Aus der Schatzkiste. Die Wenigsten wissen, dass die IASE seit den 1980er Jahren existiert. Wir haben alte Tagungsbeiträge ausgesucht, um sie wöchentlich hier zu posten. Viel Vergnügen beim Lesen.


Maria Zepter

 

Möglichkeiten und Grenzen islamischer psychosozialer Beratungsarbeit sollen am Beispiel der „Psychologischen Beratungsstelle für Muslime und ihre deutschen Angehörigen“ in München dargestellt werden.

 

Allgemeines

Die Beratungsstelle besteht seit 1990. Sie wird von fünf Fachleuten (muslimischen psychologischen Psychotherapeuten und Ärzten) betrieben, angebunden sind einige fremdsprachliche Übersetzer. Es existiert keine geregelte Finanzierung, weder durch die Stadt noch durch die Wohlfahrtsverbände. Letzere behindern die Arbeit sogar eher, als Gründe sind die Sorge um eine weitere Verteilung der knappen finanziellen Ressourcen zu vermuten. Obwohl immer wieder darauf angesprochen, kamen auch keine Spenden von den Ratsuchenden, gelegentlich überwiesen deutsche Frauen geringe Beträge. Die Beratungen erfolgten kostenlos, auch die Übersetzer erhielten bis auf Ausnahmen kein Entgelt (glt. erfolgte eine Bezahlung der Dolmetscher durch das Frauenhaus).

Die Münchner Moschee bot uns Räume an, die wir jedoch nicht nutzten, da zu befürchten ist, dass viele Hilfesuchende Kontrolle und Gerede fürchten und unser Angebot nicht wahrnehmen würden. Wir konnten dafür einen Raum im Kulturzentrum „Kulturschmiede“ nutzen, wo wir auf Klappstühlen saßen, Telefon und ein kleiner Computer standen in der Küche. Trotz dieser Einschränkungen liefen die Beratungen.

Für Köln bedeutet das, dass eine Beratungsstelle vom Bildungszentrum für muslimische Frauen räumlich getrennt sein müßte, da sonst die Gefahr besteht, dass manche Mädchen nicht mehr kommen dürften.

 

Aufgaben der Beratungsstelle

a) Beratung von Muslimen, ihren deutschen Ehefrauen, Freundinnen oder Familienangehörigen. Die Sitzungen erfolgten als Einzel-, Paar- und Familienberatung.

b) Weiterleitung an (wenn möglich muslimische) Ärzte oder andere Institutionen im Bereich der Gesundheits- und Sozialfürsorge sowie aus­ländische Institutionen. Wichtig waren die Herstellung des Kontaktes und die Terminabsprache durch uns, da sonst viele Klienten gar nicht oder zu falschen Ter-minen dorthin gegangen wären.

c) Therapie – d.h. kurze therapeutische Kriseninterventionen oder Weiterleitung an muslimische Therapeuten, die mit der Kran­kenkasse abrechnen konnten. Wenn keine guten mus­limischen Therapeuten vorhanden sind, sollten die Klienten ruhig an gute (d.h. gut ausgebildete und in interkultureller Arbeit erfahrene) nichtmuslimische Therapeuten vermittelt werden. Sinnvoll ist hier eine grundsätzliche Kontaktaufnahme zu geeigneten Kollegen.

d) Beratung anderer Fachleute (Psychiater, Gutachter, Gerichte, Vormundschaftsgerichte), städtischer Stellen z.B. bei der Planung von Veranstaltungen, Ausländervereinen oder auch kirchlicher Stellen etc. Hier sind besonders islamisches Wissen, Kontaktfähigkeit und vor allem das Vermeiden jeglicher Missionierung wichtig.

e) Die „Bosnien-Arbeit“ nimmt inzwischen einen hohen Stellenwert ein:

  • Beratung und Begleitung zu Ämtern von bosnischen, muslimischen Flüchtlingen, Ausstellen von Attesten etc.

