Blogreihe: Islam und Psychologie – Gegenstand und Geschichte – Teil 3

Themenbereiche

Die Beschreibung von Thematiken, die heute in den Bereich der Psychologie, Psychotherapie und Psychiatrie fallen würden und mit denen sich muslimische Gelehrte insbesondere der ersten Phase auseinandergesetzt haben, sind soweit – abgesehen von wenigen Ausnahmen – nur in Arabisch (z. B. Al-Habeeb, 1999; Al-Mahdi, 1990; Harbi, 2011; Muhammad, 2013; Najati, M.U., 1993; Najati, M.A., 2009; Wessy, 2012) bzw. unsystematisch in deutschen und englischen Texten zur Medizinhistorie (z. B. Ali, A., 2009; Syed, 1981) und islamischen Philosophie (z. B. Nasr & Leaman, 2001; Polat et al., 2016; Rudolph, 2013) vorhanden. Eine erste Themenanalyse der Werke früher muslimischer Gelehrter mit Relevanz zum islamischen Verständnis der menschlichen Psychologie befindet sich gegenwärtig in Erarbeitung (Elzamzamy & Patel, in Vorb.). Die Autoren gliedern Beiträge dabei in die Bereiche psychologische Ideen und Theorien sowie psychologische Behandlungspraxis.

Im Rahmen psychologischer Theorien und Ideen wandten sich Al-Kindi im 9. Jahrhundert, Al-Razi im 10. Jahrhundert sowie Ibn Hazm und Ibn Sina im 11. Jahrhundert der Formulierung von lerntheoretischen Prinzipien zu (siehe auch: Al-Razi, 2007; Bakhtiar, 2013a). Weiterhin wurde eine ausführliche Anlage-Umwelt-Diskussion von Ibn Miskawayah im 11. Jahrhundert und von Al-Ghazali im 12. Jahrhundert geführt. Darüber hinaus konzentrierten sich z. B. Al-Balkhi im 10. Jahrhundert und Ibn Al-Qayyim Al-Jawziyya im 14. Jahrhundert auf die Prävention und Behandlung psychischer Störungen (siehe: Al-Jawziyya, 2006; Awaad & Ali, S., 2015, 2016). Außerdem beschrieben Ibn Sina, Ibn Miskawayah, Al-Razi und Al-Balkhi die Bedeutung eines psychosomatischen Verständnisses von Krankheiten (siehe: Badri, 2013b), äußerten sich über eine physiologische Psychologie und zum Leib-Seele- Problem. Schließlich spielten interindividuelle Unterschiede in den Schriften von Ibn Al-Qayyim Al-Jawziyya, Ibn Sina, Ibn Miskawayah und Al-Ghazali eine große Rolle (Elzamzay & Patel, in Vorb.).

Zur psychologischen Behandlungspraxis sind die Bemühungen um eine kognitiv orientierte Psychotherapie und die Klassifikationen seelischer Krankheit zu nennen. Grundzüge einer kognitiven Verhaltenstherapie wurden durch Gelehrte wie z. B. Al-Balkhi zur Behandlung von Phobien (Awaad & Ali, S., 2016) und Zwangsstörungen (Awaad & Ali, S., 2015) beschrieben (Badri, 1998, 2000; Haque, 2004). Dabei ist bemerkenswert, dass die Klassifikation und Definitionen dieser Störungen z. B. nach Al-Balkhi oder Al-Samarqandi aus dem 13. Jahrhundert große Ähnlichkeiten mit den heutigen diagnostischen Manualen wie dem DSM-5 aufweisen (Awaad & Ali, S., 2015, 2016; Elzamzamy & Patel, in Vorb.).

