethik zu übernehmen, die dem Berufskodex der muslimischen Chaplains ähnelt. Diesem Vorschlag stimme ich zu. Wenn ein Lehrer oder ein šayḫ sich in einer Position befindet, in der er beabsichtigt, eine (oder mehrere) seiner Studentinnen zu heiraten, ist es dringend vonnöten, dass er diesen Umstand sorgsam überdenkt. Dazu gehört, Rücksprache mit seiner Frau zu halten und zu überlegen, welchen potentiellen Gewinn oder Schaden die Aufnahme der Polygynie nach sich ziehen könnte. Idealerweise wären Grenzen vorhanden, die diesen Szenarien, wie das Umwerben um derzeitige Studentinnen und die darauffolgende Heirat mit ihnen, zuvorkämen und sie zu verhindern wüssten. Im Falle, dass der Lehrer und die Studentin eine Heirat für notwendig erachten, um fitnah [hier: illegitime sexuelle Handlungen] zu vermeiden, sollte dieser Prozess mit der allergrößten Integrität und Transparenz vollzogen werden und Maßnahmen beinhalten, die sicherstellen, dass die Rechte aller Beteiligten respektiert werden.

Frauen, an die eine Ehe als Zweitfrau herangetragen wird, müssen ihren gesunden Menschenverstand wiedererlangen. Warum sollten sie eine Beziehung eingehen, die im Westen gesetzlich nicht anerkannt ist, um sich dann zu beschweren, dass sie keine Rechte besitzen? In eine Ehe mit einem bereits verheirateten Mann einzuwilligen und dessen Beteuerungen zu vertrauen, dass seine erste Ehefrau mit dieser Vereinbarung „einverstanden“ sei oder – noch schlimmer – darüber gar nicht erst in Kenntnis gesetzt werden müsse, ist im besten Falle naiv, im schlechtesten aber unaufrichtig. Warum sollte diese Frau nicht mit seiner ersten Ehefrau sprechen wollen, um herauszufinden, wie er sich tatsächlich verhält, wenn er kein Süßholz raspelt? Warum davor zurückschrecken, mit den Exfrauen zu sprechen? Sie sind da draußen. Sind die Frauen besorgt, dass diese etwas zu berichten haben, was die geheimnisvolle Ausstrahlung des Bruders erschüttert?

Für die Lehrer und Kollegen dieser Personen besteht eine moralische Verpflichtung, unsere Brüder auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen und zurechtzuweisen, und ihr Verhalten nicht unter den Teppich zu kehren. Meiner Meinung nach existiert eine Kultur, die diese Art des Verhaltens ermöglicht – oder es zumindest ignoriert und durchgehen lässt –, da sich diese Dinge hinter verschlossenen Türen zutragen und eine Gruppe der Bevölkerung betreffen, die am wenigsten geneigt ist, sich zu äußern: nämlich Frauen.

Schlussendlich schreit das Problem förmlich nach weiblichen Gelehrte, die diese Wissens- und Beratungslücken ausfüllen können. Anstatt sich an männliche Gelehrte zu wenden, um Bestätigung und Inspiration zu erhalten, warum nicht die Lehrerinnen bemühen? Als ich in Damaskus war, fiel mir die Existenz von stabilen Netzwerken weiblicher Gelehrter und Studentinnen auf. Wenn ich Jahre später die Auswirkung dieser Netzwerke betrachte und die Qualität der Beziehung zwischen Studentin und Lehrerin beurteile, stelle ich fest, dass ich nirgends Frauen gesehen habe, die selbstsicherer, selbstbewusster und selbstständiger waren als diese Frauen, die in ein Umfeld eingetaucht sind, das durch genderspezifisches Wissen und Lernen geprägt ist. Ganz im Gegenteil: Mir ist aufgefallen, dass gerade die Frauen, die nach Lehrern des anderen Geschlechts suchen, um Beratung und Bestätigung zu erlangen – was häufig daraus hinausläuft, dass sie am Ende mit ihnen verheiratet sind – ganz erheblich mit Selbstwertproblemen zu kämpfen haben.

Und Allah weiß es am besten!

(Übersetzung: Corinna Küster)

Nachtrag der Herausgeberinnen:

Ustadha Zaynab Ansari war die erste religiöse Gelehrte, die diese Form des Missbrauchs männlicher religiöser Autorität offen ansprach. Sie brachte damit eine Diskussion in Gang und es erschienen weitere Artikel in dem Onlinemagazin MuslimMatters, verfasst nun auch von männlichen Gelehrten und Predigern: „What do I do when I find out my favourite preacher is corrupt?“ von Imam Omar Suleiman[11] und „On secret marriages“ von Shaykh Dr. Mohammad Akram Nadwi.[12] Ein weiterer Gelehrter, Shaykh Rami Nsour, gründete zusammen mit einem Team von PsychologInnen und JuristInnen die Website InShaykh‘sClothing, die sich dem Phänomen des spirituellen Missbrauchs widmet.[13] Die Forderung Zaynab Ansaris, dass (männliche) Personen aus den Kreisen derer, die ihre Autorität missbrauchen, Verantwortung übernehmen müssen, hat damit einen gewissen Widerhall gefunden.

