Aus der Schatzkiste. Die Wenigsten wissen, dass die IASE seit den 1980er Jahren existiert. Wir haben alte Tagungsbeiträge ausgesucht, um sie wöchentlich hier zu posten. Viel Vergnügen beim Lesen.


Wie gehen die Moscheen mit dem Thema Gewalt um?

Mehmet Ünal Tosun

Liebe Schwestern und Brüder, ich habe zwar die Ausbildung hier beim VIKZ genossen und bin seit zehn Jahren ehrenamtlich tätig, bin jedoch kein hauptamtlicher Imam. Ich habe zur Vorbereitung dieses Themas versucht, praktisch vorzugehen und sowohl Mitglieder der Gemeinden als auch Hodschas befragt.

Wie gehen die Moscheen mit dem Thema Gewalt um?

Ich möchte hier keine islamisch-rechtliche Begutachtung durchführen, dennoch müssen wir Islam und die Gewalt in den Familien voneinander trenne, denn der Islam unterstützt Gewalt, vor allem nicht innerhalb der Familie. Es gibt diesbezüglich einen Vers im Koran, der das Schlagen der Frau betrifft. Einige Kommentatoren sind der Ansicht, dass man die Frau ganz leicht berühren darf, andere meinen, dass hier eher ein zudringliches Einreden/Ermahnen gemeint ist.

Gewalt in der Familie möchte ich in drei Bereiche aufteilen:

  1. Gewalt seitens des Mannes gegenüber der Frau
  2. Gewalt seitens des Mannes gegenüber den Kindern
  3. Gewalt seitens der Frau gegenüber den Kindern (und auch gegen den Mann, was es auch gibt)

Diese Trennung sollte man schon unternehmen, obwohl in den meisten Fällen, in denen man über Gewalt in islamischen Familien spricht, der böse Mann gemeint ist, der nicht nur schlägt, sondern auch psychische Gewalt ausübt, die m.E. eine noch größere Nachwirkung im Leben der Menschen haben kann. Noch schlimmer ist physische mit psychischer Gewalt gepaart, doch das wissen Sie als Psychologen und Pädagogen sicherlich noch besser als ich.

Beispiel: Ein ca. 17-18-jähriger jugendlicher Rollstuhlfahret kam mehrfach zu mir, da er seine Pro-bleme in seiner Moschee nicht ansprechen könne. Er berichtete schluchzend, dass er von seinem Vater das Verbot bekommen habe, nach 23 Uhr abends an der Haustür zu klopfen oder zu klingeln, da er vor dieser Zeit zuhause sein müsse. Als er nun gestern gegen 23:30 Uhr nach hause kam und klopfte, wur­de er nicht hereingelassen. Auch die Mutter durfte nichts sagen, und so habe er die Nacht draußen ver­bracht.

Wenn es sich hier nicht um einen behinderten Jugendlichen gehandelt hätte, wäre ich nicht so bestürzt gewesen. Der Junge hat versucht, sich in einem Imbiß zu wärmen, es war im Winter 1999.

Nach einiger Zeit fragte ich ihn, wie es gehe und bot ihm an, mich über einige Bekannte „einzumi­schen“. Täte ich es direkt, würde ich wahrscheinlich mit Verachtung und Hohn überschüttet oder wäre sogar mit Handgreiflichkeiten konfrontiert. Der Junge wollte das nicht und zog es vor, die Situation auszuhalten, bis er dann irgendwann ausziehen könne.