Angesichts dieser Übereinstimmungen fragt Amir Babai (1999) in seiner Arbeit Zur Psychologie und Psychotherapie Ibn Sinas, wie die Vorstellungen Ibn Sinas und anderer Universalgelehrter zur Ätiologie psychosomatischer und psychischer Störungen Eingang in das Abendland und die modernen Modelle zur Entstehung von Krankheiten und deren Behandlung gefunden haben könnten und zeichnet mögliche Wege ausführlich nach. Er hält es für ausgeschlossen, dass die Forscher des 18. und 19. Jahrhunderts ohne Kenntnis der Auffassungen orientalischer Gelehrter zu solch verblüffend ähnlichen Ergebnissen gekommen sind (Babai, 1999). Direkte Einflüsse sind zwar schon angesichts der Tatsache anzunehmen, dass die medizinischen Hauptwerke von Al-Razi (lat. Liber Almansori) und Ibn Sina (lat. Canon medicinae) an europäischen Hochschulen für die Ärzteausbildung bis in das frühe 19. Jahrhundert verwendet wurden (Hofmann, 1995). Andererseits werden psychisches Befinden und Erleben, seelische Erkrankungen und Symptome, die im Verhalten der Patienten sichtbar werden oder über die sie berichten, damals wie heute vom Arzt beobachtet, beschrieben, differenziert, in ein System gebracht und auch nach dem Aufkommen moderner Psychopharmaka mit überwiegend aus praktischen Erfahrungen gewonnenen und entwickelten Therapiemethoden (Psychotherapie, Soziotherapie, Musik-, Beschäftigungs- und Arbeitstherapie, usw.) behandelt. So werden im deutschen Sprichwort „Übung macht den Meister“ oder der Wendung „Lernen aus Erfahrung“ allgemeine Lebenserfahrungen mitgeteilt, die nahezu kultur- und zeitunabhängig gelten und immer schon mehr oder weniger systematisch in Erziehungs- und Therapiemaßnahmen eingesetzt wurden, die man heute wissenschaftlich „verhaltenstherapeutisch“ nennt. So untertitelt denn auch Malik Badri seine Übersetzung und Kommentierung von Al-Balkhis Werk „Die Nahrung der Seele“ mit „Die kognitive Verhaltenstherapie eines Arztes des 9. Jahrhunderts“ (Badri, 2013b). Gerade weil hier allgemein menschliche Aspekte sichtbar werden, finden Psychologen, Psychiater und Psychotherapeuten nicht nur in „alten“ Lehrbüchern, sondern auch in der Literatur meisterhafte Beschreibungen seelischer Zustände (Dostojewski, Proust, Goethe). Aus diesem Grunde sind die Beobachtungen und Überlegungen der frühen muslimischen Gelehrten auch heute noch von Wert, auch und besonders, weil sie aus islamisch geprägten Kulturen von islamisch umfassend gebildeten Männern und Frauen stammen.

Vor diesem Hintergrund werden damit auch die Grenzen der medizinischen Werke früher muslimischer Gelehrter deutlich, die sich in ihren pathophysiologischen Vorstellungen zumeist auf die griechische Humoralpathologie beziehen. Diese wurde mit Aufkommen einer differenzierten naturwissenschaftlichen und schließlich modernen Gerätemedizin zwangsläufig obsolet, sodass Vorstellungen z. B. Ibn Sinas heute im muslimischen Kontext nur noch von naturheilkundlich orientierten Ärzten als sogenannte „islamische“ bzw. „prophetische“ Medizin propagiert und angewandt werden (z. B. Khan, M.S., 1986).

In 2 Wochen beschäftigen wir uns mit den Ideen muslimischer Psychologen der Gegenwart.

Über diese Blogreihe

Nachdem wir uns im IASE Blog bereits den Themenfeldern „Die Terra Incognita der islamischen Psychologie“ und den „Instituten und Vereinigungen muslimischer Psychologen“ zugewandt haben, beschäftigen wir uns in dieser Blogreihe detaillierter mit der Literatur zum Thema islamische Psychologie in ihrer geschichtlichen Entwicklung und ihrem Gegenstand. Diese Blogreihe erscheint alle zwei Wochen am Sonntag. Die Inhalte sind aus der theoretischen Einführung in den Sammelband „Islam und Psychologie – Beiträge zu aktuellen Konzepten in Theorie und Praxis“ entnommen, der zum Beispiel hier erhältlich ist. Darin findet Ihr auch ein Literaturverzeichnis für die verwendeten Quellen.