  • Projekt „Frauen aus Omarska“: Sozialpsychologische und therapeutische Begleitung von 12 über-lebenden Frauen aus dem serbischen Konzentrationslager „Omarska“ und deren Kindern. Weiterhin Begleitung zum Kriegstribunal nach Den Haag. Rückkehrhilfe, Spendensammlung.

  • SOS-Telefon für (alle) Flüchtlinge aus Ex-Jugoslawien an zwei Tagen in der Woche mit muttersprachlichen Fachkräften, die von Spenden der Stadt München, der Süddeutschen Zeitung und einigen Frauenvereinen bezahlt wurden.

 

Klienten:

Ein Drittel sind praktizierende Muslime aus verschiedenen Ländern, darunter auch relativ viele deutsche Muslime (häufi­ges Problem: das sog. „Konvertiten-Syndrom“, bei dem bei völliger Anpassung und Aufgabe der eigenen Persönlichkeit die Klienten mit dem Übertritt zum Islam von einem rigiden System ins andere wechseln, zumeist bestehen heftige körperliche Beschwerden oder starke Panikattacken).

Ein weiteres Drittel sind nicht praktizierende Muslime, bzw. Muslime, die sich von der Religion abgewandt haben (z.B. nach einem Gefängnisaufenthalt im Iran), der Großteil sind tunesische, marokkanische und andere Asylbewerber. Hier ist besonders wichtig, dass das Fachliche, die psychologische Beratung im Vordergrund steht. Keine Ahadith oder Koranverse heranziehen, sonst kommen die Klienten nicht wieder. Nach unseren Erfahrungen bringen die Klienten später manchmal selbst das Gespräch auf die Religion.

Das letzte Drittel stellen binationale Familien, deutsche Frauen muslimischer Männer oder deren Freundinnen vor der Eheschließung. Vielfach handelt es sich um massiv geschlagene, unterdrückte und mißhandelte Frauen. Die Rate der psychischen Störungen liegt bei Asylbewerbern extrem hoch, es finden sich relativ häufig psychiatrische Diagnosen. Wichtig: Wenn klar ist, dass es nur um Heirat zur Erlan­gung der Aufenthaltserlaubnis geht, sollte den Frauen abraten werden.

 

Wichtige Grundsätze für die Beratungsarbeit

  • Wichtig ist psychologische Beratung von Muslimen für Muslime und nicht islamische psychologische Beratung.

  • Berater müssen große Offenheit für andere besitzen. Statt zu Moralisieren und auf Höllenstrafen zu verweisen sollen die Konsequenzen des jeweiligen Handelns wertfrei aufgezeigt und die Verantwortung des Menschen dafür betont werden. Besonders wichtig ist dieses bei Problemen vorehelicher Kon­takte von Jugendlichen oder jungen Frauen.

  • Die fachliche Kompetenz steht im Vordergrund, islamische Aspekte bleiben (vorerst) im Hintergrund. Die Beratung darf nichts Missionarisches haben, keine „Büje- oder Peri-Geschichten“ (häufige türkische Erklärung für psychiatrische Phänomene und psychotische Erkrankungen: Dschinnen oder der böse Blick), sondern fachliches Wissen, kombiniert mit Kenntnis des Islam und der Sharia. Der Berater sollte niemals die Lebensweise seines Klienten als „islamisch richtig“ oder „islamisch falsch“ bewerten.

  • Offen sein für sog. „Papier-Muslime“ oder der Religion Entfernte. Es ist sinnvoll, den Kontakt über Themen wie Landeskunde oder den Ausländerstatus und nicht über den Islam herzustellen und aufrecht zu erhalten. Später geht vielleicht ein Signal vom Klienten aus, aus dem sich etwas entwickeln kann. Das ist auch wichtig für den Ruf und das Ansehen der Beratungsstelle bei der Stadt und anderen Institutionen. Islamische Beratungs­arbeit wird ja auch in den Moscheen geleistet oder von bestimmten religiösen Gruppen. Die psychologische Beratungs­arbeit muß sich am Fachlichen orientieren.