Die Situation in den Moscheen 

Nicht nur die Hodschas, sondern auch die Gemeindevorstände sehen die Gewalt in den Familien als feststehende Tatsache an. Diese Gewalt gibt es natürlich auch bei Familien, deren Väter und Ehemän­ner zum Freitagsgebet kommen. Dies gilt sowohl für die Türken als auch alle anderen ethnischen Gruppierungen. Mir wurde in den Moscheen gesagt, dass das Themas Gewalt allerdings nicht tabuisiert werde. Diese Meinung wird durchgehend vertreten, wobei hier vor dem Hintergrund eigener anderer Erfahrungen ein unterschiedliches Verständnis des Begriffes „Tabu“ zu bestehen scheint. Tabuisie­rung bedeutet nach meinem Verständnis, dass man nicht darüber spricht, sich nicht darum kümmert, dass man Initiative erst entwickelt, wenn man gefragt wird. Gewalt werde in den Moscheen nicht ta­buisiert, sondern „gemäß den Traditionen in der türkischen Kultur gehandhabt“. Ein makabres Zitat, wie ich meine. Was das bedeutet, ist je nach Auffassung ganz unterschiedlich. Dabei ist Diskretion die wichtigsten Sache. Es darf nichts herauskommen, es darf der Ruf des Ehemannes, des Vaters der Fa­milie nicht beschädigt werden. In diesem Fall, so die Auffassung, ist auch der Ruf der Frau und der ganzen Familie beschädigt, man lacht auch über sie. Das bedeutet in der Praxis, dass die Gemeindelei­tung oder der Hodscha nur dann aktiv werden, wenn der Fall an sie heran getragen wird. Und zwar durch einen der Eheleute oder die Kinder, die sagen „mischt euch ein, sonst wird es schlimm“. Wenn es jemand Außenstehender tut und sich die Gemeindeleitung dem Problem vorsichtig nähert, um viel­leicht einen versteckten Hilferuf aus der Familie wahrzunehmen und dann nichts geschieht, zieht man sich wieder zurück. In ganz akuten und schlimmen Fällen wird auch Anzeige erstattet. Hier waren sich eigentlich alle einig, mit denen ich gesprochen habe. Die ordnungspolitische Macht steht dem Staat zu, die Gemeinden können nicht einfach eingreifen und bestrafen, hierüber besteht Konsens.

Exkurs:

Die Moscheegemeinden in Deutschland stecken in Fragen des sozialen Zusammenlebens tatsächlich noch in den Kinderschuhen. Sie sind der Kern des religiösen Zusammenlebens der Muslime. Eine eigenständige Ausweitung der Kompetenzen auf weitere gesellschaftliche Felder (Seelsorge, Diakoni­sehe Einrichtungen etc.), so wie es christliche Kirchen mit ihren Organisationen tun, wäre eine An­gleichung der hierarchischen Strukturen der hiesigen Kirchen, eine solche Institutionalisierung wird meiner Erfahrung nach von den Gemeinden abgelehnt. Wir wollen keine Kirchenstrukturen, sondern solche, die uns ermöglichen, uns zum Gebet und zum Gespräch zu treffen usw. Spezielle seelsorgeri-sehe Strukturen gibt es zwar hier und dort, doch besonders die erste Generation steht dem skeptisch gegenüber. Die Muslime sind es eher gewohnt, in den Moscheen zu beten, Armenhäuser in Eigeni­nitiative zu errichten und gesellschaftliche Probleme nicht mit Hilfe einer kirchlich-hierarchischen Struktur zu lösen. So ist vor 150 Jahren (!) ein Altenheim in Istanbul nicht von einer Moschee oder einem Moscheeverband gegründet worden, sondern von verschiedenen engagierten Einzelpersonen. Dies ist der von vielen Muslime bevorzugte Lösungsweg. Ein Frauenhaus z.B. sollte nicht von einem Moscheeverband, sondern einem sozialen Verband, der von Muslimen betrieben wird, eingerichtet und betrieben werden.

