Blogreihe: Islam und Psychologie – Gegenstand und Geschichte – Teil 2

2. Historischer Abriss

„Lies, und dein Herr ist der Edelste, Der (das Schreiben) mit dem Schreibrohr gelehrt hat, den Menschen gelehrt hat, was er nicht wußte …“ (Qur’an, 96:3–5).

Schon die ersten Verse der qur’anischen Offenbarung an Muhammad sind Programm: Die Betonung des Verstandes, des Denkens, der Kontemplation und der Suche nach Wissen zieht sich durch den ganzen Qur’an (z. B. 3:190; 29:38; 2:44; 31:20) und die Sunna (arab. Gesamtheit der prophetischen Überlieferungen). Ein bekannter Hadith (arab. prophetischer Ausspruch) lautet: „Beim Jüngsten Gericht werden die Tinte der Gelehrten und das Blut der Glaubenskämpfer gewogen – und die Tinte der Gelehrten wird mehr wiegen als das Blut der Glaubenskämpfer“ (Hofmann, 1995).

Vor dem Hintergrund dieses spirituellen Motivs für das Streben nach Erkenntnisgewinn kamen die Muslime der Frühzeit im Rahmen der raschen Ausbreitung des islamischen Reiches von der iberischen Halbinsel bis nach Indien mit den verschiedensten Kulturen in Kontakt und entwickelten sich „zu einer regelrechten Wissensgesellschaft, die durch Dynamik und ein hohes Maß religiöser Toleranz sowie intellektueller Offenheit gekennzeichnet war“ (Günther, 2016, S. 214). In diesem Rahmen begann über mehr als 200 Jahre eine rege Übersetzertätigkeit, sodass schließlich fast die gesamte wissenschaftliche Literatur der Antike, die Philosophie eingeschlossen, auf Arabisch verfügbar war und von den Muslimen auf Grundlage ihrer eigenen Fragestellungen weiterentwickelt wurde (Rudolph, 2013). Der Beitrag  früher muslimischer Gelehrter zur Entwicklung der Wissenschaften ging dabei weit über die ausschließliche Übersetzung und Bewahrung griechischer Werke hinaus (Abou-Hatab, 1997).

2.1 Frühe/traditionelle muslimische Gelehrte

„Die Psychologie hat eine lange Vergangenheit, doch nur eine kurze Geschichte“ (Ebbinghaus, 1908, S. 1).

Ein Großteil der Schriften muslimischer Gelehrter, die für die Psychologie (arab. Ilm Al-Nafs), Psychotherapie (arab. Al-Ilaadsch Al-Nafsi) und Psychiatrie (arab. Al-Tibb Al-Ruhani/Al-Tibb Al-Qalb) von Bedeutung sind, fallen in die Phase der sogenannten Blütezeit des Islams vom 9.–13. Jahrhundert (Deuraseh & Abu Talib, 2005; Elzamzamy & Patel, in Vorb.; Koenig & Al Sohaib, 2017; Lombard, 1992). Da sich die Psychologie und insbesondere die Psychotherapie als eigenständige Fachgebiete jedoch erst im 19. bzw. 20. Jahrhundert entwickelten, finden sich Überlegungen zu diesen Themen verstreut in den medizinischen und philosophischen Werken der frühen Gelehrten von Al-Kindi (gest. 866) bis Ibn Arabi (gest. 1240). Amin (1996), Düzgüner und Şentepe (2015), Amber Haque (2004, in diesem Band), Akbar Husain (2017), Ajmal Majeed und K.P. Jabir (2017), A.A. Ibrahim (2012) und Ahmed Vahab (1996b, in diesem Band) geben in ihren englischen Arbeiten und Saleh (2010) in Übersetzung erstmals auf Deutsch einen Überblick über die thematischen Beiträge der wichtigsten Gelehrten dieser Zeit. Die herausragenden Gestalten dieser Epoche sind Al-Kindi, Al-Farabi, Al-Balkhi, Ibn Sina, Ibn Rushd und insbesondere Al-Ghazali (Awaad & Ali, S., 2015, 2016; Nasr & Leaman, 2001). Letzterer entwickelte eine Theorie über die Zusammenhänge seelischer Strukturen und wird häufig rezipiert (siehe: Abu-Raiya, 2012, in diesem Band; Keshavarzi & Haque, 2012; Skinner, 1989, 2010).

Die sogenannte Blütezeit des Islams ist nicht nur durch grundlagenwissenschaftliche und anwendungsorientierte Forschung gekennzeichnet, sondern auch durch den Aufbau von Krankenhäusern bzw. Abteilungen für psychisch kranke Menschen (Paladin, 1998). Beispiele sind die Errichtung von solchen Abteilungen in den Hospitälern in Bagdad (981), Damaskus (1151), Aleppo (1270) und das 1283 gegründete Mansur-Hospital als größtes Krankenhaus des Mittelalters mit einer psychiatrischen Abteilung; später auch Hospitäler in Granada (1375), Valencia (1409), Saragossa (1425), Sevilla (1436) und Toledo (1483). Krankenhausstrukturen und Behandlungsalltag muten auch aus heutiger Sicht vorbildlich und modern an (Bay, 1967; Payk, 2005).

In der darauffolgenden sogenannten Phase des Niedergangs vom 14.–19. Jahrhundert nahmen die Arbeiten zur Psychologie ab. Diese erfuhren in der sogenannten Phase der Wiederbelebung im 20. und 21. Jahrhundert mitunter als Folge einer erneuten Konfrontation mit „westlichen“ Wissenschaften erneut an Bedeutung.

In 2 Wochen beschäftigen wir uns mit den Beschreibung von Thematiken, die heute in den Bereich der Psychologie, Psychotherapie und Psychiatrie fallen würden und mit denen sich muslimische Gelehrte insbesondere der ersten Phase auseinandergesetzt haben.

Über diese Blogreihe

Nachdem wir uns im IASE Blog bereits den Themenfeldern „Die Terra Incognita der islamischen Psychologie“ und den „Instituten und Vereinigungen muslimischer Psychologen“ zugewandt haben, beschäftigen wir uns in dieser Blogreihe detaillierter mit der Literatur zum Thema islamische Psychologie in ihrer geschichtlichen Entwicklung und ihrem Gegenstand. Diese Blogreihe erscheint alle zwei Wochen am Sonntag. Die Inhalte sind aus der theoretischen Einführung in den Sammelband „Islam und Psychologie – Beiträge zu aktuellen Konzepten in Theorie und Praxis“ entnommen, der zum Beispiel hier erhältlich ist. Darin findet Ihr auch ein Literaturverzeichnis für die verwendeten Quellen.