Blogreihe: Islam und Psychologie – Gegenstand und Geschichte – Teil 5

Was motiviert das gegenwärtig wachsende Interesse an einer islamischen Psychologie?

Obwohl in der englischsprachigen Literatur bereits 1928 eine Arbeit zu Studien der Psychologie des Islams (Alter, 1928) mit Abschnitten zur Psychologie des Propheten Muhammads und der großen Mystiker des Islam verfasst wurde und 1963 der erste Beitrag zum Thema einer islamischen Psychologie in Form eines Buchkapitels des ägyptischen Psychologen Ahmad Fouad Al-Ahwani erschien (Moughrabi, 2000, in diesem Band), führte erst 1979 das Büchlein The Dilemma of Muslim Psychologists von Malik Badri, bei dem es sich allerdings eher um eine Streitschrift handelt, zu einer breiten Diskussion in der muslimischen Welt. Badri, ein 1932 im Sudan geborener und an der Amerikanischen Universität Beirut, Libanon, und in Großbritannien ausgebildeter Psychologe und Psychotherapeut, lehrte an verschiedenen Hochschulen im Sudan, Malaysia und Saudi-Arabien und veröffentlicht bis heute Beiträge zum Thema. Er traf mit seinem Buch in der muslimischen Fachwelt auf eine Situation, die in verschiedener Hinsicht auf die neue Entwicklung vorbereitet war.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren viele Muslime nach Europa und in die USA gekommen und hatten hier ihre psychologische bzw. therapeutische Ausbildung mitunter durch Stipendien aus arabischen Ländern erhalten, mit der sie dann zum Teil in ihre Heimatländer zurückkehrten (Al-Hashmi, 1981; Mohamed, W., 2012; Reid, 1990). Mit ihrer Ausbildung stießen die muslimischen Psychologen in ihrer Heimat, sei es Ägypten, Saudi-Arabien oder Pakistan, jedoch auf große Probleme. So erreichten sie zumeist nur eine kleine, moderne, westlich gebildete und elitäre Patientenpopulation, während der Großteil der Bevölkerung von der Versorgung ausgeschlossen blieb. Gründe waren neben mangelnden finanziellen Möglichkeiten und gesellschaftlicher Tabuisierung psychischer Krankheiten vor allem soziale, kulturelle und religiös differierende Auffassungen über die Natur seelischen Erlebens und seelischer Erkrankungen und die daraus abgeleiteten Therapiemethoden und Therapieziele, die aus westlichen Konzepten entstanden und an westlichen Patienten entwickelt wurden (Al-Abdul-Jabbar & Al-Issa, 2000; Hartmann, 2007; Kakar, 2012).

Neben der Ausbildung in der westlichen Hemisphäre wurden Studiengänge der Psychologie auch in der arabischen Welt zügig nach amerikanischem oder französischem Modell aufgebaut (Ibrahim, A.A., 2012). Ägypten gilt als das erste arabische Land, in dem die Psychologie in den 20er und 30er Jahren – in der sogenannten Phase der Imitation nach Al-Hashimi (1981) – an den Universitäten beheimatet wurde (Mohamed, W., 2012). So wurde zum Beispiel 1911 die erste Vorlesung im arabischen Raum zur Psychologie der Frau an der Universität Kairo gehalten (Universität Kairo, 1983). In Ägypten wurden die psychologischen Studiengänge zunächst von französischen Psychologen organisiert, die diese in den 1940er Jahren an ägyptische Psychologen übergaben. Langfristig führte dies zur Installation von Studiengängen in Psychologie in der gesamten islamischen Welt (z. B. in den 1950er Jahren in der Türkei und den 1960er Jahren im Iran und Libanon; Ağilkaya-Şahin & Sevïnç, 2015; Ahmed, R.A., 2012; Alipour, 2007) und vor allem in der ersten Zeit zu einer relativ großen psychoanalytischen Szene Freudscher Ausrichtung.