Gewalt herrscht vor allem in den muslimischen Familien, in denen der Bildungsgrad niedrig ist. Wei­terhin kommt sie in Familien vor, in denen die Affinität zu religiösem, rechtschaffenem Leben gering ist. Hierzu zählen vor allem das Bewußtsein, Muslim zu sein, den Islam auch über die fünf täglichen Gebete hinaus zu praktizieren und das „Brennen“ der Liebe Gottes im Herzen zu haben. Dabei müssen wir besonders für die türkischen Muslime in Deutschland feststellen, dass sehr an Beidem mangelt. Dazu ist wichtig zu wissen, dass die meisten türkischen Muslime aus ländlichen Regionen nach Deutschland gekommen sind, wo das traditionelle Mann-Frau-Kind-Verhältnis oft sehr viel stärker ist als das, was der Islam zu diesen Dingen lehrt. Ich denke, dass wir hier in Deutschland die Chance ha­ben, die Religion auf die eine und die Tradition auf die andere Seite zu stellen und dazwischen eine Mitte zu finden. Dabei möchte ich nicht Tradition und Kultur der muslimischen Familien negativ be­werten. Ich erinnere mich an eine schöne Formulierung eines Predigers in der Türkei, der sagte: „Tra­ditionen machen die Grenzen des sozialen Lebens aus.“ Dies gilt insofern, dass zwar viele Muslime nicht praktizieren, sich aber durch gewisse Traditionen wie z.B. Fasten oder das Schlachten am Op­ferfest zum Islam bekennen.

Wie bereits erwähnt, ist man sich in den Gemeindeleitungen der Gewaltproblematik bewußt. Deswe­gen wird sie sowohl in den normalen Predigten als auch in Zweiergesprächen immer wieder zum Thema gemacht.

So kommt vielleicht jemand zum Hodscha und berichtet über seinen Nachbarn, der jeden Tag seine Frau schlägt. Man eruiert dann gemeinsam ob es möglich ist, die Situation mit der Familie zu themati­sieren. Wenn nicht, wird es zum allgemeinen Thema in der Gemeinde gemacht, z.B. in der Freitags-predigt oder in kleineren Gesprächsrunden ohne die Person direkt anzusprechen. Noch effektiver ist es, dass man Vertrauenspersonen wie z.B. Verwandte findet, der die Familie anspricht und Lösungen sucht.

So erinnere ich mich an einen Fall, in dem nach vielen Gerüchten und Beschuldigungen in der Mo­schee die Gemeindeleitung zu dieser Familie fuhr und den Ehemann auf sein Verhalten ansprach. Sie drohten auch klar mit Konsequenzen wie dem Gang zur Polizei oder damit, die Frau aus der Familie zu holen und ins Krankenhaus zu bringen.

Üblich dagegen ist es nicht, dass eine Frau zum Hodscha kommt und ihm berichtet, dass sie geschlagen wird. Meist geschieht es um fünf Ecken, und bis der Hodscha davon erfährt, hat oft die Großfamilie schon eine Lösung gefunden. Die meisten waren sich einig, dass man auf jeden Fall die staatlichen Stellen wie das Jugendamt, ein Frauenhaus usw. einschalten müsse, wenn die Mittel der Gemeinde nicht ausreichten. In der Praxis sind dieses aber Ausnahmefälle.

Nadja El Ammarine:

Mir fehlte als Pädagogin heute bisher die andere Seite. Hier wurde nur betont, was Kindern angetan wurde und wird, aber andererseits existiert auch die Notwendigkeit einer Grenzsetzung. Hierzu zählt das Beispiel mit dem Rollstuhlfahrer. Die Eltern waren zumindest so „fair“, eine Vereinbarung zu treffen, nämlich dass der Junge bis 23 Uhr zuhause sein mußte. Insofern verstehe ich die Gewalt nicht ganz. Natürlich ist es schlimm, die Nacht draußen zu verbringen, doch ein 17-jähriger hat auch die Option, um 23 Uhr noch Hause zu kommen. Ich brauche als Erzieher auch die Möglichkeiten, Gren­zen zu setzen und Konsequenzen folgen zu lassen, auch wenn diese in dem geschilderten Fall vielleicht unsinnig gewesen sind.

Antwort:

Ohne Einzelheiten zu berichten war in diesem Fall das Aussetzen sozusagen die Spitze des Eisberges. Schläge waren an der Tagesordnung, die Frau war gebrochen und konnte keinerlei Widerstand gegen

den Vater leisten usw.

