Vortrag im Islamischen Kulturverein Mainz am 24.12.2012


Dr. Ibrahim Rüschoff

Einleitung

In der Arbeit lerne ich viel von den Menschen, Dinge, die mit den Problemen, mit denen sie zu mir kommen, oft nicht viel zu tun haben. Ich bekomme durch meine Arbeit auch Zugang zu den Lebenswelten, den Normen und Werten des Alltagslebens der Menschen allgemein.

Im Laufe der Zeit ist mir im Umgang mit Menschen aus dem Mittelmeerraum, bei orthodoxen Griechen, katholischen Italienern, koptischen Ägyptern, alevitischen Türken, aber z.B. auch Pakistani und eben auch bei Muslimen etwas aufgefallen, was ich in Ansätzen auch aus meiner eigenen Kindheit in Deutschland kenne:

Auf Seiten der Eltern in ihrem Umgang mit den Kindern, aber auch bei Kindern im Umgang mit ihren Eltern besteht oft ein sehr enges, rigides Verständnis von Gehorsam, das keinerlei Widerspruch duldet und darüber hinaus diesen Gehorsam mit Respekt gleichsetzt bzw. „Ungehorsam“ oder „unterschiedlicher Meinung sein“ mit Respektlosigkeit.

Eltern erwarten natürlich folgsame und gehorsame Kinder, zumindest prinzipiell, und Kinder sind grund-sätzlich ja auch bereit, auf die Eltern zu hören, nicht zuletzt weil sie sie lieben und auch auf sie und ihre Hilfe angewiesen sind. Doch wie weit reicht dieser Anspruch auf Gehorsam? Ist er wirklich gleichzusetzen mit Respekt? Sind die Eltern die letzten absolutistischen Herrscher, denen gegenüber es keine persönliche Frei-heit und Autonomie gibt?

Wenn man die Realität betrachtet, könnte man meinen es sei so. Ich erlebe in Kontakten häufig eine extreme Abhängigkeit von den Eltern, die die Selbstwirksamkeit und Autonomie der Kinder stark einschränken. Diese Abhängigkeit hat in den meisten Fällen dann auch eine negative Auswirkung auf die Persönlichkeit und die Lebenswelt der Kinder wie z.B. auf deren Ehen.

Bei den Muslimen, denen ich im Laufe der Jahre beruflich und privat begegnet bin, ist mir diese Situation besonders aufgestoßen, weil sich mir eine derartige Auffassung und ein solches Verständnis von Gehorsam aus den islamischen Quellen, soweit sie mir zugänglich sind, nicht erschließt, und weil ich darüber hinaus feststellen musste, dass dadurch allen, Eltern wie Kindern, zum Teil gravierende Probleme entstehen, die tief und manchmal irreparabel in das Leben der Betroffenen eingreifen und viel Unglück über die bringen kann, die einem zumeist am Nächsten stehen, die man am meisten liebt und deren Glück man wünscht.

Ein Teilnehmer drückte es so aus: „In den Köpfen unserer Eltern, und auch in unseren, so fürchte ich, steckt die Überzeugung, dass, egal was ich in dieser Welt Gutes getan habe: in der Schule fleißig und im Beruf erfolgreich, kein Gebet ausgelassen, mich liebevoll um meine Familie gekümmert und die Kinder wohl-erzogen habe, eine Moschee gegründet und viele Menschen zum Islam gebracht habe, alles das zählt weder im Diesseits noch im Jenseits, wenn meine Eltern mit mir nicht zufrieden sind.“

Das kann eigentlich nicht islamisch sein.

 

Wovon rede ich? – Einige Beispiele:

(1)

Ein junger Mann hatte wichtige, regelmäßige Termine und sollte seine Mutter jedes Mal zum Einkaufen mit in die Stadt nehmen. Diese wurde trotz mehrfacher Hinweise auf die Zeit nie pünktlich fertig, sodass der Sohn Probleme wegen der ständigen Verspätungen bekam. Trotz großer Bedenken über sein Verhalten ist er nach vielfachen „Warnungen“ schließlich einmal allein gefahren und hat die Mutter stehen lassen, was diese ihm als Respektlosigkeit und Ungehorsam vorhielt. – Beim nächsten Mal war sie dann pünktlich fertig…

(2)

Ein ca. 30-jähriger Mann, der seinem manchmal sehr jähzornigen Vater möglichst aus dem Weg ging, begründete sein Verhalten mit dem Satz: „Wenn sich mein Vater über mich ärgern muss, habe ich eine Sünde begangen.“