Während ihrer Ausbildung waren die Muslime mit einem Wissenschaftsverständnis und einem Menschenbild konfrontiert, das als atheistisch imponierte und in denen Religion und Spiritualität nicht nur keinen Platz hatten, sondern als unaufgeklärte Einstellung verstanden wurden, die es in der Therapie zu überwinden galt. Wer seine Religiosität nicht aufgab, galt in der orthodoxen Psychoanalyse sogar als nicht therapiefähig (Utsch, 2014). Hierunter litten besonders muslimische Psychologen und Therapeuten, die ihre Religion praktizierten und den (durchaus zutreffenden) Eindruck hatten, dass mit den Inhalten ihrer Ausbildung ein wesentlicher Teil ihrer muslimischen Identität unterbestimmt blieb und daher nach Möglichkeiten suchten, diesen in ihr berufliches Selbstverständnis und ihre Behandlung zu integrieren (Badri, 1979; Skinner, 1989).

Die in den westlichen Ländern praktizierenden muslimischen Psychologen trafen im Rahmen der großen Migrationsbewegungen der postkolonialen Zeit und der Arbeitsmigration der 60er und 70er Jahre auf muslimische Patienten, die sich in ihrer Situation als Minderheit in einer modernen, säkularen Industriegesellschaft mit der Frage konfrontiert sahen, wie sie hier als Muslime leben und welche adäquaten Hilfen sie im Falle seelischer Krisen und Erkrankungen erhalten konnten (Rüschoff, 1989). Die Migranten stammten aus ganz unterschiedlichen Nationen, Kulturen und verschiedenen islamischen Rechtsschulen, hinzu kam eine wachsende Zahl einheimischer Konvertiten. Für sie alle mussten einerseits kultursensible Ansätze entwickelt (Rezapour & Zapp, 2011) und vor allem das Problem gelöst werden, die islamischen Inhalte im Geist der Quellen und Überlieferungen für ein Leben im Westen kulturübergreifend zu entwickeln.

Diese unterschiedlichen Situationen wurden umfasst von einer Entwicklung in der gesamten islamischen Welt, in der die Religion nach dem Scheitern des Kommunismus und der häufig sozialistisch orientierten, säkularen Gesellschaftsmodelle in der arabischen Welt wieder vermehrt an Bedeutung gewann und mit den politischen Veränderungen im Iran, die zur Gründung der Islamischen Republik führten, einen Kristallisationspunkt erhielt. Dies führte insgesamt zu einer vermehrten Rückbesinnung und Stolz auf die eigene Religion, ihre großartigen kulturellen Leistungen und das damit verbundene historische Erbe. Für muslimische Psychologen bedeutete das auch und vor allem die Frage nach den Beiträgen der frühen muslimischen Gelehrten und Philosophen zum Thema Psychologie, Psychotherapie und Psychiatrie und deren Integration in moderne wissenschaftliche Konzepte (Ghobari & Bolhari, 2001).

In 2 Wochen werden wir uns näher mit der Literatur auseinandersetzen, die von muslimischen Psychologen in den 1970er, 1980er und 1990er Jahren verfasst wurde.

Über diese Blogreihe

Nachdem wir uns im IASE Blog bereits den Themenfeldern „Die Terra Incognita der islamischen Psychologie“ und den „Instituten und Vereinigungen muslimischer Psychologen“ zugewandt haben, beschäftigen wir uns in dieser Blogreihe detaillierter mit der Literatur zum Thema islamische Psychologie in ihrer geschichtlichen Entwicklung und ihrem Gegenstand. Diese Blogreihe erscheint alle zwei Wochen am Sonntag. Die Inhalte sind aus der theoretischen Einführung in den Sammelband „Islam und Psychologie – Beiträge zu aktuellen Konzepten in Theorie und Praxis“ entnommen, der zum Beispiel hier erhältlich ist. Darin findet Ihr auch ein Literaturverzeichnis für die verwendeten Quellen.