Malika Douallal:

Wie weit sind die Hodschas in den Moscheen über die psychosozialen Beratungsangebote in der Um­gebung informiert? Man muß ja nicht gleich zum Frauenhaus oder Jugendamt gehen. Es gibt Informa­tionen über Beratungsstellen bei der Stadtverwaltung usw.

Antwort:

Ein Wissen über die Angebote gibt es nicht, das muß man ganz klar sagen. Man weiß auch über die herausstechenden Angebote der Frauenhäuser und des Jugendamtes nur durch besondere Ereignisse in den Familien und deren Erfahrungen. Eine systematische Information der Hodschas und der Gemein­den ist bisher nicht erfolgt, da diese Arbeit in den Bereich eines seelsorgerisch ausgebildeten Psycho­logen oder Sozialarbeiters hinein reicht. Dazu sind wir doch in einer gewissen Weise noch zu sehr abgeschieden mit unserer Kultur. Ich denke, dass sich das in Zukunft ändern wird. Die Vermittlung von Informationen dieser Art wären z.B. eine wichtige Aufgabe für Eure Arbeitsgemeinschaft. Ihr seid versiert und kennt Euch mit einer solchen Problematik aus. Eine Möglichkeit wäre z.B. in Zusammen­arbeit mit verschiedenen Moscheen oder Verbänden dergestalt, dass jemand von Euch kommt und die Hodschas auf ihren Fortbildungstreffen informiert.

In Dortmund haben wir jemanden, der sowohl Hodscha als auch ausgebildeter Therapeut ist, zu dem schicken wir schon in Einzelfällen.

Amina Theißen:

Tatsache ist, dass es Gewalt in muslimischen Familien gibt. Tatsache ist auch, dass das bestehende An­gebot an Beratungsmöglichkeiten für Muslime nicht zufriedenstellend ist. Ich glaube auch nicht, dass von islamischer Seite aus das Jugendamt eingeschaltet wird, da hinterher die Probleme manchmal noch größer sind als zuvor und das Kind ganz entwurzelt ist. Von den Moscheen selbst wird auch nichts unternommen, so dass die Frauen und Kinder in ihrer Not alleine sind. Es brennt uns unter den Nägeln, dass wir dringend eigene Angebote schaffen müssen, und zwar in Zusammenarbeit. Du hast zwar gesagt, dass der Auftrag der Moscheen eher ein religiöser im engeren Sinne sei, doch wer soll es denn anders tun? Wir müssen uns als Muslime dieser Verantwortung stellen, vor allem, wenn wir wis­sen, dass es diese Probleme gibt.

Antwort:

Diese Aufgabe müsste eigentlich von den Moscheen durchgeführt werden, doch ich fürchte, dass die Muslime noch nicht so weit sind. Wir erleben hier in Europa einen Umgang mit derartigen Problemen, den wir aus unseren Heimatländern nicht kennen. Es wird noch eine Menge Erziehungsarbeit im isla­mischen Sinne erforderlich sein, dann ist es auch Zeit für Beratungsstellen etc.

Dr. Hamdani:

Ich habe den Eindruck, dass die Wahrnehmung für die Probleme zwar vorhanden ist, doch sehr indivi- i­duell erfolgt. Es gibt m.E. kein Konzept, keine Idee. Das Problem wird in der Familie eher verheim­licht, diese Verheimlichung geht weiter auf der Ebene der Moschee, auch wenn in Einzelfällen Dritte eingeschaltet werden. So haben die Imame vor 200 Jahren praktiziert und so praktizieren sie heute, in Anatolien und in Nippes. Wo ist unsere Antwort an die Herausforderung der Zeit? Wir sind dieser Herausforderung bisher nicht gewachsen und leben immer defensiv.

Antwort:

Ich denke, es handelt sich hier um ein gesellschaftliches Problem und betrifft uns Muslime in der Ge­samtheit. Wenn ich das Verständnis von Erziehung aus der Zeit des Propheten betrachte, ist Erziehung in erster Linie eine Angelegenheit der Familien. Es wird eine Zeit brauchen, bis ein Bewusstsein dafür geschaffen ist, dass auch die islamische Öffentlichkeit Hilfen bereitstellt.