[1] Dieser Artikel wurde am 27. Mai 2015 auf MuslimMatters.org veröffentlicht, einer Internet-Plattform, an der Blogger und Religionswissenschaftler gleichermaßen beteiligt sind. (Zaynab Ansari, “Blurred Lines: Women, ‘Celebrity’ Shaykhs, and Spiritual Abuse”, MuslimMatters.org, 27. 5.2015, URL: http://muslimmatters.org/2015/05/27/blurred-lines-women-celebrity-shaykhs-spiritual-abuse/ (letzter Zugriff: 16.11.2017). Er wurde von Lesern vielfach kommentiert und die dabei aufgeworfenen Fragen beantwortete Zaynab Ansari in einem weiteren Artikel, “Drawing a Line in the Sand: Student-Teacher Relationships in the Digital Age”, MuslimMattters, 30. 5.2015, URL: http://muslimmatters.org/2015/05/30/drawing-line-sand-student-teacher-relationships-digital-age/ (letzter Zugriff: 16.11.2017). Diese Fragen und Antworten werden hier im Anschluss an den ersten Artikel wiedergegeben. In deutscher Übersetzung erschienen: Silvia Horsch / Melahat Kisi / Kathrin Klausing / Annett Abdel-Rahman (Hrsg.): Der Islam und die Geschlechterfrage. Theologische, gesellschaftliche, historische und praktische Aspekte einer Debatte, Berlin 2019, S. 273 – 290.

[1] Die deutschen Übersetzungen der Koranzitate folgen der Übersetzung von Hans Zirker, Der Koran. Übersetzt und eingeleitet von Hans Zirker, Darmstadt2 2007.

[2] Ibn Haǧar al-ʿAsqalānī/Mawlānā Muḥammad ʿAbd al-Ǧabbār, Al-Munabbihat: The Counsel, übers. von Habib Siddiqui, Kuala Lumpur 2007, S. 17.

[3] Erläuterungen in eckigen Klammern stammen von den Herausgeberinnen.

[4] Diese Anrufung und die Übersetzungen aller Koranverse folgen M.A.S. Abdel Haleem Oxford World’s Classics Qur’an. Die Übersetzungen der Hadithe sind meine eigenen (Z.A.).

[5] Dieser Begriff wird von mir mit Anführungsstrichen versehen, weil die meisten gläubigen Muslime der Auffassung sind, dass sie einen traditionellen Islam praktizieren im Gegensatz zu einem nicht-traditionellen Islam.

[6] Dear Abby ist eine amerikanische Ratgeberkolumne, die 1956 von Pauline Phillips gegründet wurde und in verschiedenen amerikanischen Zeitungen erscheint (Anm. d. Hgg.).

[7] Dieser Begriff [traditional modes of Islamic learning] wurde ebenfalls mit Anführungsstrichen versehen aufgrund der Tatsache, dass eine Vielzahl von Institutionen, die ihrerseits verschiedene Zugänge zum Islam verkörpern, einen Anspruch auf dieses „Qualitätssiegel“ erheben. Wie eingangs erwähnt, geht es in diesem Aufsatz weder um irgendeinen bestimmten Ansatz noch eine bestimmte Institution.

[8] Siehe: “Formality between men and women”, Artikel auf peacespective.org, URL: http://www.peacespective.org/formality/ (letzter Zugriff: 7. 9.2016).

[9] Die Antworten auf die Kommentare und Fragen sind Gegenstand eines Folgeartikels mit dem Titel: “Drawing a Line in the Sand: Student-Teacher Relationships in the Digital Age”, MuslimMattters, 30. 5.2015, URL: http://muslimmatters.org/2015/05/30/drawing-line-sand-student-teacher-relationships-digital-age/ (letzter Zugriff: 16.11.2017).

[10] Mit der Anspielung auf den Koranvers 4/3, der sexuelle Beziehungen zu Sklavinnen erlaubt, werden die betroffenen Frauen auf den Status von Sklavinnen reduziert. (Anm. d. Hgg.)

[11] Omar Suleiman, What Do I Do When I Find Out My Favorite Preacher Is Corrupt”, MuslimMatters, 37.2017, URL: https://muslimmatters.org/2017/06/03/what-do-i-do-when-i-find-out-my-favorite-preacher-is-corrupt/ (letzter Zugriff: 8.11.2017).

[12] Mohammad Akram Nadwi, On Secret Marriages”, 6.10.2017, MuslimMatters, URL: https://muslimmatters.org/2017/10/06/secret-marriages-dr-shaykh-mohammad-akram-nadwi/ (letzter Zugriff: 8.11.2017).

[13] Vgl. InShaykh’sClothing, URL: http://inshaykhsclothing.com/ (letzter Zugriff: 8.11.2017).