(3)

Ein junger Mann nimmt auf Druck der Mutter Abstand von seiner großen Liebe und heiratet eine Frau, die die Mutter ausgesucht hat. Diese sowie die nächste, ebenfalls auf Wunsch der Mutter zustande gekom-mene Ehe scheitern, beide Frauen verlassen den Mann nach kurzer Zeit wegen des Einflusses der Mutter, gegen die sich der Mann auch in Alltagsdingen trotz gut begründeter eigener Meinung nicht durchsetzen kann, weil er dann ungehorsam bzw. ein schlechter Sohn sei.

(4)

Eine Frau wird in ihrer Ehe misshandelt und erniedrigt. Die Eltern erwarten von ihr Geduld und Durch-halten. Nach langer Leidenszeit ohne jede Aussicht auf Änderung wird die Frau dann gegen den Willen der Eltern selbst aktiv und trennt sich vom Mann. Sie hat das Gefühl, den Eltern gegenüber undankbar und un-gehorsam gewesen zu sein.

(5)

Die Mutter einer hier geborenen und aufgewachsenen, unverheirateten 38-jährigen Frau, die ihre Jahre (und damit auch Ehe und Kinder) dem elterlichen Betrieb geopfert hat, der schließlich wegen unsolider Wirtschafterei des Vaters doch in Konkurs ging, erwartet von dieser, dass sie mit ihr für immer in die Türkei zurückgeht, um sie dort zu versorgen. Die Tochter kann sich dieser Forderung nur unter größten Schwierig-keiten entziehen.

(6)

Ein Mann kann seine Familie nur nach Deutschland bringen, wo er schon lange arbeitet, indem der eine Tochter „opfert“ und bei den Schwiegereltern lässt, da diese in der Türkei nicht allein sein wollen. Daraus entstehen erhebliche Komplikationen für die ganze Familie.

(7)

Ein 35-jähriger Mann wird von seinem Vater über Jahre regelmäßig massiv erniedrigt, beschimpft und bis ins Erwachsenenalter geschlagen. Trotz einer regelrechten Traumatisierung besucht er ihn immer wieder bei seinen Reisen nach Marokko, da er sonst das Gefühl hat, seinem Vater ungehorsam zu sein. Danach ist er tagelang depressiv, manchmal sogar suizidgefährdet.

 

Was geht hier vor?

Wenn ich diese Beispiele an meinen Erfahrungen aus der eigenen Elternfamilie oder dem sozialen Umfeld meines westfälischen Dorfes messe, aus dem ich stamme, so fällt mir die außerordentliche elterliche Machtfülle auf, selbst wenn ich die 50er und 60er Jahre meiner Kindheit heranziehe. Auch heute dürfte man in Deutschland in irgendwelchen verlassenen Winkeln auf dem Land hier und da noch vergleichbare Situa-tionen vorfinden, insgesamt erscheinen die geschilderten Fälle in der heutigen Zeit und der bundesdeutschen Realität jedoch als absoluter Anachronismus, die zudem in vielen Fällen auch gegen geltende Strafgesetze verstoßen.

Obwohl ähnliche Verhältnisse auch in Süditalien, Spanien oder Griechenland existieren, ziehen die Eltern hier nicht die Religion (z.B. das katholische Christentum) heran, sondern berufen sich eher auf die Tradition. Muslimische Eltern sind hier in einer „komfortableren“ Situation, da der Islam doch viele verbindliche und relativ konkrete Aussagen über das Verhalten im Alltag macht. Vor diesem Hintergrund ist nicht verwunder-lich, dass Muslime (und zwar wieder Eltern wie Kinder!) die skizzierten Auffassungen, wie zu erwarten ist, mit dem Islam begründen und damit praktisch „unangreifbar“ machen. Aber haben sie auch Recht damit?

Um hier weiterzukommen, sollten wir

  • einen Blick in den Koran und auf die Sunna werfen und
  • schauen, welche anderen Einflüsse hier vielleicht noch eine Rolle spielen.

