Zur Bedeutung islamischer Quelltexte

Die Verwendung islamischer Quelltexte ist für den grundlagenwissenschaftlichen Erkenntnisgewinn von elementarer Bedeutung. Dabei stellt sich jedoch die Frage nach dem Umfang der Involvierung und der Bedeutung dieser Texte. Das vermutlich wichtigste Unterscheidungskriterium von Definitionen einer islamischen Psychologie orientiert sich an der Frage, ob islamische Texte für die Formulierung islamisch-psychologischer Theorien und Konzepte notwendig sind bzw. wie stark ihr Einfluss auf die Theoriebildung sein sollte.

Eine Reihe von Autoren wie Karim (1984), Shafii (1985), Haeri (1989), Skinner (1989, 2010, 2014, 2015), Ansari (1992), Frager (1996), Haque (2004, in diesem Band), Maynard (2008, in diesem Band), Betteridge (2012), Abdul Razak und Hisham (2012) und Sahin (2013) vertreten eine theoretisch-orientierte Definition einer islamischen Psychologie als die Erarbeitung von Vorstellungen der menschlichen Natur aus den islamischen Quelltexten. Laut dieser Position sind islamische Texte für die Formulierung islamisch-psychologischer Theorien notwendig. Ein Zweig dieser Autoren greift dabei fast ausschließlich auf Schriften des Tasawwuf zurück (d. h. die sufische Denkschule; Haeri, A., 1994; Haeri, F., 1989; Shafii, 1985; Skinner, 1989, in diesem Band). Die Anwendung dieser theoretisch-orientierten Definition einer islamischen Psychologie findet sich zum Beispiel in der quelltextbasierten Persönlichkeitstheorie nach Abu-Raiya (2012, in diesem Band).

In deutlichem Kontrast zur Definition einer theoretisch-orientierten islamischen Psychologie versteht z. B. Vahab (1996b, in diesem Band) die islamische Psychologie als empirisches Studium des Erlebens und Verhaltens von Muslimen. Das Argument der Manifestation Gottes in der Natur und somit auch im menschlichen Erleben und Verhalten deute auf die islamische Prägung dieser Position hin; islamische Texte finden somit in dieser Position nicht notwendigerweise direkte Berücksichtigung. Dieser empirischen Orientierung schließen sich unter anderem auch Siddiqui und Malek (1996) und S.H. Khan (1996, in diesem Band) an. Im Gegensatz zu Vahab (1996b, in diesem Band), macht S.H. Khan (1996, in diesem Band) in seiner Definition deutlich, dass es ihm auch um die Steuerung des Verhaltens geht – die Ausrichtung des Verhaltens auf den göttlichen Willen. Die ethischen Bedenken einer solchen Instrumentalisierung der Psychologie liegen auf der Hand. Es besteht die Ansicht unter muslimischen Psychologen, dass die empirische Untersuchung des Erlebens und Verhaltens von Muslimen eher im Rahmen der Gesundheitswissenschaften und Muslim Mental Health im Speziellen, nicht im Rahmen der islamischen Psychologie, abzuhandeln ist (Kaplick & Skinner, 2017). Auf diese Position wird im anwendungsorientierten Abschnitt dieses Kapitels nochmals eingegangen.

Eine dritte Art von Definition findet sich bei Rashid Hamid (1977, in diesem Band), der die Durchführung von empirischen Untersuchungen zwar nicht als Hauptbestandteil einer islamischen Psychologie ansieht, sie aber zugunsten eines umfassenden Erkenntnisgewinns ermöglicht. Dieser Position folgend unterbreiten islamische Quelltexte eine theoretische Basis, die durch empirische Methoden weiterentwickelt werden kann. Es ist bemerkenswert, dass diese frühe und höchstwahrscheinlich erste Definition des Fachgebiets in der englischsprachigen Literatur von R. Hamid (1977, in diesem Band) eine Kombination der beiden zuvor erwähnten Positionen einer theoretisch- und empirisch-orientierten islamischen Psychologie zulässt, um eine effektive Forschungsarbeit zu gewährleisten. In der Tradition R. Hamids (1977, in diesem Band) listet Akbar Husain (2017) in der Einleitung zu seinem Sammelband folgende drei Arten von Wissensquellen für die islamische Psychologie: empirische Daten, das logische Denken und das Offenbarungswissen. Koshravi und Bagheri (2006, in diesem Sammelband) können ebenfalls in diese Definitionskategorie eingeordnet werden.

Anwendung findet R. Hamids (1977, in diesem Band), Koshravi und Bagheri (2006, in diesem Sammelband) und Akbar Husains (2017) Position z. B. in der Entwicklung einer Skala islamischer Spiritualität nach Dasti und Sitwat (2014, in diesem Band), die anfänglich Bereiche islamischer Spiritualität auf Grundlage von islamischen Quelltexten erarbeitet und von islamischen Gelehrten bewertet haben lassen. Diese wurden dann im Rahmen eines Fragebogens zur Erhebung islamisch-spiritueller Dimensionen an einer muslimischen Stichprobe normiert. Zur vertiefenden Erläuterung der Definitionen haben wir Skinner (1989, in diesem Band), Vahab (1996b, in diesem Band) und S.H. Khan (1996, in diesem Band) und zur Darstellung möglicher Anwendungen dieser Definition Abu-Raiya (2012, in diesem Band) und Dasti und Sitwat (2014, in diesem Band) übersetzt und in diesen Sammelband aufgenommen.

Abbildung 2 stellt die wichtigsten theoretischen Positionen in ihrer historischen Entwicklung auf Grundlage der Schlüsselpublikationen dar. Zur Abbildung ist anzumerken, dass eine theoretisch-orientierte islamische Psychologie in den USA und Malaysia selbstverständlich nicht innerhalb eines empirischen Paradigmas agiert (wie die Untergliederung nahelegen könnte), sich jedoch entscheidend in der Tradition Badris sieht.

Über diese Blogreihe

Nachdem wir uns im IASE Blog bereits den Themenfeldern „Die Terra Incognita der islamischen Psychologie“ und den „Instituten und Vereinigungen muslimischer Psychologen“ zugewandt haben, beschäftigen wir uns in dieser Blogreihe detaillierter mit der Literatur zum Thema islamische Psychologie in ihrer geschichtlichen Entwicklung und ihrem Gegenstand. Diese Blogreihe erscheint alle zwei Wochen am Sonntag. Die Inhalte sind aus der theoretischen Einführung in den Sammelband „Islam und Psychologie – Beiträge zu aktuellen Konzepten in Theorie und Praxis“ entnommen, der zum Beispiel hier erhältlich ist. Darin findet Ihr auch ein Literaturverzeichnis für die verwendeten Quellen.