Aus der Schatzkiste. Die Wenigsten wissen, dass die IASE seit den 1980er Jahren existiert. Wir haben alte Tagungsbeiträge ausgesucht, um sie wöchentlich hier zu posten. Viel Vergnügen beim Lesen.


Nigar Yardim

Meine eigenen Erfahrungen basieren auf dem Erlebnis der 15-jährigen Arbeit meines Vaters in einer Duisburger Moschee als deren Imam und auf meinen persönlichen Erfahrungen seit neuerdings 4 Jahren in einer Moschee mit jungen Frauen und Mädchen.

Die Ausgangssituation

  • Für die nach Deutschland immigrierten Muslime waren und sind die Moschee bzw. der oder die Gelehrte in den Moscheen wichtige Anlaufpersonen bezüglich sozialer Probleme, die besonders auch im Zusammenhang mit der Migration entstanden und zu sehen sind.

  • Die ersten Personen, die sich mit der Frage der religiösen Bildung der Nachfolgegenerationen beschäftigten, waren wie mein Vater Gastarbeiter, die nach der Arbeit Koranunterricht erteilten bzw. das Gebet leiteten.
  • Es entwickelte sich in der Gemeinde eine Art „Gemeinschaftsverantwortung“ der Mitglieder untereinander sowie auch eine „soziale Kontrolle“.
  • Das führte in manchen Fällen zu Konflikten, in der Regel wurde hierbei die Hilfe des Hodschas gesucht.
  • Die Anforderungen durch die veränderte Umstände im langjährigen Zusammenleben mit der deutschen /christlich geprägten Gesellschaft führten in den Moscheen ebenfalls zu Veränderungen: Es sollten Imame eingestellt werden, die deutsch sprechen und möglichst hier aufgewachsen sind. (Man kann in gewissem Sinne sogar von Glück reden, dass die Türkei und Deutschland ein Abkommen unterzeichneten, wonach nur vom Staat gestützte Einrichtungen Imame aus der Türkei holen durften, so dass die nichtstaatlichen religiösen Organisationen in Deutschland geradezu gezwungen waren, eigenen Nachwuchs auszubilden). Doch auch bei DITIP als staatlicher Institution gab es einen Strukturwandel: Die Imame sollten deutsch lernen, bevor sie nach Deutschland kommen.

Die soziale Funktion eines Imams damals und heute

Insbesondere Türken sind es gewohnt, bei fast allen den Alltag betreffenden Angelegenheiten einen Imam zu fragen um sie somit „absegnen“ zu lassen. Das ist z.B. der Fall wenn

  • ein Kind geboren wird und man einen guten Namen sucht,
  • jemand um die Hand der Tochter bittet,
  • jemand für die heiratsfähigen Söhne und Töchter einen Partner sucht,
  • der Sohn im Gefängnis sitzt und man zu stolz ist, ihn zu besuchen,
  • sich jemand gezwungen sieht, eine Person zu heiraten, die man nicht möchte (hier fungiert der Hodscha als Verbündeter),
  • ein Beruf gewählt werden soll,
  • wichtige geschäftliche Entscheidungen getroffen werden müssen.
  • Nicht selten muß der Imam vermitteln, wenn zwischen den Eltern und den Jugendlichen keine Gespräche möglich sind.
  • Wie weit der Hodscha hier qualifiziert Rat und Hilfe zu geben vermag, ist abhängig von seinen menschlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten als auch von seiner Interessenlage. So fühlt sich der eine verantwortlich für alle Belange der Gemeinde, während der andere seine Aufgaben lediglich in der Verrichtung religiöser Tätigkeiten sowie Koranunterricht und Freitagspredigt sieht.

Veränderungen in der zweiten Generation

Mit dem Generationswechsel in den Gemeinden beobachten wir, dass in den letzten Jahren der Dialog zwischen den Mitgliedern und dem Hodscha wieder intensiver geworden ist. Eine spürbare Veränderung entstand auch dadurch, dass die berufstätigen Hodschas, die nach der Schicht in die Moschee gingen und sich der Gemeindearbeit widmeten, von den Hauptamtlichen abgelöst wurden.

Mittlerweile bemühen die Hodschas Gemeindemitglieder in den Moscheen, die bei sozialen Belangen als Ansprechpartner mitarbeiten. Es gibt allerdings immer noch Schwierigkeiten: Insbesondere im Umgang mit Jugendlichen sind die meisten überfordert, sie erreichen zwar eine bestimmte Gruppen (die in die Moschee kommen), doch zu großen Teilen der Jugendlichen ist mit den bisherigen Methoden kein Zugang möglich. Häufig werden Möglichkeiten und Methoden der Jugendarbeit im Gespräch mit den Kirchen thematisiert.

Die Ansprüche der Gemeinden sind größer geworden, viele beschäftigen sich intensiv mit Fragen ihrer Minderheitensituation in einer christlich geprägten Gesellschaft. Sie hinterfragen herkömmliche Lehr-methoden in den Koranschulen wie auch das Verhältnis zwischen Gemeinde und Hodscha mit den tra-ditionellen Aufgabenbereichen, Zuständigkeiten und Umgangsformen.

Die Themen der Predigten sind ausgeprägter und detaillierter, Hodschas müssen sich mehr mit kritischen Fragen beschäftigen, wozu ihr Wissen nicht immer ausreicht.

Die Bedeutung des Koranunterrichts hat sich verlagert: Während früher fast ausschließlich religiöse Wissensvermittlung gewünscht war, hat heute der Koranunterricht als Ort der Beratung und Unterstützung in vielen Alltagsfragen an Bedeutung gewonnen, die je nach LehrerIn mehr oder weniger erfolgreich ist.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass im Bereich psychosozialer Beratung durch die sich veränderte Situation bei den Hodschas durchaus ein Bedarf an fachlicher Hilfe besteht, wie auch eine erste kurze Umfrage gezeigt hat. Hier ist besonders die Jugendarbeit zu nennen, wo bestimmte Gruppen muslimischer Jugendlicher mit den bisherigen Methoden nicht mehr erreicht werden, zumal während der Ausbildung der Hodschas diese Fragen nahezu keine Rolle gespielt haben. Hier müssen zukünftig sicherlich Änderungen erfolgen.

Psychosoziale Beratungsstellen in den Moscheen selbst einzurichten, halte ich für sehr schwierig, da die Schwellenangst für viele zu groß ist. Sinnvoller sind neutrale Stellen, die eng mit den Hodschas und den Moscheen zusammenarbeiten.