 

Aus dem Qur’an:

(1) „Und tue deinen Eltern Gutes. Sollte einer von ihnen oder beide in deiner Fürsorge ein hohes Alter erreichen, sage niemals ‚Bah!‘ zu ihnen oder schelte sie, sondern sprich immer in ehrerbietiger Rede zu ihnen und breite demütig die Flügel deiner Zärtlichkeit über sie und sage: ‚O mein Erhalter! Erteile ihnen deine Gnade, ebenso wie sie für mich sorgten und mich aufzogen, als ich ein Kind war!‘“ (17:23-24, auch 2:83, 6:151 oder 46:15 und 17)

(2) „Verehrt Allah und setzet Ihm nichts zur Seite, und (erweiset) Güte (Ihsan) den Eltern, den Verwandten, den Waisen und den Bedürftigen, dem Nachbarn, der ein Anverwandter, und dem Nachbarn, der ein Fremder ist, dem Gefährten an eurer Seite und dem Wanderer und denen die eure Rechte besitzt. Wahrlich, Allah liebt nicht die Stolzen, die Prahler.“ (4:36)

(3) „Wir haben dem Menschen ans Herz gelegt, gütig (Ihsan) gegen seine Eltern zu sein. Doch wenn sie dich bestimmen möchten, daß du Mir das zur Seite stellst, wovon du keine Kenntnis hast, so gehorche (Ta’a) ihnen nicht. Zu Mir ist eure Heimkehr, dann will Ich euch verkünden, was ihr getan.“ (29:8, auch 31:14-15).

(4) „So gehorchet Allah und gehorchet (Ta’a) dem Gesandten. Doch wenn ihr euch abkehrt, dann ist die Pflicht Unseres Gesandten nur die deutliche Verkündigung.“ (64:12)

 

Aus der Sunna

(1) Al-Mughira Ibn Schu`ba berichtete, dass der Prophet, Allahs Segen und Friede auf ihm, sagte: „Allah hat euch wahrlich folgendes verboten: die Lieblosigkeit (‚oquq) gegen die Mütter, die Verwehrung einer milden Gabe und deren unrechtmäßige Einnahme und die Tötung der Mädchen. (…)!“ (Al-Bukhari)

(2) Abdullah ibn Amru ibn al-As (r) überliefert, dass der Prophet (s) sagte: „Die großen Sünden sind: Allah etwas beizugesellen, ungehorsam gegenüber den Eltern (‚oquq) zu sein, jemanden zu töten und falschen Eid zu schwören.“ (Al-Bukhari/Riyad us-Salihin Nr. 337)

 

Welche Begriffe werden im Arabischen verwendet?

  • den Eltern Güte erweisen: Ihsan
  • den Eltern gegenüber lieblos sein: ‚Oquq
  • Gehorsam gegen Gott und seinem Gesandten: Ta’a
  • Gehorsam den Eltern bei Shirk verweigern: Ta’a

Es findet sich im Zusammenhang mit den Eltern nicht der Begriff „Ta’a“, der für den Gehorsam gegenüber Gott und dem Gesandten benutzt wird sondern „Ihsan“.

Unterstrichen wird das durch den Vers 4:36: „(Erweiset) Güte den Eltern, den Verwandten, den Waisen und den Bedürftigen, dem Nachbarn, der ein Anverwandter, und dem Nachbarn, der ein Fremder ist, dem Gefährten an eurer Seite und dem Wanderer und denen die eure Rechte besitzt.“ Dem Nachbarn oder dem Fremden „gehorchen“ kann natürlich nicht gemeint sein, wohl aber ihnen „Güte erweisen“.

Für Lieblosigkeit bzw. „Ungehorsam“ den Eltern steht der Begriff „’oquq“, das Gegenteil von „Ihsan“.

Aus islamischer Perspektive scheint folgender Sachverhalt von Bedeutung: Wir sollen den Eltern Respekt und Ehre erweisen, ihnen in Güte begegnen und die „Flügel unserer Zärtlichkeiten demütig über ihnen ausbreiten“ (17: 24). Doch den Eltern zu folgen hat Grenzen dort, wo sie Shirk verlangen, doch selbst dann sollen wir ihnen „mit Güte Gesellschaft im Leben dieser Welt leisten“ (31:15). Von absolutem Gehorsam ist also nirgends die Rede. Warum wird er dennoch oft verlangt?

 

Was spielt noch eine Rolle?

Mit der Religion hat die ganze Angelegenheit wenig bis gar nichts zu tun, das zeigen auch die Vergleiche mit den christlich geprägten Kulturen in Mittelmeerraum. Von Bedeutung sind vielmehr

(1) Erzieherische Faktoren:

In vielen Familien lernen Kinder früh, dass ihre seelischen Bedürfnisse wenig oder gar nicht zählen. Dagegen ist Anpassung an die Bedürfnisse der Eltern gefordert. Ungehorsam bzw. abweichende Meinung wird als Respektlosigkeit gegenüber der elterlichen Autorität gewertet.