  • Fest im Islam sein und sich nicht vom Mißbrauch des Islam durch viele Klienten deprimieren lassen. Davon ausgehen, dass es alles (Betrug, Inzest, Mißbrauch, schwerste seelische und körper­liche Mißhandlungen) auch unter Muslimen gibt.

  • Für ausreichende Supervision sorgen, vor allem in der Anfangszeit. Bei Anträgen um finanzielle Unterstützung sollte ein Super­visionshonorar mit angesetzt werden.

  • Telefonische Sprechstunde, auf Anrufbeantworter genaue Angabe der Zeiten, evtl. Notrufnummer für dringende Fälle (Vorsicht: wird oft mißbraucht. Wir haben es nach einiger Zeit aufgegeben und täglich den Anrufbeantworter abge­hört). Beim Zurückrufen sollte man sich nicht mit „Beratungsstelle“ melden, sondern neutral. Immer fragen, ob es gerade paßt oder besser ein anderes Mal. Wenn der Ehemann abnimmt, kann es besser sein, wieder auflegen und zu warten, bis man ein anderes Mal die Frau di­rekt erreicht.

  • Aus Gründen der Finanzen und der Arbeitsüberlastung führten wir einen halben Tag Beratungsgespräche in der Beratungsstelle durch. Telefonische Sprechstunden und sonstige Beratungen bzw. Therapien fanden in den Praxen der jeweiligen Therapeuten statt.

  • Es fällt viel Sozialarbeit an. So ist die Bereitschaft wichtig, den Beratungsraum zu verlassen und Klienten z.B. zu Ämtern begleiten. Hier kann der Berater durch Lernen am Modell Hilfe zur Selbsthilfe geben (Schreiben von Briefen, Ausfüllen von Formula­ren). Keinesfalls geht es darum, dem Klienten einfach die Arbeit abzunehmen.

  • Zusammenarbeit mit Imamen und Hodschas, jedoch nur mit denen, die man kennt, denen man vertrauen kann und die die Schweigepflicht einhalten (das sind unseren Erfahrungen nach eher wenige).

 

Grenzen der Beratungsarbeit

  • Fehlende finanzielle Unterstützung (weder von der Stadt, dem Staat, den Wohlfahrtsverbänden oder den Moscheen) setzt der Arbeit Grenzen.

  • Sehr schwierige Klientel, häufig besteht nur geringe Therapiefähigkeit

  • „Benutzermentalität“ der Klienten: ein Klient wollte z.B., dass nach der Beratung die Beraterin auf die Kinder aufpaßt, weil sich der Ehemann mit seiner Frau das neue Auto anschauen wollte („unter Muslimen ist das doch üblich“) oder: In einem klaren, ärztlich und gerichtlich belegten Fall von Mißbrauch wollte der muslimische Täter ein Gegengutachten, „weil die Mus­lime doch zusammenhalten müssen“ gegen die deutschen Gerichte.

  • In der Therapie sind nicht alle Methoden anwendbar (z.B. schwierig mit der klassischen Psychoanalyse, Katathymem Bildererleben, bestimmte Gestaltübungen etc.), hier muß man eigene Methoden entwickeln oder kombinieren. Viele Therapiemethoden, vor allem systemische, sind aus islamischer Sicht sehr brauchbar.

  • Klare Abgrenzung zur Sozialarbeit, finanzielle Unterstützung, Wohnungs- und Arbeitsvermittlung etc.

  • Übersetzer-Problem

  • Eigene psychische Grenzen beachten. Inzest, Mißbrauch, sexuelle Perversionen: alles kommt vor.

 

Wir haben in München klein und bescheiden angefangen und wichtige Erfahrungen gemacht. Aus un-seren Fehlern haben wir gelernt. Wir mußten auch lernen, unsere Ohnmacht zu akzeptieren und haben doch viel erreicht in den Jahren.

Inzwischen haben wir uns in München einen sehr guten Ruf erworben.