(2) Soziokulturelle Faktoren/kollektive Strukturen.

Gehorsam und Respekt sichern die Funktion oder auch das Überleben der Familie oder des Stammes. Dies kann in bestimmten historischen und funktionalen Situationen durchaus von ausschlaggebender Bedeutung sein (z.B. in gefährlichen Gegenden, unsicheren wirtschaftlichen Situationen, aber auch z.B. beim Militär im Kampfeinsatz).

(3) Patriarchale Strukturen:

Gehorsam sichert nicht nur die Macht der Männer, sondern auch die Macht der Frauen, die ihre Söhne abhängig halten und dadurch in die Gesellschaft hineinwirken.

(4) Migrationsfaktoren:

Gehorsam sichert vertraute und Sicherheit vermittelnde Elemente in der Fremde. Gehorsam der Kinder mindert die Ängste der Eltern in der fremden Umgebung und schützt vor Verlust des Ansehens.

 

Die Folgen:

Kinder erleben häufig eine starke Einschränkung ihrer Autonomie. Selbst wenn die Eltern abwesend oder irgendwann gestorben sind, wirken sie über die Gewissensbildung bei den Kindern weiter und schaffen dadurch Konflikte.

Kinder lernen nur schwer, eigene Ansprüche und Standpunkte angemessen zu äußern und ggf. auch durch-zusetzen. Sie sind später als Erwachsene häufig entweder aggressionsgehemmt oder extrem autoritär.

Kinder kämpfen mit dem eigenen Ich-Ideal und sind später nur schwer in der Lage, Schwächen oder Fehler zuzugeben, weil sie das als kompletten Verlust ihrer Autorität erleben.

Kinder leiden unter ständigen Schuldgefühlen, egal wie vernünftig ihre Entscheidung auch sein mag.

 

Ausblick

Wie lösen wir die schwierige Situation, den Eltern einerseits den islamisch geschuldeten Respekt und die geschuldete Güte zukommen zu lassen und andererseits die eigene Verantwortung für uns selbst wahrzuneh-men und ihr nachzukommen?

Solange uns die Eltern zuhören, uns als (erwachsene) Kinder mit unseren eigenen Bedürfnissen und Vorstel-lungen, unseren Möglichkeiten und Grenzen wahrnehmen und unsere eigene Verantwortlichkeit vor unserem Schöpfer akzeptieren, ist alles in Ordnung.

Doch was ist z.B. zu tun,

  • wenn sich die Eltern gegen eine Heirat aussprechen, bei der alle Voraussetzungen ideal sind, nur weil sie z.B. den Bräutigam nicht selbst ausgesucht haben?

  • Wenn sich eine Mutter das erklärte Recht herausnimmt, während der Abwesenheit ihres Sohnes und der Schwiegertochter in deren Wohnung die Schränke heimlich zu kontrollieren?

  • wenn jemand gegen den erklärten Willen der Eltern aus dem gemeinsam bewohnten Haus ausziehen möchte, da trotz vieler Versuche ein Zusammenleben nur um den Preis der absoluten Anpassung an die Elternfamilie möglich ist, die schwere Probleme in die Ehe trägt und nicht nur die Schwieger-tochter überfordert sondern auch den Sohn erkennen lässt, dass er seiner Mutter in keiner Weise gewachsen ist?

Müssen wir den Eltern nicht auch zumuten unser Verhalten und unsere gut überlegten und begründeten Entscheidungen zu akzeptieren oder auch nur zu ertragen und notfalls auch darunter zu leiden

  • wenn sie absolut nicht in der Lage oder willens sind, unsere Situation zu begreifen und zu verstehen?

  • wenn sie nicht gebildet genug sind, die Zusammenhänge unserer Lebenswirklichkeit zu erkennen und z.B. die Hochschule für ein großes Haus mit einem Lehrer halten, wo mittags der Unterricht vorüber ist und man nachmittags die Schularbeiten zuhause macht?

  • wenn sie Angst haben, ihren Einfluss zu verlieren?

  • oder wenn sie schlicht machtversessen oder einfach schlechte Eltern sind, die es natürlich auch unter uns Muslimen gibt?

 

Über dieses Spannungsfeld möchte ich eine lebhafte Diskussion anregen.